Читать книгу Lenzendorfs Komfortzone - Marc Rosenberg - Страница 15

Listen

Оглавление

Abends aß Lenzendorf Vollkornbrot mit Wurst oder Käse. Dazu Tomaten oder Gurken oder Paprika. Er achtete darauf, dass seine Verdauung funktionierte. Er achtete besonders darauf, dass sich der Rhythmus des morgendlichen Stuhlganges nicht änderte. Es passte nicht in den täglichen Ablauf, wenn er etwas mit sich herumtragen musste, was er bereits am Morgen los sein wollte und konnte. Ein morgens nicht geleerter Darm konnte einen den ganzen Tag verderben. Der Tag ließ sich einfach beschwingter angehen, wenn dieser unnötige Ballast weg war. Er hatte etwas Befreiendes, der regelmäßige morgendliche Stuhlgang.

Alkohol war komplett tabu. Da gab es keine Diskussionen, das galt auch für Mae-Ying, die sich bei ihrer Ernährung zum größten Teil nach Lenzendorf richtete. Sie aß vorwiegend Reis mit Gemüse und Fleisch, gelegentlich auch mal Huhn oder Ente. Und natürlich Obst. Darauf bestand Lenzendorf. Und zum Frühstück eben frisch gepressten Orangesaft. Allem anderen traute er einfach nicht. Auch geschmacklich reichte kein gekaufter Orangensaft an frisch gepressten Orangensaft heran, er hatte es ausprobiert.

Auch Schokolade war nahezu tabu. Gelegentlich gönnte er sie sich, und dann teilte er sich Schokolade mit Mae-Ying. Sie hatte das Glück, so wie Lenzendorf auch, wobei es bei ihm nicht nur dem Glück geschuldet war, sondern seiner Disziplin und dem Respekt vor seinem eigenen Körper, Mae-Ying hatte also ebenfalls das Glück über einen schlanken Körper zu verfügen und auch ihr Körper schien Nahrung optimal zu verwerten, Überschüssiges konnte sich nicht ansammeln, weil es sofort verbrannt wurde. Deswegen, aber nicht nur deswegen, sondern weil Lenzendorf gute, wirklich gute Schokolade zu schätzen wusste, gönnte er sich und Mae-Ying hin und wieder Schokolade.

„Eine Schwäche müssen wir ja haben, ein Laster“, sagte Lenzendorf zu Mae-Ying und brach einen Riegel ab. „Jeder normale Mensch hat mindestens eine Schwäche und ein Laster.“

Mae-Ying lächelte. Und aß die Schokolade.

Wobei sie die Schokolade eigentlich nicht aßen, sondern im Mund schmelzen ließen, sodass sich der Geschmack voll entfalten konnte.

„Wenn schon sündigen“, sagte Lenzendorf, „dann geschmackvoll. Mae-Ying.“

Sie nickte und lutschte das Stück Schokolade.

Lenzendorf achtete sehr darauf, es Mae-Ying so einfach wie möglich zu machen. Er schloss Fehlerquellen durch Listen aus. Aber nicht nur seine Listen, sondern auch Routine und Regeln sorgten für einen reibungslosen und beinahe optimalen Ablauf des Alltags. Und dann gab Lenzendorf natürlich eindeutige und klare Anweisungen, die keinen Platz für Spielräume und Interpretationen ließen. Es waren keine komplexen Sätze, die er benutzte, um Anweisungen zu formulieren. Und, und das war besonders wichtig, mit diesem Phänomen sah er sich jeden Tag vor allem in der Schule bei den Schülern konfrontiert, daher vermied er es mehrere Anweisungen gleichzeitig zu geben. Immer eines nach dem anderen. Das war besonders wichtig. Menschen waren durch schlecht formulierte und durch unnötige und übereilt aneinandergereihte Anweisungen schnell überfordert. Das galt im Übrigen in zunehmendem Maße auch für Lenzendorfs erwachsenen Mitmenschen. Die Merkfähigkeit der Schüler, der Menschen grundsätzlich, hatte erschreckend nachgelassen. Es war anscheinend nicht mehr nötig, sich die einfachsten Dinge oder mehrere einfache Arbeitsanweisungen zu merken. Über einen kurzen oder auch längeren Zeitraum. Es ging ja nur noch um Informationen, nicht mehr um Wissen, Informationen konnte man ja „googeln“. Zu eigenen und notwendigen komplexen Gedankengängen waren immer weniger Menschen fähig oder bereit.

