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Nordseeinsel Wangerooge - März 1945

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Erste Sonnenstrahlen zeigten sich am späten Vormittag. Die drei Marinehelfer, die in Höhe der Stellung 2 in den Dünen lagen, spürten schon die wärmende Kraft der Frühlingssonne. Sie hatten ihre Uniformjacken aufgeknöpft und sich in Richtung Osten aufgereiht, um ein wenig von der wärmenden Sonne abzubekommen. Alle drei rauchten eine Zigarette, obwohl ihnen dies offiziell verboten war. In einer Anweisung zur gesundheitlichen Betreuung von Flak-Helfern waren die Jugendlichen von allen Genussgiften wie z. B. Tabak und Alkohol auszuschließen. Als Ausgleich erhielten sie größere Mengen von Drops, die sie wiederum mit den älteren Soldaten gegen Zigaretten tauschten. Diese Praxis wurde in der Regel von den Vorgesetzten toleriert. Nur die Lehrer der Marinehelfer meldeten schon manchmal den einen oder anderen Schüler bei den Offizieren, wenn die Jungen rauchend erwischt wurden. Richtig Ärger gab es einmal, als am Strand mehrere Fässer englischen Vollbieres angeschwemmt wurden und in der Kantine dann ältere Soldaten die Jugendlichen, die die Fässer geborgen hatten, mit ein paar Gläsern Bier belohnten.

Für Dietrich Reimers, Meinhard Siems und Gerd Fehrensen lag dieses Ereignis weit zurück. Sie ließen sich nicht mehr von ihren Vorgesetzten und Lehrern erschrecken. Im Laufe ihrer Dienstzeit war ihr Selbstbewusstsein enorm angewachsen. Sie spürten, dass man auf sie angewiesen war. Neues Personal war nicht in Sicht und im Laufe der Zeit waren sie eine funktionierende Einheit geworden. Alle drei waren Oberschüler, mit einer schnellen Auffassungsgabe, die ihnen eine Art Sonderstellung unter den Marinehelfern bescherte. Die Schüler waren allesamt sehr gute Mathematiker. Sie konnten die Daten des Funkmessgeräts Würzburg Riese in ihrer Stellung 2 sehr schnell auswerten, in den entsprechenden Planquadraten darstellen und an die Flakstellungen weiterleiten. Ihr Vorgesetzter, der schon etwas ältere Batterieoffizier Heinz Behnken, wusste, was er an „seinen Jungs“ hatte und ließ ihnen viele Freiheiten. Er selbst war schon häufig belobigt worden wegen der hohen Abschussquoten, aber auch die drei Marinehelfer wurden auf Vorschlag von Behnken mit den Flak-Kampfabzeichen ausgezeichnet.

Obwohl sie so gut im militärischen Alltag harmonierten, waren sie völlig unterschiedliche Charaktere. Dietrich Reimers, der große schlaksige Junge mit den blonden Haaren und den wasserblauen Augen, kam aus Bremen. Sein Vater war Lehrer, langjähriges SPD-Mitglied, wurde aber wegen seiner nazikritischen Äußerungen im Jahre 1938 aus dem Schuldienst entlassen. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Im Jahre 1942, Reimers Vater war mittlerweile 62 Jahre alt, wurde er von der NSDAP-Kreisleitung Bremen verpflichtet, als Lehrer an der deutschen Nordseeküste Marinehelfer zu unterrichten. Zu diesem Zweck wurde er an die Hermann-Lietz-Schule auf Spiekeroog versetzt. Er musste eine Erklärung unterschreiben, die ihm jegliche Art von politischer Äußerung verbot. Da sein Sohn noch schulpflichtig war, wurde dieser somit zum Schüler auf Spiekeroog.

Meinhard Siems, geborener Wangerooger, war der Sohn eines Kapitäns, der jetzt im Krieg als Kommandant eines U-Boot-Versorgungsschiffes seinen Dienst tat. Seine Mutter war im Lazarett auf der Insel als Krankenschwester tätig. Meinhard war der kleinste der drei, dunkelhaarig und von etwas gedrungenem Körperbau. Beim Sport hatte er meist das Nachsehen, war aber wegen seines ausgleichenden Wesens sehr beliebt bei seinen Kameraden, zumal er jedes Versteck auf der Insel kannte.

