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7 2001

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Mittwoch, 19. Dezember, 11.15 Uhr

Alzada nutzte die zwei Empfangsbalken, die sein Handy im Untergeschoss anzeigte, in dem sie die Verhöre durchführten, um Paula anzurufen. Es klingelte zwei Mal, dann antwortete die Mailbox. Sie war wahrscheinlich mit Arbeiten im Haus beschäftigt. Er hinterließ ihr eine Nachricht. »Querida, ich bin’s. Ich war heute Morgen so in Eile, dass ich ganz vergessen habe, dir das zu sagen. Ich wollte dich eigentlich nicht damit behelligen, aber als ich aus dem Haus gekommen bin, habe ich den Kater der Nachbarn entdeckt«, Alzada drehte das Gesicht zur Wand und dämpfte die Stimme, »ich habe ihn in das Grillhäuschen in ihrem Garten gesperrt, damit er Sorolla nicht über den Weg läuft.« Er blickte sich nach beiden Seiten um. Estrático war nirgendwo zu sehen. »Ich weiß, ich weiß, was du sagen wirst. Du kannst mich später zurückrufen und mich anbrüllen, wenn du willst. Aber du weißt ja, wie Sorolla auf den Kater reagiert. Und ich habe mich versichert, dass er Luft kriegt. Kannst du ihn bitte befreien, bevor Teresita ihn vermisst? Okay. Danke. Ich liebe dich. Tschüss.«

Am Ende des Flurs erschien der Hilfsinspektor.

»Wo ist er?«, fragte Alzada.

»Vernehmungsraum drei.«

»Sie mussten ihm doch nicht hinterherrennen?« Estrático sah aus, als könnte er den Großteil der Bevölkerung abhängen, ohne außer Atem zu geraten.

»Er war noch im Gebäude: Seine Schicht war noch nicht vorbei. Ich muss noch etwas mit Ihnen besprechen, Inspektor, bevor Sie –«

»Das kann warten.« Alzada wollte gerade die Tür öffnen, auf der mit Kreide »tres« geschrieben stand, hielt aber inne. »In welcher Stimmung ist er?«

»Als ich ihn in der Castex aufgegriffen habe, war er ruhig. Als ich das letzte Mal nach ihm gesehen habe, hat er geschwitzt, aber immer noch geschwiegen«, berichtete Estrático.

»Gut.« Alzada deutete auf die Tür. Ein unschuldiger Mann, den man für ein Verhör festhielt, hätte lauthals gebrüllt, dass er ebendas war: unschuldig. Zumindest bis man ihm das Gegenteil bewies. Wenn der Portier nicht protestiert hatte, standen die Chancen gut, dass er keine weiße Weste hatte, zumindest keine ganz reine. Er hat etwas zu verbergen. Die Tatsache, dass er schwitzte, bedeutete, dass er fast so weit war: Alzada mochte seine Verdächtigen gern leicht angebraten.

Estrático trat vor und stellte sich dem Polizeiinspektor in den Weg.

»Bitte, Estrático. Wir haben keine Zeit, wofür auch immer«, wies Alzada ihn ab.

»Ich weiß, Inspektor. Aber sein Anwalt ist noch nicht eingetroffen.«

»Wovon reden Sie?« Alzada musterte ihn. Der Hilfsinspektor stand aufrechter da als sonst. Nicht gebückt und zaghaft, wie in den oberen Etagen oder bei seinen Botengängen, sondern tatsächlich herausfordernd. Ich glaub es nicht.

Estrático setzte zu einer Erklärung an: »Ich bin genau so vorgegangen, wie es uns beigebracht wurde. Ich war von Anfang an freundlich zu ihm. Ich habe ihm etwas zu trinken angeboten. Und ein bisschen Zeit mit ihm in der Zelle verbracht, um etwas vorzufühlen. An seine gute Seite zu appellieren, Sie wissen schon?« Jetzt weiß ich, warum die Verbrechensaufklärungsrate der Policía Federal so niedrig ist. »Aber sobald ich ihm die erste Frage gestellt habe, hat er dichtgemacht. Also habe ich Pomada angerufen.«

»Sie haben was getan?«

»Ich habe den Pflichtverteidiger angerufen.«

»Ich weiß, wer Pomada ist, Estrático«, sagte Alzada. »Wir haben wirklich keine Zeit für so etwas. Wie lange ist es her, dass Sie ihn angerufen haben?«

