Читать книгу Vom Winde verweht - Маргарет Митчелл - Страница 8

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»Wer ist das, 0nkel Peter?«

»Weiß nicht.«

»Natürlich weißt du es, ich sehe es dir an. Wer ist das?«

»Sie heißt Belle Watling.« 0nkel Peters Unterlippe schob sich langsam mißbilligend vor. Es entging Scarlett nicht, daß er weder »Miß« noch »Mrs.«gesagt hatte.

»Wer ist das denn?«

»Gnädige Miß Scarlett«, sagte Peter geheimnisvoll, »Miß Pitty liebt es nicht, daß Sie nach etwas fragen, das Sie nichts angeht. Es gibt hier in der Stadt ein Pack von Leuten, die nicht mitzählen, und über die zu reden, hat überhaupt keinen Zweck.«

Scarlett schwieg auf seinen Verweis. »Das muß bestimmt ein schlechtes Frauenzimmer sein!«

Noch nie zuvor hatte sie ein schlechtes Frauenzimmer gesehen. Sie drehte sich umund starrte der Frau nach, bis sie sich in der Menge verlor.

Endlich hatten sie die Geschäftsgegend hinter sich, die Wohnhäuser kamen in Sicht. Einzelne davon begrüßte Scarlett als alte Freunde, das würdige, stattliche Leydensche Haus, das Bonnellsche Haus mit den kleinen weißen Säulen und den grünen Fensterläden, das unnahbare Barockhaus aus rotem Backstein hinter niedrigen Hecken, das der Familie McLure gehörte. Sie kamen immer langsamer vorwärts. Aus den Haustüren, aus Gärten und vom Fußweg aus wurden sie von Damen angerufen. Einige kannte sie flüchtig, an andere hatte sie eine unbestimmte Erinnerung, die meisten waren ihr völlig unbekannt. Pittypat hatte anscheinend ihre Ankunft überall angekündigt. Immer wieder mußte sie den kleinen Wade in die Höhe halten, damit Damen, die sich durch den Straßenschlamm bis zu den Prellsteinen vorwagten, ihn bewundern konnten. Jede rief Scarlett zu, sie dürfe nur in ihren Strickund Nähzirkel, nur in ihr Lazarettkomitee eintreten, und unbekümmert sagte sie nach rechts und nach links zu.

Als sie an einem weitläufigen grünen Fachwerkhaus vorbeikamen, rief ein kleines schwarzes Mädel: »Da kommt sie!«, und Dr. Meade, seine Frau und der kleine dreizehnjährige Phil kamen heraus und begrüßten sie. Scarlett erinnerte sich daran, sie auch auf ihrer Hochzeit gesehen zu haben . Mrs. Meade trat auf den Prellstein ihres Hauses und reckte den Hals, um das Baby zu sehen. Aber der Doktor achtete nicht auf den Schmutz und stapfte bis an den Wagen heran. Er war groß und hager und hatte einen eisgrauen Spitzbart, die Kleidungsstücke hingen an seiner dürren Gestalt, als habe ein 0rkan sie darangeweht. Atlanta betrachtete ihn als die Wurzel aller Kraft und aller Weisheit, und es war nicht zu verwundern, daß etwas von dem allgemeinen Glauben in ihn selbst übergegangen war. Aber bei all se inen 0rakelsprüchen und seiner etwas pathetischen Art war er einer der gütigsten Männer der Stadt.

Nachdem er Scarlett die Hand geschüttelt und Wade die Wange gestreichelt hatte, verkündete er, Tante Pittypat habe ihm unter Eid versprochen, daß Scarlett keinem anderen Lazarett und keinem anderen Verbandzeugkomitee angehören dürfe als demvon Mrs. Meade.

»0 je, das habe ich doch schon tausend Damen versprochen!« sagte Scarlett.

»Natürlich auch Mrs. Merriwether! Das verflixte Frauenzimmer läuft ja wohl an jeden Zug!«

»Ich habe es ihr versprochen, weil ich keine Ahnung hatte, was das alles bedeutet«, gestand Scarlett. »Wassind denn überhaupt Lazarettkomitees?«

Der Doktor und seine Frau waren beide über ihre Unwissenheit befremdet.

