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ZWEITES BUCH

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Als an einem Maimorgen des Jahres 1862 die Eisenbahn Scarlett nordwärts trug, meinte sie, Atlanta könne unmöglich so langweilig sein wie Charleston und Savannah, und trotz ihrer Abneigung gegen Miß Pitty und Melanie war sie doch ein wenig neugierig, zu sehen, wie es der Stadt seit ihrem letzten Besuch im Winter vor Beginn des Krieges ergangen war. Atlanta hatte sie immer mehr interessiert als jede andere Stadt, weil Gerald ihr einmal erzählt hatte, sie und Atlanta seien gleichaltrig. Später kam sie allerdings dahinter, daß Gerald es mit der Wahrheit nicht so genau genommen hatte. Atlanta war immerhin neun Jahre älter als sie, aber es gehörte doch ihrer eigenen Generation an. Es war rauh wie die Jugend und ungestüm und eigensinnig wie Scarlett selbst. Geralds Behauptung beruhte darauf, daß Atlanta und sie in demselben Jahre getauft worden waren. Die Stadt hatte zuerst Terminus und dann Marthasville geheißen, und erst in dem Jahre, da Scarlett geboren wurde, war Atlanta daraus geworden. Als Gerald auf seinen neuen Besitz nach Nordgeorgia hinaufzog, hatte es an dieser öden und leeren Stätte noch nicht einmal ein Dorf gegeben. Dann hatte der Staat den Bau einer Eisenbahn nordwärts durch die von den Cherokesen kürzlich abgetretenen Territorien genehmigt. Endpunkt und Richtung der geplanten Eisenbahn waren klar und deutlich, Tennessee und der Westen, aber ihr Ausgangspunkt in Georgia lag noch im dunkeln, bis ein Jahr später ein Ingenieur einen Pfahl in den roten Lehm rammte und damit den südlichen Endpunkt der Linie bezeichnete. Das war der Anfang von Atlanta, geborener Terminus.

Damals gab es noch keine Schienenstränge in Nordgeorgia und auch anderswo nur sehr wenige. Aber in den Jahren vor Geralds Heirat wuchs die winzige Niederlassung fünfundzwanzig Meilen von Tara allmählich zu einem Dorf heran, und die Schienen rückten langsam nach Norden vor. Die Zeit des Eisenbahnbaues begann. Von der alten Stadt Augusta ging westwärts durch den Staat eine zweite Strecke, die die Verbindung mit der neuen Linie nach Tennessee herstellen sollte. Von der alten Stadt Savannah aus wurde eine dritte Linie zuerst bis Macon im Herzen Georgias und dann nordwärts durch Geralds eigene Provinz bis Atlanta geführt, wo sie mit den andren beiden Strecken zusammentraf und dadurch dem Hafen Savannah eine Verbindung mit dem Westen verschaffte. Schließlich wurde von demselben Knotenpunkt Atlanta aus noch eine vierte Strecke südwärts nach Montgomeryund Mobile gebaut.

Mit den Eisenbahnen geboren, wuchs Atlanta auch mit ihnen. Nach Fertigstellung der vier Linien war es nun verbunden mit dem Westen, de m Süden, mit der Küste und über Augusta mit dem Norden und dem 0sten. Es war der Kreuzungspunkt für Reisen nach allen vier Himmelsrichtungen geworden, mit einem Satz stand das kleine Dorf mitten im großen Leben.

In einem Zeitraum, der wenig länger war als Scarletts siebzehn Jahre, war Atlanta aus einem einzigen in den Erdboden geschlagenen Pfahl zu einer blühenden Kleinstadt von zehntausend Einwohnern aufgewachsen, auf die der ganze Staat sein Augenmerk richtete. Die älteren, stilleren Städte blickten auf den geschäftigen Neuling mit den Gefühlen einer Henne, die ein Entlein ausgebrütet hat. Die Einwohner der jungen Stadt waren rastlose, unternehmungslustige, energische Leute, die ihre Ellbogen gebrauchten. Sie kamen von allen Seiten mit Begeisterung herbei. Sie bauten ihre Lagerhäuser an den fünf morastigen Straßen, die sich in der Nähe des Bahnhofs kreuzten. Ihre Villen aber bauten sie in der Whitehallund Washingtonstraße und an dem hohen Hügelrücken, wo unzählige Indianergenerationen mit ihren Mokassins einen Weg getreten hatten, der sich Pfirsichpfad nannte. Sie waren stolz auf die Stadt, stolz auf ihr rasches Wachstum und stolz auf sich selbst. Atlanta kümmerte sich nicht um den Neid der anderen Städte. Aus denselben Gründen, die es in Savannah, Augusta und Macon unbeliebt machten, hatte Scarlett von jeher Atlanta gern gehabt. Es war wie sie selbst, ein Gemisch aus dem alten und dem neuen Georgia, darin sich das alte oft als das weniger Gute erwies. Dazu kam die aufregend persönliche Note, die für sie die Stadt haben mußte, die in demselben Jahre wie sie getauft worden war.

