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Zu meiner Gabe stehen

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Als Kind und Jugendliche fühlte ich mich oft ein wenig wie eine Außenseiterin. Ich hatte zwar Freunde, aber ich war nie »beliebt«. Doch vor allem meine Freundin Samantha half mir, mich mit dem anzufreunden, was sie meine »Gabe« nannte. Als sie diesen Begriff verwendete, war ich immer noch ziemlich jung, und auch wenn sich die Vorstellung, eine Gabe zu haben, seltsam anfühlte, war es irgendwie ein gutes Gefühl. Damals hatte ich zwar keine Ahnung, warum sie mir diese besondere Eigenschaft zuschrieb, da ich mich nicht für etwas Besonderes hielt. Aber nachdem ich das demonstriert hatte, was Sam für übersinnliche Fähigkeiten hielt – zum Beispiel zu wissen, dass eine bestimmte Person anrufen würde oder dass irgendein Schüler in der Schule fehlen würde, noch bevor wir dort angekommen waren –, war sie überzeugt davon, dass ich »anders« sei.

Sam war der einzige Mensch, dem ich mein Geheimnis je anvertraut hatte, und allmählich begann ich zu akzeptieren, dass ich tatsächlich etwas Besonderes hatte, das anderen fehlte. Sam und ich hatten Spaß an meiner Gabe. Wir mussten lachen, wenn ein Lehrer etwas bestätigte, was ich längst wusste, so wie zum Beispiel, dass wir einen »Überraschungstest« schreiben würden. Unsere Spielchen waren lustig, und es tat mir gut, meine Erlebnisse mit Sam zu teilen. Sie half mir, zu meiner Fähigkeit zu stehen. Endlich war ein Mensch aus Fleisch und Blut Teil meiner Welt!

*

Das Leben ging weiter – und auch meine täglichen Gespräche mit den Geistern. Ich neigte dazu, Ereignisse vorauszusehen, und spürte die Stimmungen anderer, bevor sie ein Wort zu mir gesagt hatten. Meine Gabe schien aus zwei Dingen zu bestehen: der übersinnlichen Intuition und der Kommunikation mit Verstorbenen. Ich konnte jedoch erst im Alter von siebzehn völlig zu meinen übersinnlichen Fähigkeiten stehen.

Meine Freunde und ich hatten eine Busfahrt nach Blackpool, einem Ferienort am Meer im Norden Englands, geplant. Wir wollten der Schule mal den Rücken kehren und Spaß haben. Auf unserem Ausflug wurde auch kräftig getrunken, doch ich trank nicht mit, da ich noch nie Alkohol gebraucht habe, um Spaß zu haben – obwohl die alten Schulfotos von damals aussehen, als hätte ich einiges gebechert! Aber sie zeigen nur meine ausgelassene Seite. Auf diesem Ausflug geschah ein tiefschürfendes Ereignis, das meine Einstellung zu dem, was Sam meine »Gabe« nannte, für immer änderte.

Blackpool hat drei Schiffskais, die ins Meer hinausragen, und verschiedene Touristenattraktionen zu bieten. Der Nordkai war damals eleganter und traditioneller als die beiden anderen. Er hatte nicht so viele Geschäfte und Vergnügungsstätten wie die anderen, und daher fühlte man sich auf ihm in längst vergangene Zeiten zurückversetzt. Das verlieh ihm eine interessante faszinierende Atmosphäre. Auch war es stiller und ruhiger dort als auf den gut besuchten Nachbarkais.

Als meine Freunde und ich zum Nordkai spazierten, bemerkten wir vor einem Zelt ein Schild mit der Aufschrift WAHRSAGERIN. (Diesen Begriff habe ich noch nie gemocht, auch wenn ich akzeptiere, dass manche Leute ihn anwenden.) Ein paar von uns beschlossen, sich »zum Spaß« die Zukunft vorhersagen zu lassen, doch ich verschwieg, dass mir mehrere Fragen auf der Seele brannten, auf die ich unbedingt eine Antwort brauchte. Ich wollte mehr über einen Jungen erfahren, den ich mochte, und ob ich meine Abschlussprüfungen bestehen würde und was ich in ein paar Monaten tun sollte, wenn ich mit der Schule fertig war. Sie wissen schon: das gewöhnliche Zeug, das einen beschäftigt, wenn man siebzehn ist und das ganze Leben noch vor einem liegt.

Eines der anderen Mädchen ging vor mir ins Zelt. Als es nach einer Viertelstunde wieder herauskam, senkte es den Blick und murmelte: »Also die hat echt eine Schraube locker.« Dann kam ich an die Reihe. Ich ging durch den Vorhang und stand in einem winzigen, stickigen Raum. Darin standen zwei Stühle und ein Tischchen. Auf dem Tisch lag ein Tuch, und auf dem Tuch lag ein Deck Tarotkarten. Wie ich mich noch vage erinnere, sahen sie ganz ähnlich aus wie das Kartendeck, das auf dem Kaminsims meiner Großmutter Nan Frances – der Mutter meiner Mutter – lag. Alles wirkte sehr »hexig«, wie ich meine übersinnlichen Kräfte gerne bezeichne.

Ohne mich anzusehen, deutete die Frau an, ich solle mich setzen. Sie hatte blonde Strähnen, die ihr über die Schulter fielen, lange rosa Fingernägel, die wie eine tödliche Waffe aussahen, und war stark geschminkt. Sie trug ein langes wallendes lila Gewand und klimpernde Ohrringe, genauso wie ich es von einer Handleserin oder Hellseherin erwartet hätte. Ja, sie war eine waschechte Wahrsagerin.