»Nun ja, Sie sind natürlich auf dem Lande vergraben gewesen und können es nicht wissen«, entschuldigte Mrs. Meade sie. »Wir haben Pflegekomitees für verschiedene Lazarette und für verschiedene Arbeitstage. Wir pflegen die Verwundeten, wir helfen den Ärzten und nähen Bandagen und Anzüge, und wenn die Leute so weit wiederhergestellt sind, daß sie entlassen werden können, nehmen wir sie zu uns ins Haus und pflegen sie so lange weiter, bis sie wieder an die Front können. Wir sorgen auch für die Frauen und Kinder der mittellosen Verwundeten - einige sind wahrhaftig noch elender als mittellos. Doktor Meade ist am Institutslazarett tätig, für das auch mein Komitee arbeitet, und alle sagen, er sei großartig und ...«

»Nun, nun«, sagte der Doktor, »du darfst vor den Leuten nicht mit mir prahlen. Ich kann ja nur so wenig tun, da du mich durchaus nicht an die Front lassen willst.«

»Ich lasse dich nicht? Ich?« Sie war empört. »Die Stadt läßt dich nicht, das weißt du sehr gut. Denken Sie, Scarlett, als die Leute hörten, daß er als Militärarzt nach Virginia wollte, haben alle Damen eine Bittschrift unterzeichnet, er möge hierbleiben. Die Stadt ist es, die dich nicht entbehren kann.«

»Nun, nun, Mrs. Meade.« Der Doktor sonnte sich sichtlich in ihrem Lob. »Vielleicht haben wir mit einem Jungen an der Front fürs erste genug getan.«

»Nächstes Jahr gehe ich ins Feld!« rief der kleine Phil voller Aufregung. »Als Trommler! Ich lerne jetzt trommeln. Wollen Sie es hören? Ich hole rasch meine Trommel.«

»Nein, jetzt nicht«, sagte Mrs. Meade und zog ihn mit einem plötzlich gespannten Gesichtsausdruck an sich. »Nächstes Jahr noch nicht, Liebling, vielleicht übernächstes.«

»Aber dann ist der Krieg vorbei!« Ungeduldig riß der Kleine sich von ihr los. »Du hast es mir doch versprochen.«

Über seinen Kopf hinweg sahen die Eltern einander ins Auge. Scarlett gewahrte den Blick. Darcy Meade stand in Virginia, und um so fester klammerte sich die Liebe der Eltern an den Kleinen, der noch im Hause war.

0nkel Peter räusperte sich. »Miß Pitty hatte ihren Zustand, als ich wegfuhr, und wenn ich nicht bald wiederkomme, liegt sie ohnmächtig da.«

»Auf Wiedersehen, ich komme heute nachmittag hinüber!« rief Mrs. Meade ihnen nach. »Und bestellen Sie Miß Pitty von mir, wenn Sie nicht in mein Komitee eintreten - dann wehe ihr!«

Der Wagen glitt und rutschte die schmutzige Straße hinunter. Scarlett lehnte sich in die Kissen zurück und lächelte. Sie fühlte sich glücklicher als seit Monaten. Atlantas Lebendigkeit munterte sie auf.

Wieviel schöner war es hier als auf der einsamen Plantage vor den Toren von Charleston, wo die Alligatoren durch die stillen Nächte bellten! Schöner als in Charleston selbst, das in seinen Gärten hinter hohen Mauern träumte. Schöner als in Savannah mit seinen breiten Palmenstraßen und mit seinem schlammigen Fluß. Vielleicht schöner sogar als Tara, mochte sie Tara auch noch so liebhaben. Diese Stadt mit ihren engen und schmutzigen Straßen mitten im welligen Hügelland hatte etwas Erregendes, Rohes und Ungeschliffenes, verwandt jenem Rohen unter der feinen Politur, mit der Ellen und Mammy Scarlett versehen hatten. Plötzlich hatte sie das Gefühl, hierher gehöre sie und nicht in die ruhigen, abgeklärten alten Städte, die flach an den gelben Flüssen lagen.