Nachdem es die Nacht zuvor geregnet und gestürmt hatte, war, als Scarlett in Atlanta ankam, die heiße Sonne schon emsig an der Arbeit, die Straßen, die sich wie Ströme roten Schlammes durch die Stadt wanden, wieder zu trocknen. In dem freien Gelände um den Bahnhof war der weiche Boden durch den beständigen Strom des Verkehrs so aufgerissen und durcheinandergequirlt worden, daß die Fuhrwerke in den tiefen Wagenfurchen manchmal bis an die Nabe einsanken. Eine ununterbrochene Reihe von Militärwagen und Ambulanzen, die Vorräte und Verwundete einund ausluden, verschlimmerten noch mit ihrem ewigen Hin und Her die allgemeine Verwirrung. Fahrer fluchten, Maultiere wateten tief durchs Wasser, und meterweit spritzte der Schmutz.

Scarlett stand auf dem unteren Trittbrett des Zuges, eine bleiche, hübsche Erscheinung in ihrer schwarzen Trauerkleidung mit dem Krepp- Schleier, der lang herunterfiel. Sie zauderte, sich Schuhe und Rocksaum zu beschmutzen, und hielt in dem lärmenden Durcheinander von Lastwagen, Einspännern und Equipagen nach der pausbackigen Miß Pittypat Ausschau. Da kam ein alter dürrer Farbiger mit grauem Bart und würdevoller Herrschermiene, den Hut in der Hand, auf sie zugestapft.

»Miß Scarlett, nicht wahr? Ich bin Peter, Miß Pittys Kutscher. Nicht in den Schmutz treten!« befahl er streng, als Scarlett den Rock zusammenraffte, um auszusteigen. »Sie sind genauso schlimm wie Miß Pitty, und sie ist wie ein kleines Kind und holt sich immer nasse Füße. Ich will Sie tragen.«

Trotz seiner Bejahrtheit nahm er Scarlett mühelos auf den Arm, zögerte aber, als er auf der Plattform des Zuges Prissy mit den Kind erblickte. »Ist dieses kleine Mädel Ihr Kindermädchen? 0h, Miß Scarlett, die ist aber v iel, viel zu klein für Master Charles' einziges Baby! Aber das später. Mädel, kommhinter mir her, und daß du mir das Baby nicht fallenläßt!«

Scarlett ergab sich drein, zur Equipage getragen zu werden, und fügte sich auch in 0nkel Peters unverblümte Art, an ihr und Prissy Kritik zu üben. Als sie durch den Schmutz zogen und Prissy maulend hinter ihr herwatete, fiel ihr ein, daß Charles ihr ja auch von »0nkel Peter« erzählt hatte.

»Er hat die ganzen mexikanischen Feldzüge mit Vater zusammen mitgemacht und ihn gepflegt, als er verwundet war. Er hat ihm das Leben gerettet. Eigentlich hat er Melanie und mich aufgezogen, denn wir waren sehr klein, als Vater und Mutter starben. Damals hatte Tante Pitty ein Zerwürfnis mit ihrem Bruder, 0nkel Henry. Daher kam sie zu uns, wohnte bei uns im Hause und sorgte für uns. Sie ist das hilfloseste Geschöpf unter der Sonne - ein liebes erwachsenes Kind, und so behandelt 0nkel Peter sie auch. Um nichts in der Welt kann sie einen Entschluß fassen, also faßt stets Peter ihn für sie. Er hat bestimmt, daß ich mit fünfzehn Jahren ein größeres Taschengeld bekam, er bestand darauf, daß ich für mein Studium nach dem ehrwürdigen Harvard ging, während 0nkel Henry lieber gesehen hätte, wenn ich auf einer der neuen Universitäten möglichst rasch meine Examina machte. 0nkel Peter hat darüber entschieden, wann Melly alt genug war, ihr Haar aufzustecken und auf Gesellschaften zu gehen. Er sagt Tante Pitty, wann es zu kalt und naß für sie ist, um Besuche zu machen, und wann sie einen Schal um die Schultern nehmen muß. Er ist der prächtigste und treueste Schwarze, den ich je gesehen habe. Die einzige Schwierigkeit bei ihm ist, daß wir drei mit Leib und Seele sein Eigentum geworden sind - und daß er das weiß.«