»Aber die Verfahrensweise sieht vor –«

»Hören Sie auf damit, Estrático. Ist Ihnen nicht klar, dass er nicht unschuldig ist? Seine Arbeit besteht im Wesentlichen darin, zwölf Stunden lang auf eine Tür zu starren und gewissenhaft zu vermerken, wenn jemand das Gebäude betritt oder verlässt. Das ist buchstäblich alles, was er tun muss. Gestern Abend hat er irgendwann gesehen, wie diese Frau –«

»Norma.«

»Ja, Norma. Danke …« Alzada versuchte, nicht den Faden zu verlieren. »Er hat gesehen, wie Norma Echegaray das Gebäude verlassen hat – möglicherweise nicht aus freien Stücken –, und er hat keinen Finger gerührt. Er hat einfach dort gesessen und die Tür angestarrt, bis Sie eingetroffen sind, Estrático. Und dabei wahrscheinlich die Dollarscheine gezählt, die man ihm in die Hand gedrückt hat, damit er woandershin sieht. Sofern es sich bei der Sache, die Sie mir so dringend erzählen müssen, also nicht zufällig darum handelt, dass er blind ist, hat er keine ›gute Seite‹: Er hat nur eine Seite, die Seite, die Ihnen ins Gesicht lügt und es ausnutzt, dass Sie das Gesetz respektieren. Und wovor haben Sie überhaupt so eine Angst? Ich werde ihm bloß ein paar Fragen stellen. Und dafür brauche ich Pomada definitiv nicht.«

Sie können alle eins und eins zusammenzählen. Bei allem, was er tat, ging Alzada davon aus, dass sie nachrechneten, insbesondere die Jüngeren. Er hatte irgendwo gelesen, dass es bei einer Begegnung in Bosnien das Erste war, was die Leute taten: nicht aus Eitelkeit, sondern um zu wissen, wo man während des Kriegs gewesen war. War man alt genug gewesen, um eine Waffe in die Hand zu nehmen? Und wenn ja, für welche Seite? Selbst Estrático – der geradlinige und gesittete Estrático – musste sich zusammengereimt haben, wo er in den 1970ern gewesen war, was es zu jenen Zeiten bedeutet hatte, Polizist zu sein. Dafür brauchte es kein Genie.

»Bei allem Respekt, Inspektor …« Estrático wirkte fast beschämt, diese Worte auszusprechen: »Wenn wir das tun, sind wir nicht besser als sie.«

Alzada gelang es, mit fester Stimme leise zu antworten: »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen, mein Sohn.«

Diese junge, intelligente, bestens vorbereitete Generation – wie gern wollte er ihr vertrauen. Aber ihre Förmlichkeit, ihre Rechtschaffenheit, ihr vorbildliches Verhalten hatte etwas Selbstgefälliges. Alzada war sich nicht einmal sicher, ob Absicht dahintersteckte: Sie strahlten einfach eine angeborene Selbstgerechtigkeit aus. Sie hielten gern Vorträge darüber, dass das Gesetz immer befolgt werden müsse, dass sie anders gehandelt hätten, wenn sie dabei gewesen wären. Natürlich hätten sie nicht zugelassen, dass solche Dinge passierten.

Aber die Wahrheit war, dass Estrático ohne die Dienstvorschrift vollkommen aufgeschmissen wäre. Er wusste nicht, was es hieß, einen Mann zu verhören, der nichts mehr zu verlieren hatte, oder die Bestie in sich selbst zu entdecken und ihr einen Maulkorb aufsetzen zu müssen. Er wusste nicht, wie es war, aus einem Albtraum aufzuwachen, nur um festzustellen, dass es kein Traum gewesen war, sondern eine Erinnerung. »Keine Ahnung«, wiederholte er.

Alzada beugte sich vor und tätschelte Estrático die Schulter: »Ihm wird nichts passieren. Bleiben Sie hier und sehen Sie zu. So wird es gemacht.«

»Guten Morgen, Señor. Ich bin Polizeiinspektor Alzada«, sagte er mit selbstsicherer Geste und streckte dem Portier die Hand hin.

Der Portier blieb sitzen, die Arme vor der Brust verschränkt. Gut. Dann eben auf die Tour.

