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Walter Temming hatte sich nach dem Friedhofsbesuch still in sein privates Büro zurückgezogen. Was er sich von dem kurzen Verweilen am Familiengrab versprochen hatte, konnte er selbst nicht mehr nachvollziehen. Es war ein inneres Bedürfnis gewesen, seinem Vater ein Stück nahe zu sein – obwohl es natürlich nur eine symbolische Geste war, die für ein paar Augenblicke dazu angetan war, sein Gewissen zu beruhigen und ihm wieder einmal unendliche Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, vermischt mit dem dumpfen Gefühl, ihn eigentlich nie wirklich gemocht zu haben.

Dass seine Frau für heute Abend ein Treffen mit Sohn und Schwiegertochter organisiert hatte, verschwieg sie ihm. Wie immer öffnete er an seinem Computer das E-Mail-Postfach, das auch nach dem offiziellen Ausscheiden aus der Firma reichlich gefüllt war. Vieles leitete er kommentarlos an seinen Sohn Sven weiter. In einigen wenigen Fällen – vor allem, wenn es sich um alte Geschäftsbeziehungen handelte – antwortete er selbst. Ein Viertel aller Absender identifizierte er sofort als Spam, die er ohne zu öffnen in den elektronischen Papierkorb beförderte. Gerade als er dies wieder tun wollte, stach ihm jedoch eine E-Mail-Adresse ins Auge: ›Post mortem‹. Entweder ein makabrer Scherz oder jemand glaubte, besonders originell erscheinen zu müssen. Post mortem. Nach dem Tod. Noch immer hingen Temmings Augen an diesem lateinischen Wort. Sollte er die E-Mail öffnen – oder bestand gar die Gefahr, dass er sich einen Computervirus oder Trojaner einfing? Aber weil sein Rechner über die Distanz hinweg mit dem Firmencomputernetzwerk verbunden war, das entsprechende Sicherungsprogramme enthielt, wagte er den Klick – und schon öffnete sich das Fenster mit dem Text, der ihm ziemlich umfangreich erschien. Es gab keinen Absendernamen. Und auch der Provider, über den die E-Mail verschickt worden war, kam ihm seltsam fremd vor: ›opentrash.com‹.

Als er las, was vor einer Dreiviertelstunde angekommen war, stockte ihm der Atem:

»Manchmal entscheiden sich die wichtigen Dinge im Leben erst post mortem – also nach dem Tode. Die einen werden erst in diesem Zustand berühmt – die anderen bekommen die einmalige Gelegenheit, ein Unrecht zu sühnen. Stichwort: 5. Oktober 1968. Ich weiß, dass Du mich nie gemocht hast und dass Du wegen deiner politischen Verblendung das Erbe Deines Vaters in den Schmutz gezogen hast. Noch aber hast Du das Glück, diesseits der Welt zu stehen und dafür büßen zu können. Du solltest es tun, bevor Du dort bist, wo ich seit 49 Jahren bin, denn hier zählen nur das Gute und die Reue, die du zu Lebzeiten praktiziert hast. Solltest Du vor dieser Reue zu mir herüberwechseln, wird Dir der Frieden versagt bleiben. Keine Angst, ich will nicht das Geld, das hier, wo ich bin, völlig unbedeutend ist. Ich verlange nur Buße und Reue. Denn ich als Dein Bruder, der gelernt hat, Dich weiterhin zu lieben, möchte nicht, dass Du schuldbeladen zu mir kommst. Mir ist die Gnade widerfahren, Kontakt mit der materiellen Seite aufnehmen zu dürfen. Solltest Du den Mut zu einer Begegnung haben, dann finde Dich morgen um halb zehn Uhr im Ulmer Münster ein, bitte Deine arme Seele um Ruhe und komme um zehn Uhr allein auf den Turm. Ich erspare Dir den beschwerlichen Aufstieg, weil ich weiß, dass dies Dir in Deinem Alter Probleme bereiten würde. Komm zum großen Raum beim Turmwart, über den Glocken. Treffpunkt Münster von Bern. Aber sei allein. Dein Siegfried.«

Walter Temmings Hände hatten sich in den Armlehnen seines Polsterstuhles verkrampft. Sein Puls raste, ihm war heiß und kalt gleichermaßen. Das gab es doch nicht. Das konnte nur ein übler Scherz sein. Oder das Werk eines Verrückten. Der Text verschwamm vor seinen Augen zu einer grauschwarzen Masse. Münster von Bern? Er wischte sich mit der Hand Schweiß von der Stirn, schloss kurz die Augen, lehnte sich zurück und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann überflog er noch einmal den Text: Kein Zweifel, das Geschriebene stand in einem direkten Zusammenhang mit dem Brief, der gestern mit der Post gekommen war. Psychoterror. Das war Psychoterror, entfuhr es ihm leise. Das war keine Erpressung. Der Absender wollte kein Geld. Was aber dann? Wieso Münster von Bern? Da stand doch eindeutig, er solle auf dem Ulmer Münster zum großen Raum beim Turmwart kommen? Temming versuchte, sich die beschriebene Örtlichkeit in Erinnerung zu rufen. Aber es war viel zu lange her, dass er zuletzt auf dem Münsterturm gewesen war. Er konnte sich an keine Details entsinnen. Aber was hatte das Ulmer mit dem Berner Münster zu tun?

Natürlich musste es sich feststellen lassen, woher die Mail kam. Andererseits, so mahnte ihn eine innere Stimme, waren Attacken aus dem Internet meist nicht nachvollziehbar, vorausgesetzt, sie waren geschickt genug gemacht. Oft hörte man, dass sogar die Polizei machtlos war, wenn über dubiose Kanäle Geld von Konten abgehoben und ins Ausland transferiert wurde.

Temming schwärzte mit Klick auf die linke Maustaste die E-Mail-Adresse ein, kopierte sie und setzte sie bei Google in das Suchfeld ein. Augenblicklich erfuhr er, dass es sich um den Anbieter anonymer E-Mail-Adressen handelte. Seine weitere Recherche, die ihm noch mehr Aufregung bescherte, führte zu einer Internetseite von T-online, die darüber informierte: Hinter den zum Teil kostenlosen Diensten steht jeweils ein Server, der alle E-Mails weiterversendet, sodass er selbst als Absender agiert. Alle Informationen, die auf die Herkunft und den Absender schließen lassen, werden entfernt. Einige Remailer verschicken die E-Mail-Nachricht zudem über andere zufällig ausgewählte Server rund um die Welt.

Es war unfassbar, was es doch nicht alles gab, dachte Temming. Grauzonen, wohin das Auge blickte.

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