Gerd Fehrensen kam wie Dietrich Reimers aus Bremen. Sein Vater war Polizeibeamter, überzeugter Nationalsozialist, der jetzt bei der Gestapo (Geheime Staatspolizei) in Bremen tätig war. Zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörten auch die Lager der Fremdarbeiter auf Wangerooge. Um seinen Sohn vor den ständigen Bombenangriffen auf Bremen zu schützen, brachte er ihn auf Spiekeroog in der Hermann-Lietz-Schule unter. Gerd war mittelgroß, hatte dunkelblonde Haare und einen sehr sportlichen Körperbau. Sein recht freundliches Gesicht wurde durch seine sehr schmalen Lippen etwas beeinträchtigt. Es kam durchaus vor, dass er von einigen Kameraden als „Rasierklingenlippe“ gehänselt wurde. In solchen Situationen konnte er sich auf Dietrich und Meinhard verlassen, die eine solche Verunglimpfung sofort unterbanden und, wenn es sein musste, auch mit körperlicher Gewalt.

Meinhard zog tief an seiner Zigarette: „Habt ihr schon gehört, der Major will für uns zu Ostern 150 Ostereier in den Dünen verstecken lassen?“

„Will der uns veralbern?“, grinste Dietrich, „das ist doch ein Scherz oder?“

„Ruhig Blut“, mischte sich jetzt Gerd ein, „die haben immer noch nicht kapiert, dass wir keine Kinder mehr sind. Aber sie wollen uns halt eine Freude machen, so muss man das seh‘n.“

Dietrich verzog sein Gesicht:

„So soll wohl die Kampfmoral der Truppe gestärkt werden, wo wir jetzt Tag und Nacht ran müssen und die Zahl der feindlichen Flieger ständig zunimmt.“

„Hör auf mit der Schwarzmalerei. Wir haben doch schon ‘ne Menge von diesen Schweinen runtergeholt“, Gerds Stimme wurde schärfer, „gestern wurde ein Vorpostenboot und ein Minensuchboot von mehreren „Mosquitos“ versenkt. Was die bei uns zerstören, das werden wir denen alles heimzahlen!“

Meinhard hob seine rechte Hand: „Lasst es gut sein. Wir brauchen uns doch hier jetzt nicht zu streiten. Bringt sowieso nichts.“

Meinhard stand auf, klopfte sich den Sand aus der Uniform und auch die beiden anderen standen jetzt auf. Langsam trotteten sie zu ihrer Mannschaftsbaracke. Eigentlich hätte jetzt Schulunterricht stattfinden müssen, aber auf Grund der nächtlichen Gefechte, konnte kein Unterricht abgehalten werden, denn die Flakmannschaften brauchten dringend eine Erholungspause. In der Mannschaftsbaracke der Stellung Ost herrschte munteres Treiben. In der Kantine wurde Essen ausgegeben und die jungen Marinehelfer lärmten wie auf einem Schulhof. Die älteren Offiziere hatten sich in eine Ecke der Baracke verzogen, sie fühlten sich genervt, wollten das muntere Treiben der Jugendlichen aber auch nicht unterbinden. Sie wussten, dass jederzeit mit einem neuen Alarm zu rechnen war.

Die Schüler der Hermann-Lietz-Schule galten bei den Offizieren als etwas aufsässiger als ihre Kameraden aus dem Binnenland. Teilweise hielten sie sich nicht an die korrekten Bekleidungsvorschriften, trugen längere Haare und zeigten in Konfliktsituationen schon mal ihre intellektuelle Überlegenheit. Es wurde gemunkelt, dass sie heimlich der amerikanischen Jazz- und- Swing Musik huldigten.