Charles' Worte wurden vollen Umfangs bestätigt, als 0nkel Peter auf den Bock stieg und die Peitsche ergriff.

»Miß Pitty«, erklärte er, »hat Zustände, weil sie Sie nicht von der Bahn holen konnte. Sie fürchtete, daß Sie das nicht verstehen. Aber ich habe ihr gesagt, daß sie und Miß Melly über und über mit Schmutz bespritzt würden, und die neuen Kleider würden dabei verderben, und ich würde es Ihnen schon erklären. Miß Scarlett, Sie nehmen das Kind besser selbst auf den Arm, das kleine farbige Baby läßt es doch noch fallen.«

Scarlett blickte zu Prissy hinüber und seufzte. Das geschickteste Kindermädchen war sie tatsächlich nicht. Ihre neuerliche Beförderung vom hageren Farbigen mit kurzem Rock und steif eingebundenen Zöpfen zu der Würde eines langen Kattunkleides und eines gestärkten weißen Turbans hatte berauschend auf sie gewirkt. Nie hätte sie diese hohe Stufe so früh im Leben erklommen, hätten nicht die Erfordernisse des Krieges es Ellen unmöglich gemacht, Mammy oder Dilcey oder auch nur Rosa oder Teena zu entbehren. Prissy hatte sich bisher nie weiter als eine Meile von Tara oder Twelve 0aks entfernt, und die Reise in der Eisenbahn zusammen mit ihrer Erhebung zum Kindermädchen ging fast über das kleine Hirn ihres schwarzen Kopfes hinaus. Die zwanzig Meilen lange Reise von Jonesboro nach Atlanta hatte sie so aufgeregt, daß Scarlett die ganze Fahrt über das Kleine auf dem Schoß hatte halten müssen. Nun zerrüttete der Anblick so vieler Häuser und Menschen Prissys Haltung vollends. Sie drehte sich von einer Seite nach der andern, zeigte mit dem Finger und sprang in die Höhe und brachte das Baby so in Unruhe, daß es kläglich zu schreien begann. Scarlett sehnte sich nach Mammys festen alten Armen. Mammy brauchte ein Kind nur in ihre Hände zu nehmen, schon war es still. Aber Mammy war auf Tara, und Scarlett konnte nichts tun. Würde sie das Kind nehmen, so würde es genauso durchdringend wie bei Prissy schreien und außerdem an ihren Hutbändern zerren und ihr das Kleid kraus machen. Sie tat deshalb so, als habe sie 0nkel Peters Rat nicht gehört.

»Vielleicht lerne ich noch einmal, mit Babys umzugehen«, dachte sie ärgerlich, während der Wagen sich stoßend und schwankend aus dem Morast herausarbeitete. »Aber mit ihnen spielen werde ich sicher nie!« Als Wades Gesicht bei seinem Geplärr dunkelrot wurde, fuhr sie P rissy unwirsch an: »Gib ihm den Zuckerlutscher aus der Tasche, Priß, damit er nur ja still ist. Ich weiß, er hat Hunger, aber augenblicklich kann ich nichts dabei machen.«

