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Michel Foucault:
Die historische Konstitution des Begehrens

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Foucault plante ursprünglich, eine Geschichte der »Sexualität als Erfahrung« in der modernen abendländischen Kultur zu schreiben. Im Laufe seiner Arbeit verlagerte sich das Projekt jedoch hin zu einer Geschichte des Begehrens oder des begehrenden Subjekts. Im Kern seiner Argumentation steht die Prämisse, dass die Sexualität keine abstrakte, ahistorische Konstante ist. Sex ist kein konkretes, natürlich Gegebenes, kein biologischer Referent, der sich lediglich in verschiedenen Erfahrungen von Sexualität ausdrückt und historisch von moralischen Normen geformt wird. Mit diesen Prämissen stellt Foucault viele traditionelle Theorien der Sexualität und des sexuellen Begehrens auf den Kopf. Sex ist seiner Ansicht nach keine »autonome Instanz«, zu beschränken »auf ein biologisches Minimum: Organ, Instinkt, Finalität«3, dessen geheimnisvolle Bedeutung untersucht werden und dessen unablässiger »Drang« kontrolliert werden müssen. Um das sexuelle Begehren zu verstehen, ist es notwendig, Macht, Sexualität und erst dann Sex (in dieser Reihenfolge) zu verstehen. Denn Macht formt die Erfahrung von Sexualität, und Sexualität konstituiert und strukturiert Sex. Mit anderen Worten: »Sex« und »Sexualität« sind als historische gesellschaftliche Konstrukte abhängig von einer bestimmten Konfiguration der Macht in einem spezifischen historischen Kontext. Folglich muss jede Erkenntnis über Sex aus einer historischen Untersuchung stammen.4

Foucaults Sexualitätsbegriff liegt also eine Theorie der menschlichen Kräfte oder der Macht zugrunde. Macht als solche ist für Foucault »die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren«.5 Daher sind zu verschiedenen Zeiten religiöse, politische, medizinische und psychologische Kräfte in Form von »zahllosen Prozeduren« am Werk, die »den Körper verabscheuenswert« machen sollen, und »Hinterlistigkeiten, mit denen man uns seit Jahrhunderten den Sex liebenswert … macht«.6 Kurz gesagt, Mechanismen, um die Sexualität zu disziplinieren, aber sie auch zu wecken und zu erregen.7 Sexualität ist ein »Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen«.8 Foucault zufolge wird das, was als »Sex« gilt, von komplexen und – ohne akribische dekonstruktive historische Analyse – weitgehend unsichtbaren Kräften determiniert. Folglich erschafft die Macht sexuelles Begehren und unterdrückt es auch; und aus Foucaults Sicht produziert und konstituiert die Macht das sexuelle Begehren viel stärker, als sie es unterdrückt. Das bedeutet, dass kulturelle und gesellschaftliche Kräfte unsere sexuellen Wünsche formen, sodass sexuell attraktive Merkmale (dünne Körper oder üppige, unbedeckte Brüste oder bedeckte, breite Schultern oder die Körpergröße) einem zeitlichen und geografischen Wandel unterworfen sind.

Foucault weist die »Repressionshypothese«9 als Erklärung für die westliche Erfahrung von Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Er bestreitet, dass das viktorianische Zeitalter eine Ära der sexuellen Repression und des gesellschaftlich erzwungenen Schweigens über Sex gewesen sei. Er argumentiert im Gegenteil, dass zu dieser Zeit der Diskurs über Sex geradezu explodiert sei und sich der Einsatz von Sexualität stark ausgeweitet habe. Deshalb ist die Frage, die ihn interessiert, nicht: »Weshalb werden wir unterdrückt?« Sondern: »Weshalb sagen wir … daß wir unterdrückt werden?« Und: Warum hat man den Sex so lange Zeit mit der Sünde verbunden? Oder er fragt, »warum wir uns heute dermaßen dafür anschuldigen, ehedem eine Sünde aus ihm gemacht zu haben«.10 Weil Foucault glaubt, der Schlüssel zu diesen Fragen sei in einer Analyse der Geschichte des Diskurses zu finden, beginnt er mit der Untersuchung dessen, was er für den westlichen Impuls hält, die »Wahrheit des Sexes« zu entdecken. In seinen Augen beinhaltet dies einen auffälligen Zwang der Selbstprüfung und Selbstanzeige bezüglich der sexuellen Erfahrung, sei es im Diskurs der Religion, Medizin, Psychiatrie oder des Strafrechts.