Dietrich Reimers fand zwar auch die amerikanische Musik interessant, aber wenn er heimlich feindliche Sender hörte, dann galt sein Interesse eher den Berichten zur aktuellen Frontlage. Als er eines Abends im Bett Radio Calais hörte, wurde er von Gerd Fehrensen überrascht. Zornig drohte dieser, ihn bei ihren Vorgesetzten zu melden. Wieder war es Meinhard Siems, der beruhigend auf Gerd einwirken konnte. Erst im letzten Monat waren 17 Marinehelfer wegen des Abhörens feindlicher Sender vor das Kriegsgericht gestellt worden. Die meisten von ihnen wurden freigesprochen, nur der vermeintliche Rädelsführer mit dem Namen Ernst Jünger (Sohn des Schriftstellers) wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Marine versuchte diese Vorfälle herunterzuspielen, während die Gestapo sicherlich härter durchgreifen würde. Den dreien war klar, dass die meisten älteren Offiziere von dem illegalen Treiben einiger Marinehelfer wussten, aber gnädig darüber hinwegschauten. In ihrem fortgeschrittenen Alter verfolgten sie eher das Ziel, heil aus diesem Krieg herauszukommen. Zudem spielte natürlich die Tatsache eine Rolle, dass Dietrich, Meinhard und Gerd mit die höchsten Abschussquoten aufzuweisen hatten. Niemand wollte dieses erfolgreiche Trio sprengen. Die direkten Vorgesetzten gaben die Erfolge der Jugendlichen häufig als ihre eigenen Erfolge aus.

Für Gerd Fehrensen waren diese, aus seiner Sicht, Nachlässigkeiten ein Grund dafür, dass das Deutsche Reich immer mehr in die Defensive gedrängt wurde. Das ein oder das andere Mal spielte er mit dem Gedanken, seinem Vater, dem Gestapo-Beamten aus Bremen, von diesen Schlampereien bei der Marine zu berichten. Er war sich jedoch unsicher, ob die Gestapo einen Zugriff auf die Marine hatte. Die Gestapo Bremen war lediglich für die Arbeits- und Erziehungslager auf Wangerooge zuständig. Die Rivalitäten beider Institutionen hatten sich schon bei dem Prozess gegen jene 17 Marinehelfer gezeigt.

Am Abend des 21.03.1945 hofften die Flakbesatzungen auf Wangerooge noch eine ruhige Nacht zu verleben. Der große Teil der Marinehelfer versuchte zu schlafen, einige spielten Karten oder lasen noch einmal in den Briefen ihrer Eltern. Vor der Batteriebaracke spielte ein Marinehelfer mit der Gitarre Lieder von den Comedian Harmonists, die in der Nazizeit nicht mehr auftreten durften. Niemand kümmerte sich aber darum, dass diese sehr erfolgreiche Musik der 20-er Jahre eigentlich nicht mehr gespielt werden durfte. Selbst Gerd Fehrensen fand es nicht weiter verwerflich beim Lied vom „kleinen grünen Kaktus“ mit zu summen. Diese vermeintlich friedliche Ruhe war trügerisch, so wie fast in jeder Nacht. Gegen 23:30 Uhr wurde Alarm gegeben. Von den Funkmessstationen wurden Flugbewegungen gemeldet. Die Batteriebesatzungen, die keinen Bereitschaftsdienst hatten, hetzten zu ihren Stellungen. Vereinzelt zeigten sich einige Flieger am Himmel. Die Suchscheinwerfer hatten sie erfasst. Augenscheinlich waren es Aufklärungsflugzeuge, die in Richtung Bremen flogen. Ein Feuerbefehl wurde nicht erteilt. Einzelne Maschinen durften wegen der Munitionsknappheit nicht beschossen werden. Meinhard, Dietrich und Gerd saßen in ihrer Stellung und waren sichtlich frustriert. Sie hatten eine Maschine klar erfasst, doch sie durften nicht handeln. Laut schimpfte Gerd:

„So kann man ja keinen Krieg gewinnen, wenn man nicht einmal die eigenen Waffen einsetzen darf.“

Dietrich biss sich auf die Lippen. Er wollte jetzt nicht noch Öl ins Feuer gießen. Für seinen Geschmack waren diese Äußerungen aus Gerds Mund, dem überzeugten Nazi, schon fast wehrkraftzersetzend. Zweifelte Gerd am Endsieg? Aber auch er musste sich eingestehen, dass er wegen des ausgebliebenen Feuerbefehls enttäuscht war. Bis zum Morgen passierte nichts. Die Mannschaften dösten vor sich hin. Der Alarm hatte aber weiter Bestand, denn die nächtlichen Aufklärungsflüge verhießen nichts Gutes. Die Erfahrung zeigte, dass vereinzelten Aufklärungsflügen meist ein großer Angriff folgte.