Prissy holte den Lutscher, den Mammy ihr am Morgen gegeben hatte, und das Klagegeheul ließ nach. Scarletts Stimmung hob sich wieder etwas bei all dem Neuen, das sie sah. Als der Wagen endlich aus den Schmutzlöchern heraus war und in die Pfirsichstraße einbog, verspürte sie zum erstenmal seit Monaten ein Interesse an ihrer Umgebung. Wie war die Stadt gewachsen! Es war nicht viel länger als ein Jahr her, daß sie zuletzt hiergewesen war, und es war kaum glaublich, wie sich das kleine Atlanta inzwischen verändert hatte. Von dem Augenblick des Kriegsbeginns an hatte seine Wandlung begonnen. Dieselben Schienenstränge, die die Stadt im Frieden zum Brennpunkt des Handels gemacht hatten, gewannen nun im Krieg die höchste strategische Bedeutung. Fern von der Front bildete die Stadt das Verbindungsglied zwischen den Truppen der Konföderierten in Virginia und in Tennessee und dem Westen. Beide Armeen verband Atlanta wiederum mit den südlichen Gebieten, aus denen sie ihren Bedarf deckten. Es war ein Fabrikzentrum, eine Lazarettbasis und ein Stapelplatz des Südens für die Verpflegung und Ausrüstung des Heeres geworden: nicht mehr die Kleinstadt, deren Scarlett sich noch so gut erinnerte, sondern ein geschäftiger, weit ausgreifender Riese. Es summte wie ein Bienenstock und war stolz auf seine Bedeutung für die Konföderierten. Tag und Nacht wurde gearbeitet, umein Agrarland in ein Industrieland zu verwandeln.

Vor dem Kriege hatte es südlich von Maryland nur wenige Baumwollfabriken, Wollspinnereien, Waffenund Maschinenfabriken gegeben, und die Bewohner der Südstaaten hatten sich viel darauf zugute getan. Sie brachten Staatsmänner und Soldaten, Pflanzer und Ärzte, Juristen und Dichter hervor, aber keine Ingenieure und Techniker. Mit solchen Gewerben mochten sich die Yankees abgeben. Nun aber, da die Häfen von den Kanonenbooten der Yankees gesperrt waren und europäische Waren nur tropfenweise durch die Blockade gelangten, bemühte sich der Süden verzweifelt, sein eigenes Kriegsmaterial herzustellen. Dem Morden stand die ganze Welt offen. Tausende von Iren und Deutschen strömten dem Unionsheere zu, das Handgeld der Nordstaaten lockte. Allein der Süden war ganz auf sich selbst angewiesen.

Mühselig wurden die Maschinen zur Herstellung des Kriegsmaterials gebaut, denn es gab kaum Modelle, und fast jedes Rädchen mußte nach neuen Zeichnungen angefertigt werden, die man aus England bezog. Merkwürdige Gesichter tauchten jetzt in den Straßen von Atlanta auf. Die Bewohner, die noch vor kurzem beim Klang westlichen Jargons die 0hren spitzten, achteten schon nicht mehr auf die fremden Sprachen von Europäern, die die Blockade durchbrochen hatten, um hier Maschinen zur Erzeugung von Munition zu bauen. Es waren geschickte Leute, ohne die es den Konföderierten wohl schwerlich gelungen wäre, Pistolen, Gewehre, Kanonen und Pulver herzustellen. Tag und Nacht schlug das Herz dieser Stadt und trieb das Material durch die Adern der Eisenbahn an die Fronten. Stündlich brausten Züge herein und hinaus. Aus den neugebauten Fabriken fiel der Ruß in dichten Schauern auf die weißen Häuser. Nachts glühten die Öfen und dröhnten die Hämmer noch lange, nachdem die Bürger ins Bett gegangen waren. Wo voriges Jahr noch der Grund und Boden ungenutzt lag, standen jetzt Fabriken, die Zaumzeuge, Sättel und Hufeisen erzeugten, Werke der Rüstungsindustrie, die Gewehre und Kanonen herstellten, Walzwerke und Gießereien, die für Eisenbahnschienen und Güterwagen sorgten und ersetzten, was die Yankees zerstört hatten, und alle möglichen Werkstätten, in denen Sporen, Geschirrteile, Beschläge, Zelte, Knöpfe, Pistolen und Degen angefertigt wurden. Aber schon machte sich ein Mangel an Eisen bemerkbar. Die Blockade ließ so gut wie nichts durch, und die Bergwerke in Alabama standen beinahe still, weil die Bergleute an der Front waren. Keine eisernen Gitter, keine eisernen Tore, ja nicht einmal eiserne Denkmäler gab es mehr auf den Plätzen von Atlanta. Sie waren in die Schmelzkessel und Walzwerke gewandert.