Um die Verbindungen zwischen Macht, Sexualität und Wahrheit in der Moderne sinnfällig zu machen, erweitert Foucault sein Projekt um eine Analyse der Variationen sexueller Themen in anderen Epochen. Seine Hinwendung zur Vergangenheit beginnt mit der These, dass das Gewicht, das die Kirche im 17. Jahrhundert auf die Beichte legt, ein Vorläufer des modernen Diskurses über den Sex sei. Um diese Behauptung in die richtige Perspektive zu rücken, geht er weiter in die Geschichte zurück und untersucht das heidnische Alter tum und das Christentum vor dem 17. Jahrhundert. Deshalb befassen sich der zweite und dritte Band von Sexualität und Wahrheit mit den sexuellen Sitten der Griechen des 4. Jahrhunderts v. Chr. und der Römer des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr.11 Der bislang unveröffentlichte vierte Band, Die Geständnisse des Fleisches, untersucht Entwicklungen innerhalb des Christentums. Die Gegensätze, die er zwischen den verschiedenen Epochen feststellt (und die Kontinuitäten), beleuchten sich gegenseitig und geben den Blick auf das westliche Streben nach jener Art von Wissen frei, das Macht in Bezug auf Sex verspricht – von Foucault scientia sexualis genannt.

Foucault kommt zu dem Schluss, dass sich die Sexualmoral der Griechen und Römer nicht wesentlich von der christlichen unterscheidet. Er weist die allgemein vertretene Ansicht zurück, der entscheidende Unterschied zwischen der Sexualethik in der Antike und im frühen Christentum liege entweder in der Permissivität der griechisch-römischen Gesellschaften im Gegensatz zu den restriktiven sexuellen Regeln der Christen oder in der positiven Haltung der Antike zum Sex im Gegensatz zu einer negativen christlichen Einstellung. Beide Traditionen, so argumentiert er, kennen Inzestverbote, geben der ehelichen Treue den Vorzug, haben ein Modell der männlichen Überlegenheit, warnen vor gleichgeschlechtlichen Beziehungen, schätzen die Askese, halten sexuelle Abstinenz für positiv, fürchten einen Verlust männlicher Stärke durch sexuelle Aktivität und hoffen auf bestimmte Wahrheiten durch sexuelle Disziplin. Auch unterscheiden sich seiner Ansicht nach die grundlegenden Vorschriften nicht sehr von dem, was sich in der westlichen Gesellschaft nach dem 17. Jahrhundert feststellen lässt.

Und doch beharrt Foucault darauf, dass es deutliche Diskontinuitäten, sogar Brüche zwischen diesen historischen Epochen gibt. Schon die Gründe für die moralische Sorge um die Sexualität waren unterschiedlich. Nach seiner Lesart geht es den Griechen und Römern um Gesundheit, Schönheit und Freiheit, während Christen die Reinheit des Herzens vor Gott anstreben und das moderne Bürgertum auf die Selbstidealisierung abzielt. Die Griechen schätzen die Selbstbeherrschung, die Christen suchen das Selbstverständnis, und die modernen westlichen Individuen erforschen ihre Gefühle, um sich der Übereinstimmung mit den Standards der Normalität zu versichern. Erotik wird für die Griechen auf Knaben, für die Christen auf Frauen gelenkt und für die viktorianische und post-viktorianische Mittelklasse als zentrifugale Bewegung in viele Richtungen. Die Griechen fürchten die Versklavung des Geistes durch den Körper; die Christen haben große Angst vor der chaotischen Macht der verderblichen Leidenschaft; die Menschen im 19. und 20. Jahrhundert fürchten die Devianz und die daraus folgende Schande. In der Antike ist Sexualmoral ein ästhetisches Ideal, persönliche Wahl für eine Elite; im Christentum wird sie zur allgemeinen ethischen Verpflichtung; unter der Herrschaft der modernen Familie und des modernen Berufslebens wird sie zum sozialen Erfordernis.

Foucaults Analyse der Geschichte der Sexualität lässt die Frage offen, von der er ausgegangen war: Wie gelangte die heutige westliche Kultur zu der Überzeugung, dass die Sexualität der Schlüssel zur individuellen Identität ist? Wie wurde Sex wichtiger als Liebe und beinahe noch wichtiger als das Leben selbst? Foucault entlarvt den Mangel an Freiheit in vergangenen Konstrukten der Sexualität, und er kritisiert die althergebrachten sexuellen Vorschriften. Nach seiner Darstellung kommen gegenwärtige Strategien zur sexuellen Befreiung allerdings auch nicht besser weg. Er legt vielmehr nahe, dass die moralische Sorge um die Sexualität nicht in jeder Hinsicht falsch ist, wie historisch relativ Sexualethiken auch sind.

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