»Wie Sie möchten.«

Alzada zog einen Metallstuhl heran, an dem die Kratzspuren früherer Handschellen prangten, und setzte sich dem Mann gegenüber an den Tisch. Er schätzte ihn auf etwa dreißig. Eindeutig nicht aus Buenos Aires. Indigener Herkunft, also vermutlich aus dem Norden. Aus der Provinz Chaco? »Haben Sie die Nachrichten gesehen? Die Barrikaden, die Aufstände? Haben Sie sie mit eigenen Augen gesehen? Ich bin heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeigekommen. Was für ein Chaos, nicht wahr? Ich sage Ihnen –«

»Ich habe es dem anderen schon erklärt. Ich sage nichts, bevor mein Anwalt eintrifft.« Klug genug, um den Mund nicht aufzumachen, aber nicht klug genug, um Schweigegeld zu kassieren und sich aus dem Staub zu machen? Der Portier legte beide Hände auf den Tisch. Die meisten Menschen würden in einer solchen Situation die Arme nah am Körper behalten. Manchmal schlugen sie sogar die Beine übereinander. Dieser hier war eine Spur zu selbstsicher. Er ist zu ruhig. Er ist nicht zum ersten Mal in so einer Zelle.

»Ich glaube, Sie hören mir nicht zu.« Alzada sprach mit tieferer Stimme als gewöhnlich. Er stellte sich vor, wie Estrático auf der anderen Seite das Ohr näher an die Tür hielt. »Ich versuche hier nicht, Small Talk zu halten, Sie Scheißkerl. Ich erwähne das nur aus einem Grund – wissen Sie, wie lange es in diesem Chaos dauert, bis Ihr Anwalt hier eintrifft?«

Der Inspektor beobachtete, wie es hinter der Stirn des Portiers arbeitete; er war sich sicher, dass er bei der Berechnung seiner Überlebenschancen zwei wichtige Faktoren außer Acht gelassen hatte: Erstens, Zeit ist relativ und ausgesprochen subjektiv. Eine Minute. Wenn du nur daran denkst, die nächste Minute zu überstehen und dann die nächste und so weiter, ist alles in Ordnung. Aber sobald du anfängst, darüber hinauszudenken, bist du geliefert. Zweitens hatte es einen Grund, dass es in Buenos Aires’ Vernehmungsräumen keine Fenster gab. Gut, jemand hatte irgendwann klein beigegeben und ein Audiosystem eingebaut, aber es war so gut wie unmöglich, anhand einer kratzigen Aufnahme herauszuhören, was genau geschehen war. Solange ich keine sichtbaren Spuren hinterlasse … Estrático mochte seine Methoden nicht gutheißen, aber er würde einen Polizeikollegen auch nicht verpfeifen. In seinem eigenen Interesse.

Alzadas Brustkorb schwoll an, er zog die Schultern bis zu den Ohren hoch, reckte den Kopf nach vorn. Eine Katze, bereit zum Sprung. Er griff mit der rechten Hand über den Tisch und packte die linke des Portiers, bevor dieser reagieren konnte. Alzada drückte sie fest auf das Metall. Die Augen des Portiers weiteten sich.

»Das war keine Frage, müssen Sie wissen. Ich schätze … bei der Menge an Demonstranten und so weiter … dreißig bis vierzig Minuten. Wenn er seine Kanzlei jetzt verlässt. Aber hier stellt sich die eigentliche Frage.« Alzada verstärkte den Druck auf die Hand des Portiers. »Wissen Sie, wie viele Finger ich in meinem Leben schon gebrochen habe?«

Der Portier versuchte, sich aus Alzadas Griff zu befreien – erfolglos. Er reckte den wulstigen Hals aus dem Kragen seiner Uniform heraus und rang nach Luft.