Sie hob langsam den Blick und sah mich mit großen blauen Augen an. Gleichzeitig nahm sie mit einer raschen Handbewegung die Karten vom Tisch. Als unsere Blicke sich trafen, breitete sie die Karten vor mir aus und starrte mich durchdringend an. Ich hatte das Gefühl, als würde sie durch mich hindurchschauen, und das machte mich so unbehaglich, dass ich mich umdrehte, um zu sehen, was sich denn hinter mir befand.

»Interessant – sehr interessant«, bemerkte sie und reichte mir die Karten. Dann bat die Frau mich, sie zu mischen, mit der linken Hand abzuheben und in drei Haufen abzulegen. Mittlerweile war ich richtiggehend nervös, doch da ich sie nicht verärgern wollte, tat ich ihr den Gefallen. Nun forderte sie mich auf, zwei Kartensets auszusuchen.

Aber welche sind die Richtigen?, dachte ich. Woher soll ich wissen, welche die richtigen Sets sind? Doch noch bevor ich die Frage zu Ende gedacht hatte, sagte die Frau: »Sie werden sich von den Kartensets angezogen fühlen, die Sie brauchen. Wählen Sie nicht mit dem Kopf, sondern lassen Sie die Karten zu sich kommen.«

Oh, sie hat meine Gedanken gelesen! Also tat ich genau das. Heute weiß ich, dass es vielen Leuten so geht, wenn sie für eine Sitzung Karten aussuchen sollen: Sie machen sich Sorgen, das falsche Deck oder die falschen Sets auszuwählen. Doch wie ich bald herausfand, ist es eine Chance, auf seine innersten Eingebungen zu hören und das Verlangen loszulassen, das Ergebnis zu beeinflussen.

Die Frau mischte die Karten, die ich ausgesucht hatte. Dann starrte sie mich wieder an, was mir ganz unangenehm war.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte ich, da ich keine Ahnung hatte, was sie sah – natürlich dachte ich ans Schlimmste.

Sie beugte sich zu mir vor und sagte so leise, als wollte sie verhindern, dass andere es hören könnten: »Du hast eine Gabe. Aber du weißt nicht, was du damit anfangen sollst.« Ich saß mit offenem Mund da und war sprachlos. »Deine Gabe ist extrem stark, viel stärker als meine eigene«, fuhr sie fort. »Jemandem wie dir bin ich seit vielen Jahren nicht mehr begegnet.«

Nun war es heraus. Jetzt war das bestätigt, was meine Klassenkameradin gesagt hatte, als sie aus dem Zelt herausgekommen war – diese Frau hatte wirklich eine Schraube locker. Wie konnte sie einer siebzehnjährigen Schülerin erzählen, dass diese eine größere Gabe hätte als sie, die die Zukunft anderer voraussagte? Sicher war es ein Betrug oder Trick ...

Aber Moment mal – woher weiß sie überhaupt von meiner Gabe? Dieser Gedanke fesselte mich an den Stuhl. Dann forderte sie mich auf, ihr Fragen zu stellen. Natürlich wollte ich zuerst was über Jungs erfahren. (Sie behielt Recht, als sie mir sagte, die Männer in meinem Leben würden nie die »Richtigen« sein.) Außerdem wollte ich wissen, was ich in Zukunft beruflich machen würde. Sie sagte, ich würde eine Berufsausbildung machen, und auch wenn ich verschiedene Berufe ausüben würde, wäre nur eine Tätigkeit von Bedeutung. Wie sie mir sagte, würde ich mich selbst entscheiden müssen. Damals ahnte ich noch nicht, dass sich diese Entscheidung auf meine Gabe bezog und darauf, sie zu meiner Berufung zu machen.

Ich habe die Abschiedsworte der Frau, als ich das Zelt durch den Vorhang verließ und zu meinen Freunden zurückging, nie vergessen. »Du wirst vielen Menschen helfen und ihr Leben verändern. Bleib dran!«

Heute weiß ich, dass die Frau unglaubliche übersinnliche Fähigkeiten hatte und von den Leuten wahrscheinlich wegen ihrer billigen Aufmachung belächelt wurde oder weil sie ihnen nicht das bestätigte, was sie hören wollten. Im Rückblick wird mir klar, dass die Freundin, die als Erste ins Zelt ging, vermutlich nur deshalb sauer wieder herauskam, weil sie nicht das zu hören bekam, was sie erwartet hatte, und weil das, was die Wahrsagerin ihr stattdessen gesagt hatte, den Nagel auf den Kopf traf!

Sobald ich vor dem Zelt auftauchte, kamen meine Freunde angelaufen und wollten unbedingt wissen, was die Frau mir gesagt hatte. Ich dachte mir irgendwas aus, weil ich nicht darauf vorbereitet war, die Worte der Frau als Wahrheit anzunehmen, obwohl meine Gabe für mich ganz normal war (und noch heute ist). Irgendwie war die Bestätigung meiner Gabe durch die Wahrsagerin und ihre Bemerkung, dass ich damit vielen Menschen helfen würde, zu viel für mich und ich wollte es nicht unbedingt brühwarm in die Welt hinausposaunen. Heutzutage erlebe ich ähnliche Reaktionen bei Menschen, denen ich Readings gebe, wenn die gechannelte Information von ihrem gegenwärtigen Selbstbild zu sehr abweicht. Doch damals hatte ich keinen Schimmer, wovon die Wahrsagerin eigentlich redete, und auch wenn ihre Botschaft mich zutiefst beeindruckte, behielt ich sie lieber für mich.

Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?

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