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Es war ein Schock. 49 Jahre lang hatte er es verdrängt. Eine halbe Ewigkeit. Und jetzt hielt er einen Brief in den zitternden Händen, der die alten Wunden aufriss. Walter Temmings glasige Augen waren starr auf das Stück Papier gerichtet, das zwischen seinen unruhigen Fingern zu vibrieren begann. Zweimal schon hatte er den Text gelesen, der am Computer geschrieben und mit klarer Schrift ausgedruckt worden war. Er schob mit der linken Hand die dicke Brille höher auf die Nase, als erhoffte er sich, der Inhalt des Briefes würde sich bei schärferem Sehen ändern.

»Lieber Bruder Walter«, las er nun schon zum dritten Mal, während nur das Ticken der antiken Standuhr das herrschaftliche Wohnzimmer erfüllte. »Du wirst erstaunt sein, von mir als Deinem gehassten Bruder nach so langer Zeit wieder etwas zu hören. Aber das Schicksal hat es so gewollt, dass sich unsere Wege in Deinem Leben noch einmal kreuzen. Auch wenn Du es nicht für möglich halten wirst, aber ich bin gekommen, um das, was vor 49 Jahren geschehen ist, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.«

Das musste ein schlechter Witz sein. Temming überflog den letzten Satz noch einmal. »… bin gekommen, um das, was vor 49 Jahren geschehen ist, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.«

Ja, 49 Jahre war das jetzt her. Oktober 1968. Gefühlte Hunderttausend Mal hatte er es gedanklich durchlebt. Überhaupt war ihm dies alles nie aus dem Gedächtnis gegangen. Wie ins Gehirn oder in die Seele eingebrannt, so hat es ihn ein Leben lang verfolgt. Wenigstens war es ihm im Laufe der Zeit gelungen, da­rü­ber zu schweigen, obwohl seine Frau, wie er befürchtete, hin und wieder das Bedürfnis hatte, die Angelegenheit anzusprechen. Nein, er wollte nicht. Für ihn war das Thema abgeschlossen, sosehr es ihn auch plagte. Manchmal traf es ihn aber unversehens, wie ein Keulenschlag aus dem Nichts. Mit dem Abstand der Jahre schien es sogar immer heftiger an ihm zu nagen – als sei alles erst vor wenigen Wochen gewesen. Die Vergangenheit frisst einen auf, dachte er dann.

Doch was nicht zu ändern ist, so lautete seine Devise im harten Geschäftsleben, damit musste man sich abfinden. Da lohnte alles Grübeln nichts und schon gar kein schlechtes Gewissen. Außerdem, mein Gott, damals war er gerade mal 21 gewesen. Ein unerfahrener junger Kerl, aus heutiger Sicht.

Er griff nach dem Kuvert, das er hastig aufgerissen hatte. Aber da gab es keinen Absender. Und seit Poststempel abgeschafft waren, ließ sich nur die zweistellige Zahl des Briefzentrums jener Region erkennen, in der der Brief eingegangen war. Briefzentrum 73 – Salach. Also nicht weit von hier.

Ob es Fingerabdrücke darauf gab? Für einen Moment zuckte dieser Gedanke durch Temmings Gehirn. Aber mit welcher Begründung würde er den Brief zur Polizei bringen können? Zwangsläufig käme die Frage auf, was denn vor 49 Jahren geschehen sei. Da gab es sicher noch Akten. Oder war längst alles verjährt? Nein, so etwas verjährte in Deutschland nie.

Auf seiner faltigen Stirn hatten sich dünne Schweißperlen gebildet, als er weiterlas: »Du hast mich um das Erbe des Vaters gebracht. Ein gnädiges Schicksal oder besser gesagt eine Geldzuwendung und ein Todesfall haben Dich davor bewahrt, dafür büßen zu müssen. Aber noch ist es nicht zu spät. Ich bin gekommen, meinen Teil zu holen oder Dich der gerechten irdischen Strafe zuzuführen.«

Temmings Hände zitterten heftiger. Nicht wegen seines Alters von 70 Jahren, dazu war er viel zu fit, sondern aus purem Entsetzen. Seine Augen klebten an dem Wort ›Strafe‹. Er spürte, wie seine Kehle austrocknete und sein Blutdruck in die Höhe schnellte. Gleichzeitig erschreckte ihn der Halbstundenschlag der antiken Standuhr.

»Damit du nicht glaubst, ein Trittbrettfahrer würde Dich zu erpressen versuchen, solltest Du Dich an einige Details erinnern, die nur wir beide kennen«, las er weiter. »Die Haushaltsleiter war aus Holz, und auf einer Seite waren drei Stufen mit roter Farbe beschmutzt, weil du ein paar Tage zuvor eine Farbdose ausgeleert hast.«

Unglaublich. Temming drückte seine Brille erneut fester auf die Nase. So war es. Ganz genau so. Er hatte damals das hölzerne Gartenhaus gestrichen, wobei ihm die Dose mit der roten Farbe aus der Hand gerutscht war.