»Worauf ich hinauswill: Sie sind nicht zum ersten Mal in einem Vernehmungsraum, habe ich recht? Sie wissen, wie es dort zugeht«, fuhr der Inspektor fort. »Allerdings wenden wir ungern unschöne Mittel an. Bereitet uns nur Probleme. ›Demokratie‹, Sie wissen schon? Heutzutage muss man zumindest den Schein wahren. Deshalb hat mir mein Chef irgendwann verboten, die Verhörzellen zu betreten. Kaum zu glauben, was?« Alzada bedachte ihn mit einem breiten Lächeln. »Aber heute ist Ihr Glückstag: Er ist zu sehr damit beschäftigt, den Aufstand unter Kontrolle zu halten – die Demonstranten steuern bereits auf die Casa Rosada zu. Er hat keinen Schimmer davon, was in diesen vier Wänden vor sich geht. Also bitte«, er räusperte sich, »bitte verschwenden Sie nicht meine Zeit. Ich würde nur sehr ungern den Eindruck bekommen, dass Sie mich absichtlich ärgern wollen. Ich würde es so interpretieren, dass Sie lieber in eine Zelle mit Abfluss im Boden gesperrt werden möchten … Sie wissen, was ich will. Nehmen Sie einfach den Kugelschreiber dort und schreiben Sie auf, was immer Ihnen in den Sinn kommt.«

Der Portier blickte zu dem Kugelschreiber auf dem zerkratzten Metalltisch hinüber, dann auf seine linke Hand, die bleich unter Alzadas lag. »Ich bin Linkshänder«, protestierte er kleinlaut.

»Ich weiß.« Damit ließ der Inspektor seine Hand los und lehnte sich zurück. Er würde ihm nicht erklären, dass die meisten Menschen ihre persönlichen Gegenstände in der Nähe ihrer dominanten Hand positionierten. Letztlich hatte sich Estráticos Glas Wasser als nützlich erwiesen.

Hastig griff der Portier nach dem Stift und begann, etwas zu notieren. Na bitte. Alzada beugte sich vor. Drei Buchstaben und drei Zahlen. Ein Autokennzeichen.

»Ist das alles?«

Der Mann nickte.

»Das Auto war nicht zum ersten Mal dort, richtig?«

Der Mann nickte wieder.

»Denn gestern Abend haben Sie natürlich nichts gesehen. Zum Beispiel nach dem Abendessen? Niemand hat das Gebäude betreten, niemand hat es verlassen?«

»Nichts Außergewöhnliches, Inspektor.«

Alzada fragte besser nicht, was in einem Gebäude mit Luxusapartments als außergewöhnlich galt. »Sehr schön. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie hier verschwinden.« Der Inspektor ertappte sich dabei, wie er über das Schicksal des Mannes nachsann. Mit Verrätern ist es doch immer das Gleiche. Seiner Erfahrung nach plauderten sie nur deshalb etwas aus, weil sie sich für klüger hielten als ihre Mitstreiter. Sie glaubten, sie kämen mit heiler Haut davon. Niemand bildet eine Ausnahme. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen das extra sagen muss, aber ich sage es trotzdem: Sie werden nicht darauf warten, dass Ihr Anwalt hier eintrifft. Sie verlassen die Wache und gehen auf direktem Weg zu Ihrer Wohnung. Ohne Umwege. Sie machen nicht halt, um einen Kaffee zu trinken. Sie besuchen niemanden. Sie sagen niemandem, wo Sie hinfahren. Sie schnappen sich Ihre Sachen und machen einen netten, ausgedehnten Urlaub. Ich bin sicher, Sie haben irgendwo Verwandte, außerhalb der Stadt, bei denen Sie eine Weile den Ball flach halten können?«

»Ja, Inspektor. Meine Familie kommt aus Resistencia«, bekannte der Portier, mit einem Mal gefügig. El Chaco. Wusste ich’s doch.

Alzada stand abrupt auf, sein Stuhl fuhr kratzend über den Zementboden zurück, und verließ die Verhörzelle.

Während er an Estrático und Pomada vorbeilief – ging ja doch ganz schön schnell –, der sich wohlweislich zurückhielt, klatschte er Estrático den Zettel an die Brust. »Ich bin etwa eine Stunde unterwegs. Wenn ich zurückkomme, will ich wissen, wer der Halter dieses Wagens ist. Und schaffen Sie Ihren faulen Hintern persönlich zum Amt, statt Ihre Zeit mit höflichem Small Talk am Scheißtelefon zu vergeuden.« Ohne Estrático anzusehen, setzte er nach: »Und hören Sie auf, so zu glotzen. Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, wie unhöflich das ist?«

»Stimmte das?«, fragte Estrático und sah auf seine eigene Hand, während er hinter Alzada die Stufen hinaufhastete. »Das mit den Fingern?«

»Nein«, sagte Alzada und wandte sich um. »Meine Spezialität waren Kniescheiben.«

1981

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