Die Zwischenräume zwischen den Häusern wurden immer größer, und als Scarlett sich aus dem Wagen lehnte, sah sie Miß Pittypats rotes Backsteinhaus mit seinem Schieferdach auftauchen. Es war fast das letzte Haus im Norden der Stadt. Weiterhin wurde die Pfirsichstraße schmäler und verlor sich in die stillen dichten Wälder hinein. Der saubere weiße Lattenzaun war frisch gestrichen. In dem Vorgarten, den er einschloß, blühten die letzten Narzissen des Jahres. Auf der Haustreppe standen zwei Frauen in Schwarz, hinter ihnen eine große braune Frau mit den Händen unter der Schürze und einem breiten Lächeln, das die weißen Zähne entblößte. Die rundliche Miß Pittypat wippte aufgeregt auf ihren winzigen Füßen. Die eine Hand hielt sie an den vollen Busen gepreßt, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Neben ihr stand Melanie. In Scarlett regt e sich der Widerwille, und ihr wurde klar, daß diese feine kleine Person im schwarzen Trauerkleid mit den fraulich geglätteten, widerspenstigen Locken und dem herzförmigen Gesicht, das jetzt ein liebevolles glückliches Willkommenlächeln erhellte, in Atlanta das Haar in der Suppe für sie sein würde.

Wenn jemand aus den Südstaaten einmal seinen Koffer packte und zwanzig Meilen auf Besuch reiste, so dauerte ein solcher Besuch selten kürzer als einen Monat, meist aber länger. Die Leute waren ebenso begeistert Gast wie Gastgeber, und es war nichts Ungewöhnliches, daß Verwandte zu den Weihnachtsferien kamen und bis in den Juli hinein blieben. Junge Paare, die auf der Hochzeitsreise ihre übliche Besuchsrunde machten, blieben oft, wenn es ihnen irgendwo gefiel, bis zur Geburt des zweiten Kindes. Häufig kamen ältere Tanten und 0nkel am Sonntag zum Mittagessen und blieben, bis sie Jahre später begraben wurden. Ein Gast war kein Problem. Das Haus war groß, die Dienstboten waren zahlreich, und einige Mäuler mehr zu sättigen war in dem Lande des Überflusses eine Kleinigkeit. Jedes Alter, jedes Geschlecht fuhr auf Besuch, Hochzeitsreisende, junge Mütter, die ihre Kleinen herumzeigten, Erholungsreisende, Trauernde, Mädchen, deren Eltern Wert darauf legten, sie den Gefahren einer törichten Heirat zu entrücken, andere Mädchen, die unverlobt das gefährliche Alter erreicht hatten und nun unter Führung auswärtiger Verwandten eine passende Partie machen sollten. Gäste brachten Anregung und Abwechslung in das langsam fließende Leben des Südens und waren immer willkommen.

So war auch Scarlett ohne eine Ahnung, wie lange sie bleiben würde, nach Atlanta gekommen. War es dort so langweilig wie in Savannah und Charleston, so kehrte sie nach einem Monat wieder nach Hause zurück. War es aber schön, so konnte sie unendlich lange bleiben. Aber kaum war sie angekommen, so begannen Tante Pitty und Melanie einen Feldzug, um sie zu überreden, sich für die Dauer bei ihnen niederzulassen. Jeden nur erdenklichen Grund führten sie an. Um ihrer selbst willen wollten sie sie dabehalten, weil sie sie liebhätten. Sie wären so einsam und fürchteten sich oft nachts in dem großen Hause; sie aber sei tapfer und mache ihnen Mut. So reizend sei sie, daß sie sie in ihrem Kummer richtig aufmuntern könne. Seitdem Charles nicht mehr lebe, sei ihr und ihres Sohnes Platz bei seinen Verwandten. Außerdem gehöre ihr jetzt laut Charles' Testament die Hälfte des Hauses. Und schließlich brauche die Bundesregierung jede Hand zum Nähen, Stricken, Scharpiezupfen und zur Verw undetenpflege.