Die Pfirsichstraße und ihre Nebenstraßen waren das Hauptquartier der verschiedenen Heeresabteilungen. Die Requirierungsbehörde, der Nachrichtendienst, die Feldpost, das Eisenbahntransportwesen, der Generalprofos hatten hier ihre Stätte. In allen Gebäuden wimmelte es von Leuten in Uniform. Draußen im Weichbilde der Stadt waren die Remonten untergebracht, Pferde und Maultiere in großen Hürden; an Seitenstraßen lagen die Lazarette. Als 0nkel Peter ihr von diesen erzählte, hatte Scarlett fast das Gefühl, Atlanta wäre eine wahre Krankenstadt, so zahllos waren die Lazarette für Verwundete, für Infektionskranke, für Genesende, und täglich spien die Züge neue Kranke und Verwundete aus.

Der Anblick all der Geschäftigkeit benahm Scarlett, die frisch aus ihrer ländlichen Ruhe kam, fast den Atem. Aber sie sah es gern, fast meinte sie zu fühlen, wie der gleichmäßig rasche Puls der Stadt mit dem ihren zusammenschlug. Während der Wagen sich langsam auf der Hauptstraße seinen Weg suchte, nahm sie all die neuen Eindrücke interessiert in sich auf. Auf den Fußwegen drängten sich die Männer in Uniform mit den Abzeichen aller Dienstgrade und aller Waffengattungen. Die schmale Straße war von Fuhrwerken verstopft. Kuriere in Grau sprengten von einem Hauptquartier zum andern und brachten Befehle und Depeschen. Verwundete humpelten auf Krücken, von besorgten Frauen am Ellbogen gestützt. Von dem Exerzierplatz, wo man Rekruten drillte, schallten Hornsignale, Trommelschlag und helle Kommandos. Scarlett stieg das Herz in die Kehle, als sie zum ersten Male die Uniform der Yankees erblickte. 0nkel Peter zeigte mit der Peitsche auf einen Trupp abgerissen aussehender Blauröcke, die von einer Abteilung mit aufgepflanztem Bajonette zum Bahnhof getrieben wurden, um ins Gefangenenlager abtransportiert zu werden.

Zum ersten Male seit dem Tage jenes Gartenfestes verspürte Scarlett eine frohe Wallung. Immer noch verstärkte sich der Eindruck der Lebendigkeit in dieser Stadt. Neue Bars waren zu Dutzenden wie aus dem Boden gesprossen. Dirnen, die dem Heer folgten, zogen durch die Stadt, und zur Entrüstung der Kirchenleute wimmelte es in den Bordellen von Frauen. Jedes Hotel, jede Pension, jedes Privathaus war überfüllt von Besuchern, die bei den verwendeten Angehörigen in den Lazaretten Atlantas sein wollten. Jede Woche gab es Gesellschaften, Bälle, Basare, dazu Kriegstrauungen ohne Zahl. Der beurlaubte Bräutigam in goldbetreßtem Hellgrau, die Braut in hereingeschmuggeltem Putz, in den Kirchen gekreuzte Degen, zu den Tischreden geschmuggelter Sekt und dann tränenreicher Abschied.

Nachts schurrte es in den baumbepflanzten Straßen von tanzenden Füßen, aus den Salons tönte der helle Klang des Klaviers, Sopranund Soldatenstimmen mischten sich zu den schwermütigen Balladen »Die Hörner tönten Waffenruh« oder »Wohl kam dein Brief, doch ach, er kam zu spät«. Sanfte Augen, die Tränen echten Kummers noch nie gekannt, wurden feucht.

Scarlett stellte Frage auf Frage, und 0nkel Peter gab Antwort, stolz, seine Kenntnisse zum besten geben zu können, und wies mit der Peitsche hierhin und dorthin.

»Das ist das Arsenal. Ja, gnädige Miß Scarlett, da bewahren sie die Kanonen und all so was auf. Nein, gnädige Miß Scarlett, das sind keine Lädchen, das sind Blockadebüros. Aber, gnädige Miß Scarlett, wissen Sie denn nicht, was Blockadebüros sind? Das sind die Büros, wo die Fremden wohnen, die uns die Baumwolle abkaufen und sie nach Charleston und Wilmington verschiffen und dafür Pulver zurückbringen. Nein, ich weiß nicht genau, was für eine Sorte Fremder das ist. Miß Pitty sagt, daß es Engländer sind, aber kein Mensch versteht ein Wort von dem, was sie sagen. Ja, es ist furchtbar rauchig, der Ruß verdirbt Miß Pittys Seidenvorhänge ganz und gar, der kommt aus der Gießerei und dem Walzwerk. Und was die nachts für einen Lärm machen! Kein Mensch kann dabei schlafen. Nein, gnädige Miß Scarlett, ich kann bestimmt nicht halten, ich habe Miß Pitty versprochen, Sie auf dem kürzesten Wege nach Hause zu bringen. Miß Scarlett, Sie müssen wiedergrüßen. Da kommen Miß Merriwether und Miß Elsing und grüßen uns.«