Ergänzt wurden diese Lenzendorfschen Maßnahmen durch klare Beschriftungen von Behältern und der Regalböden in den Schränken und Regalen in allen für Mae-Ying zugänglichen Räumen. Alles hatte seinen Platz, alles hatte seine Ordnung. Alles hatte seine Zeit. Man brauchte sich nur danach zu richten und sich daran zu halten. Neu gekaufte Sachen gehörten in den Regalen und Schränken immer nach hinten. Lenzendorf achtete stets auf das Haltbarkeitsdatum. Er hasste es, wenn Lebensmittel verdarben, weil Mae-Ying nicht aufgepasst hatte oder sie falsch einsortiert hatte.

Lenzendorf sorgte immer für einen gewissen Vorrat. Er hasste es, wegen Kleinigkeiten losfahren zu müssen.

Er dachte und handelte und kaufte vorausschauend, um überflüssige Wege zu vermeiden.

Mae-Ying brauchte nicht einmal mitdenken, sie musste nur lesen können und sich präzise und kurze Anweisungen merken können. Und sie natürlich befolgen. Das war nicht zu viel verlangt. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt.

Sie konnte eigentlich nichts falsch machen. Eigentlich.

Deswegen war es für ihn immer wieder unverständlich, wenn es vorkam, dass Mae-Ying doch einen Fehler machte. Sein System schloss Fehler aus. Eigentlich.

Doch Mae-Ying war eben Mae-Ying. Und ... alle Menschen waren fehlbar und fehlerhaft, aber ... sie wusste, was geschah, wenn sie doch von den Regeln abwich und gegen Anweisungen verstieß ... Und Lenzendorf wusste, dass sie es wusste und er wusste eigentlich auch, zumindest ahnte er es, warum es doch immer mal wieder passierte, dass Mae-Ying sein zwar einfaches, doch auch durchdachtes und ausgeklügeltes System missachtete ... ja, er wusste es. Ja, es gab nur einen Grund für Mae-Ying, Fehler zu machen.

Nur einen einzigen Grund.

Nur einen.

Sie wollte es. Sie wollte Fehler machen. Sie tat es bewusst. Nicht oft, aber hin und wieder eben doch ... weil sie es wollte. Sie machte Fehler, weil sie die Konsequenzen kannte. Mae-Ying forderte seine Aufmerksamkeit. Und er, Lenzendorf, musste, ob er es wollte oder nicht, er musste reagieren und handeln. Er musste sich an seine eigenen Regeln halten. Nichts war schlimmer als etwas anzukündigen und es nicht durchzuführen. Wenn man einem Kind Konsequenzen für Fehlverhalten androhte und sich nicht daran hielt, verlor das Kind den Respekt vor dem Erwachsenen und der Erwachsene verlor seine Autorität. Und es endete im Chaos und in Anarchie.

Für die Konsequenzen allerdings gab es keine Liste, keinen Katalog in der Art eines Bußgeldkataloges, in dem genau aufgelistet wurde, für welches Vergehen welche Strafe folgte. Nein, das war für Lenzendorf undenkbar und in höchstem Maße kontraproduktiv. Denn dann hätte Mae-Ying gewusst, bei welcher Art Vergehen was genau auf sie zukommen würde.

Doch Unkenntnis schützte vor Strafe nicht.

Aber Unkenntnis erhöhte die Wirkung.

Und die ...

Angst ...

Angst ... vor dem Unerwarteten ... und Angst vor ... den Schmerzen ...

... von denen sie nicht wusste, wann sie kamen und wie stark sie sein würden ... die Schmerzen ...

Aber Lenzendorf tat es nicht gern. Er tat es, weil sie es so wollten, sie wollten es alle ... und weil er es konnte ... er verstand es ... ja, er verstand sie und er konnte es tun, auch wenn er es nicht wollte ...

Nein, Lenzendorf fügte Mae-Ying nicht gern Schmerzen zu ... doch er konnte es und er verstand sich darin, Schmerzen zuzufügen ...

Lenzendorfs Komfortzone

Подняться наверх