Auch Henry Hamilton, Charles' 0nkel, der als alter Junggeselle im Hotel neben dem Bahnhof wohnte, sprach ernsthaft mit ihr darüber. Er war ein untersetzter, unzugänglicher alter Hagestolz mit dickem Bauch, rosigem Gesicht und vollem Silberhaar. Für weibliche Schamhaftigkeiten und Grillen war er ohne jegliches Verständnis. Deshalb sprach er auch kein Wort mit seiner Schwester Pittypat. Von der Kinderzeit an waren die beiden in ihrem ganzen Naturell Gegensätze gewesen und hatten sich dann durc h seine Einwendungen gegen ihre Art, Charles aufzuziehen, noch weiter entfremdet. »Einen richtigen Waschlappen machst du aus einem Soldatenkind!« Vor Jahren hatte er Pitty dermaßen beleidigt, daß sie seitdem nur mit solcher Scheu und so verstohlen von ihm sprach, daß ein Fremder den armen alten Rechtsanwalt mindestens für einen Mörder halten mußte. Zu dieser Beleidigung war es gekommen, als Miß Pitty von ihrem Vermögen, das er verwaltete, fünfhundert Dollar abzuheben und in einem gar nicht vorhandenen Goldbergwerk anzulegen wünschte. Er hatte darauf hitzig erklärt, daß sie nicht mehr Verstand als ein Maikäfer habe, und es mache ihn nervös, länger als fünf Minuten mit ihr zusammen sein zu müssen. Seitdem sah sie ihn nur noch einmal im Monat, wenn sie in seine m Büro ihr Hausstandsgeld in Empfang nahm. Nach diesen kurzen, förmlichen Besuchen mußte sie sich jedesmal für den Rest des Tages unter Tränen und mit Riechsalz ins Bett legen. Melanie und Charles, die ausgezeichnet mit ihrem 0nkel standen, hatten sich oft erboten, ihr diese Prüfung abzunehmen, aber sie hatte stets ihre Kinderlippen fest zusammengepreßt und es abgelehnt. Henry war ihr Kreuz, und ihr Kreuz mußte sie tragen. Daraus konnte man nur schließen, daß sie an solchen gelegentlichen Aufregungen, den einzigen in ihrem behüteten Leben, eine wahre Herzensfreude hatte.

0nkel Henry hatte Scarlett sofort gern; er sehe ohne weiteres - so sagte er -, daß sie trotz all ihrer albernen Ziererei doch ein paar Gran Verstand habe. Er verwaltete nicht nur Pittys und Melanies Vermögen, sondern auch Scarletts Erbteil von Charles. Für Scarlett war es eine angenehme Überraschung, daß sie jetzt eine wohlhabende junge Frau war. Charles hatte ihr nicht nur die Hälfte von Tante Pittys Haus hinterlassen, sondern auch Ländereien und städtischen Grundbesitz. Und die Speicher und Lagerhäuser längs des Schienenstranges beim Bahnhof, die sie ebenfalls geerbt hatte, waren jetzt dreimal soviel wert wie bei Ausbruch des Krieges. Als 0nkel Henry ihr die Abrechnung vorlegte, warf er die Frage auf, ob sie nicht ihren dauernden Wohnsitz in Atlanta aufschlagen wolle.

»Wenn Wade Hampton mündig wird, ist er ein reicher junger Mann«, sagte er. »Wächst Atlanta in diesem Tempo weiter, so steigt der Wert seines Vermögens in zwanzig Jahren um das Zehnfache, und es ist nur richtig, daß der Junge dort aufwächst, wo sein Besitz ist. Dort lernt er am besten, sich um ihn und auch um Pittys und Melanies Vermögen zu kümmern. Und bald ist er der einzige männliche Hamilton, denn ich lebe ja nicht ewig.«

Was nun 0nkel Peter betraf, so war es für ihn beschlossene Sache, daß Scarlett gekommen sei, um zu bleiben. Ihm war es ein Unding, daß Charles' einziger Sohn irgendwo anders als unter seiner, 0nkel Peters, Erziehung aufwachsen sollte.

Scarlett wollte sich nicht entscheiden, ehe sie nicht wußte, wie es ihr hier auf die Dauer gefallen würde. Außerdem mußten erst Gerald und Ellen gefragt werden, und Tara war so fern! Sie verspürte Heimweh nach den roten Feldern, den aufspringenden grünen Baumwollknospen und den sanften schweigenden Dämmerungen. Zum erstenmal ging ihr leise auf, was Gerald gemeint hatte, als er sagte, die Liebe zur Heimat läge auch ihr im Blut.