Scarlett entsann sich dunkel der beiden Damen, die aus Atlanta nach Tara zu ihrer Hochzeit gekommen waren. Es waren Miß Pittypats beste Freundinnen. Sie wandte sich rasch um, wohin 0nkel Peter zeigte, und neigte den Kopf. Die beiden Damen hielten in ihrer Equipage vor einem Laden. Der Besitzer und zwei Verkäufer standen mit einem Stoffballen beladen auf dem Fußsteig, wo sie die Ware gerade gezeigt hatten. M rs. Merriwether war eine große, sehr stattliche Frau, die so fest geschnürt war, daß der Busen wie der Bug eines Schiffes vorsprang. Vor der Fülle ihres eisengrauen Haares prangten in stolzem Braun, in die Stirn hineingekämmt, einige falsche Löckchen, die es durchaus verschmähten, sich dem übrigen Haar anzupassen. In ihrem runden, hochroten Gesicht vereinigten sich gescheite Gutmütigkeit und Gewohnheit zu befehlen. Mrs. Elsing war jünger, eine zarte, schlanke Frau, die früher einmal schön gewesen war und der noch immer etwas von verwelkter Frische, etwas vornehm Königliches anhing.

Diese beiden Damen waren mitsamt einer dritten, Mrs. Whiting, die Säulen von Atlanta. Sie hatten die Führung in den drei Kirchen, denen sie angehörten, und hielten die Geistlichkeit, die Chöre und die ganze Gemeinde in Atem. Sie veranstalteten Basare und regierten Nähzirkel. Unter ihrem Schütze fanden Bälle und Picknicks statt Sie wußten, wer eine gute Partie machte und wer nicht, wer heimlich trank und wer ein Kind erwartete. Sie waren die maßgebenden Sachkenner für den Stammbaum eines jeden, der in Georgia, Südcarolina und Virginia jemand war. Über die anderen Staaten zerbrachen sie sich nicht weiter den Kopf. Nach ihrer Ansicht stammte überhaupt niemand, der jemand war, aus einem anderen Staat als diesen dreien. Sie wußten, was sich schickte und was nicht, und hielten mit ihrer Meinung darüber niemals zurück. Mrs. Merriwether äußerte sich, so laut sie konnte, Mrs. Elsing in vornehm ersterbendem Gesäusele und Mrs. Whiting in einem wehleidigen Flüsterton, der zu erkennen gab, wie ungern sie über derlei sprach. Die drei Damen mißtrauten einander aus Herzensgrund und konnten einander ebensowenig leiden wie die Männer des ersten Triumvirats in Rom; und wahrscheinlich hatten sie sich aus ähnlichen Gründen wie jene so eng verbündet.

»Ich habe schon Miß Pitty gesagt, Sie müssen in mein Lazarett kommen«, rief Mrs. Merriwether lächelnd. »Daß Sie mir nicht etwa Mrs. Meade und Mrs. Whiting Zusagen machen!«

»0 nein!« Scarlett hatte keine Ahnung, wovon Mrs. Merriwether sprach, aber das Gefühl, willkommen zu sein und gebraucht zu werden, erwärmte sie. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen.«

Der Wagen pflügte sich weiter durch den Morast und hielt einen Augenblick, damit zwei Damen mit Körben voll Verbandzeug über dem Arm sich auf Schrittsteinen einen halsbrecherischen Weg über die Straße suchen konnten. Da fiel Scarletts Blick auf eine Gestalt, die für die Straße zu bunt gekleidet war, mit einem schottischen Schal, dessen Fransen ihr bis auf die Absätze herabhingen. Es war eine große, hübsche Frau, mit einem kecken Gesicht und üppigem rotem Haar, zu rot, um echt zu sein. Zum erstenmal sah Scarlett eine Frau, die ohne Zweifel >etwas mit ihrem Haar aufgestellt hatte<, und konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

Vom Winde verweht

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