Temmings Blick verfinsterte sich zunehmend, als er weiterlas: »Du brauchst also keinen Zweifel zu haben, dass ich es bin. Leider bin ich mir erst jetzt darüber bewusst geworden. Aber nun wurde mir die Gelegenheit geboten, ins Vergangene einzugreifen.«

Und dann endete der Brief: »Dein Bruder Siegfried.« Keine Unterschrift. Aber noch ein PS: »Schönen Gruß von Barbara. Ich hab sie inzwischen getroffen. Es geht ihr gut.«

Barbara. Es war wie ein Stich in die Seele. Barbara.

Verdammt, wer konnte dies wissen?

Temmings Blutdruck schoss weiter in die Höhe. Er überflog den Text noch einmal, dann besah er sich das Papier und hielt es gegen das Licht, um ein Wasserzeichen zu suchen. Nichts. Es dürfte sich um ganz normales Druckerpapier handeln. Das Schriftbild war unpersönlich. Typ Arial, vermutete er, zweieinhalbfacher Zeilenabstand. Eindeutig neueren Datums, denn 1968 hatte es noch keine PCs und keine Drucker gegeben.

Er kannte sich in Schriftsätzen aus, schließlich war er ein Leben lang Geschäftsführer seiner Chemiefabrik gewesen. Erst voriges Jahr hatte er sie seinem Sohn Sven überschrieben, sich dabei aber pro forma als Berater noch ein Mitspracherecht gesichert, vor allem aber ein Büro, in dem er sich nahezu täglich ein paar Stunden sehen ließ. Die prächtige Jugendstilvilla, die noch von seinem Vater stammte, bot in dem kleinen Örtchen Kuchen – direkt an der Bahnlinie Stuttgart-Ulm gelegen – zwar genügend Raum für Ruhe und Gelassenheit. Doch so schön es hier am Rande der Schwäbischen Alb auch war, er konnte nicht einfach Däumchen drehen oder sich mit der Pflege des weitläufigen, parkähnlichen Gartens die Zeit totschlagen. Den Tag, an dem er das Chefbüro seiner Firma in Ulm räumen musste, hatte er mit Unbehagen auf sich zukommen sehen. Fast 30 Jahre lang war er dort der alleinige Herrscher gewesen, der Patriarch sozusagen – und dies mit Erfolg, wie er immer wieder voll Zufriedenheit feststellte. Das Unternehmen florierte, hatte alle Rezessionen unbeschadet überstanden und seit einigen Jahren sogar neue Märkte im Nahen Osten erschlossen. Was sein Vater einstens mit Schuhcreme und Zahnpasta begonnen hatte, entwickelte sich zu einer Chemiefabrik, die sich längst nicht nur mit haushaltsüblichen Produkten befasste. Chemie war heute ein breiter Begriff, der nahezu alle Wirtschaftszweige umfasste. Ob Metallverarbeitung oder Lebensmittel, ob Pharmazie, Landwirtschaft oder Fahrzeuge – es gab keinen Bereich und keine Branche, die nicht auf chemische Substanzen angewiesen war.

Temming faltete das Blatt sorgfältig zusammen, steckte es in das rechteckige Kuvert zurück, durch dessen Folienfenster das Adressfeld sichtbar wurde, und ging zu der wuchtigen Schrankwand, deren massives Eichenholz schon seit einigen Jahrzehnten das Wohnzimmer beherrschte. Der Mann öffnete zitternd ein Klapptürchen, hinter dem mehrere Aktenordner und gestapelte Papiere zum Vorschein kamen. Für einen kurzen Moment besah er sich die Unordnung, entschied sich dann aber, den Brief irgendwo zwischen die Schriftstücke zu stecken. Er wollte seine Frau nicht damit beunruhigen. Noch nicht. Zuerst musste er feststellen, was dies bedeutete. Und dazu brauchte er Zeit zum Nachdenken. Er musste sofort den Termin absagen, den er heute Nachmittag in der Firma in Ulm hatte. Ihm war jetzt nicht nach einer Rede vor einer Besuchergruppe. Er würde sich erst wieder morgen Vormittag in dem Betrieb sehen lassen.

Nun galt es, vorsichtig zu agieren. Sehr sogar. Denn der Inhalt des Briefes war brisant. So konnte nur jemand schreiben, der den damaligen Sachverhalt genau kannte. Aber die wenigen, die davon wussten, waren doch längst tot.

49 Jahre war das jetzt her, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Was sollte ein Erpresser damit anfangen können? Vermutlich war aber mit weiteren Attacken zu rechnen. Und aus Erpressungen, die in den Medien breit getreten worden waren, musste man schließen, dass der ersten Kontaktaufnahme weitere folgten, die stets massiver wurden. Deshalb musste er handeln – und dies ziemlich schnell.

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