So vermied sie denn einstweilen mit geschickter Höflichkeit, eine bestimmte Zusage zu geben, und suchte sich zunächst in das Leben des roten Backsteinhauses am Ende der Pfirsichstraße einzufügen. Sie lebte mit Charles' Verwandten zusammen und begann den Mann, der sie so rasch hintereinander zur Frau, zur Witwe und zur Mutter gemacht hatte, ein wenig besser zu verstehen. Sie begann zu begreifen, warum er so schüchtern und so reinen Gemüts gewesen war. Hatte Charles überhaupt etwas von der harten, heißblütigen Soldatenart seines Vaters geerbt, so war das in der vornehm damenhaften Atmosphäre seiner Kindheit bald untergegangen. Er hatte an der kindlichen Tante Pitty gehangen und seine Schwester Melanie mehr geliebt, als es sonst Geschwisterart ist, und zwei sanftere, weltfremdere Frauen konnte man sich kaum vorstellen,

Tante Pittypat war vor sechzig Jahren auf die Namen Sarah Jane Hamilton getauft worden, aber seit dem längst vergangenen Tage, da ihr spaßesfroher Vater ihr wegen ihrer trippelnden, trappelnden Füße den Kosenamen angehängt hatte, wurde sie nie mehr anders genannt. Seither hatte sich vieles an ihr verändert, und der Name wollte nicht mehr recht passen. Von dem wilden frischen Kind war nichts übriggeblieben als zwei überaus zierliche Füßchen, die ihr Gewicht kaum tragen konnten, und eine Neigung, verloren und ziellos vor sich hin zu schwatzen. Sie war d ick, rotwangig und weißhaarig geworden und hatte einen kurzen Atem, weil sie sich immer zu fest schnürte. Weiter als einen Häuserblock vermochte sie auf ihren winzigen Füßchen, die sie obendrein immer in zu kleine Schuhe preßte, nicht zu gehen. Bei jeder Erregung geriet ihr Herz aus dem Takt, denn sie verhätschelte es sehr. Bei jedem Anlaß schwanden ihr die Sinne, aber jeder wußte, daß ihre 0hnmachten nichts weiter waren als zimperliche Posen; und jeder hatte Miß Pittypat zu gern, um es ihr zu sagen. Jeder hatte sie gern, verzog sie wie ein Kind und nahm sie nicht ernst - mit der einzigen Ausnahme ihres Bruders Henry. Mehr noch als alles andere auf der Welt, sogar als die Freuden der Tafel, liebte sie harmlosen Klatsch. Stundenlang schwatzte sie freundlich über die Angelegenheiten anderer Leute. Weder für Namen noch für Daten und 0rte hatte sie ein Gedächtnis, und alle handelnden Personen wurden von ihr hoffnungslos miteinander verwechselt. Das störte aber niemanden, denn niemand war so töricht, ernst zu nehmen, was sie sagte, niemand erzählte ihr je etwas wirklich Anstößiges; ihre altjüngferliche Zimperlichkeit mußte auch mit sechzig Jahren noch geschont und behütet werden, und ihre Freunde waren im allgemeinen Wohlwollen miteinander verschworen, sie als verzogenes und umhegtes Kind zu erhalten.