Um 10:35 Uhr wurden sie aufgeschreckt. Die Informationen waren eindeutig. Ein großer feindlicher Verband bewegte sich in Richtung deutsche Nordseeküste. 70 bis 80 Flugzeuge wurden ausgemacht: Überwiegend amerikanische „Fortress“ Bomber, die von Jagdflugzeugen des Typs „Mustang“ und „Thunderboldt“ begleitet wurden. Ihr Kurs war klar: Bremen. Die Feuerfreigabe wurde schnell erteilt, doch nur ein Bomber wurde getroffen. Gefechtspause. Allen war klar, dass der Verband wieder zurückfliegen musste. Die Munition wurde nachgeladen, dann Zigarettenpause. Gegen 11:45 Uhr hörte man schon von weitem das Dröhnen der Motoren. Die Flakbesatzungen ließen die Maschinen kommen, bis sie in ihrer Reichweite waren. Es wurde Befehl für Vernichtungsfeuer gegeben, hunderte von Granaten abgefeuert. 6 Maschinen werden getroffen. Mit bloßem Auge beobachten Meinhard, Dietrich und Gerd, wie direkt über Schillig ein Besatzungsmitglied aus einer getroffenen „Fortress“ ausstieg. Durch den starken Nordwind wurde er mit seinem Fallschirm in Richtung Watt, Höhe Strandbake, abgetrieben. Auf ihrem Leitstand läutete das Telefon. Heinz Behnken nahm ab, er nickte zweimal, dann ertönte kurz und knapp: „Zu Befehl Herr Major!“ Behnken wandte sich an die drei Marinehelfer:

„Jungs, wir sollen ins Watt und nach dem Amerikaner suchen. Meinhard, du bist hier geboren, du wirst uns führen. Holt eure Waffen!“

Alle drei sprangen auf, nahmen ihren Karabiner 98 und schulterten das Gewehr. Heinz Behnken griff neben seinem Gewehr noch 2 Stielhandgranaten und steckte diese in seinen Gürtel. Schnell durchschritten sie den Dünengürtel in Richtung Watt. Bevor sie über die Eisenbahnschienen stiegen, die zum Ostanleger führten, suchte Heinz Behnken mit dem Feldstecher das Watt ab. Ungefähr in Richtung Schillig sah er an einem Priel Reste eines Fallschirms liegen.

„Diese Richtung Jungs“, rief er und zeigte mit seinem Arm in Richtung Schillig.

„Gut, dass wir ablaufend Wasser haben. So haben wir eine Chance den Amerikaner zu kriegen.“

Meinhard hatte das Jagdfieber gepackt, auch den beiden anderen war die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Heinz Behnken wirkte gelassener, fast desinteressiert. Für ihn war klar, dass eine solche Suche auch mit Gefahrenen und Unannehmlichkeiten zu tun haben könnte. Scherereien waren jetzt das Letzte, was er gebrauchen konnte. Durch sein Fernglas konnte er jetzt eine Person erkennen, die sich in Richtung Ostspitze der Insel bewegte. Wollte der Amerikaner in Richtung Minsener Oog abhauen?

„Wir müssen ihm den Weg abschneiden, ohne nasse Füße wird das aber nicht gehen“, erklärte Meinhard, sichtlich stolz auf seine Rolle als Führer der Gruppe.

„Macht nix, wir folgen dir mein Führer“, Dietrich lachte dabei und fing sich einen bösen Blick von Gerd ein.

Minsener Oog ist eine Insel, die südöstlich von Wangerooge liegt. Zwischen den beiden Inseln verläuft die Blaue Balje, eine tiefgehende Strömungsrinne. Der amerikanische Pilot blieb jetzt stehen und sah in die Richtung der drei Marinehelfer und ihres Offiziers. Augenscheinlich hatte er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkannt. Langsam hob er die Arme.

„Achtung, der bleibt stehen, der ergibt sich“, rief Dietrich.

„Den holen wir uns jetzt, der wird keine Bomben mehr auf Deutschland werfen“, das Gesicht von Gerd Fehrensen war vor Aufregung stark gerötet. Heinz Behnken war mittlerweile zurückgefallen. Er konnte dem Tempo der Jungen nicht folgen. Schwer atmend blieb er stehen und beobachtete, wie die drei ihre Karabiner von der Schulter nahmen und sie entsicherten………….

Verscharrt auf Wangerooge

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