Melanie war ihrer Tante in manchen Zügen ähnlich. Sie hatte etwas von ihrer Schamhaftigkeit, ihrer Bescheidenheit und ihrer Neigung zum plötzlichen Erröten; aber sie besaß daneben einen gesunden Menschenverstand. »In gewissem Sinne, das muß ich zugeben«, meinte Scarlett mit einigem Widerstreben. Melanie hatte wie Tante Pitty die Miene eines umhegten, herzensguten und einfältigen Kindes, welches das Böse nie mit Augen gesehen hat und es nicht erkennen würde, wenn es ih m begegnete. Sie war immer glücklich gewesen und wollte, daß auch alle um sie herum glücklich und zufrieden seien. Sie betrachtete alles von der besten und freundlichsten Seite. Kein Dienstbote war so dumm, daß sie nicht irgendeinen ausgleichenden Zug der Treue und Herzensgüte an ihm entdeckte, kein Mädchen so häßlich, daß sie nicht seine Gestalt anmutig oder seinen Charakter edel fand, kein Mann so ohne Wert und Bedeutung, daß sie ihn nicht dennoch im Lichte seiner besten Möglichkeiten zu sehen versuchte. Um dieser gutherzigen Züge willen scharte sich alles um sie, denn wer könnte der Anziehungskraft eines Menschen widerstehen, der an allen anderen so hohe Eigenschaften entdeckt, wie sie selber sich niemals träumen lassen! Sie hatte mehr Freundinnen als irgend jemand sonst und auch mehr Freunde, wenn auch nur wenige Verehrer. Ihr fehlten der Eigensinn und die Eigenliebe, die den Männerherzen ein gut Stück voranzuhelfen pflegen.

Melanie tat nur das, was allen Mädchen aus den Südstaaten anerzogen wurde: sie sorgte unentwegt für allgemeine Unbefangenheit und Selbstzufriedenheit. Diese segensreiche Verschwörung der Frauen machte das gesellige Leben in den Südstaaten so angenehm. Ein Land, wo die Männer zufrieden waren, wo ihnen nicht widersprochen und sie in ihr er Eitelkeit nicht verletzt wurden, mußte ein angenehmer Aufenthaltsort für Frauen sein. Das wußten sie und richteten sich danach. Die Männer vergalten es ihnen reichlich mit Ritterlichkeit und Verehrung. Sie gönnten den Damen von Herzen alles in der Welt, nur nicht ihren Verstand. Scarlett ließ dieselben Künste wie Melanie spielen, jedoch mit vollendeter Geschicklichkeit. Der Unterschied zwischen den beiden Mädchen bestand darin, daß Melanie die Menschen, Scarlett aber sich selber glücklich machen wollte.

Charles hatte in diesem Hause keinerlei stählenden Einfluß erfahren und nichts von der rauhen Wirklichkeit des Lebens zu spüren bekommen. Verglichen mit Tara war dies Heim ein weiches, altmodisches Nest. Scarlett fand, es schreie förmlich nach Branntwein und Tabakduft, nach lauten Stimmen und Flüchen, nach Bärten und Gewehren, nach Jagdhunden, die einem zwischen den Beinen herumliefen. Sie vermißte den Klang streitender Stimmen, der auf Tara immer zu hören war, sobald Ellen den Rücken gekehrt hatte. Hier war alles still, jeder fügte sich den Wünschen der andern, und am Ende hatte stets der schwarze grauhaarige Selbstherrscher in der Küche seinen Willen. Scarlett hatte, fern von Mammys Aufsicht, die Zügel lockerer zu Enden gehofft. Zu ihrem Leidwesen mußte sie aber feststellen, daß 0nkel Peters Ansichten über vornehmes Betragen, besonders wo es sich um Master Charles' Witwe handelte, noch strenger waren als Mammys.

Scarlett war erst siebzehn Jahre und von prachtvoller Gesundheit und Lebenskraft, und Charles' Familie tat das Menschenmögliche, um sie glücklich zu machen. Wenn es nicht ganz gelang, so war das nicht ihre Schuld, denn niemand konnte die Wunde in ihrem Herzen heilen, die zu schmerzen begann, sobald Ashleys Name genannt wurde. Und Melanie nannte ihn so oft! Aber Melanie und Pitty waren unermüdlich, immer neue Linderungsmittel für den Kummer herauszufinden, mit dem sie sich nach ihrer Meinung herumquälte. Sie taten alles, um sie zu zerstreuen. Sie nahmen es peinlich genau mit ihrer Ernährung, mit ihrer Ruhe und ihren Spazierfahrten. Sie bewunderten nicht nur über die Maßen Scarletts Temperament, ihren schlanken Wuchs, ihre zierlichen Hände und Füße, ihre weiße Haut, sondern sagten es ihr auch oft und streichelten und umschmeichelten und küßten sie immer aufs neue. An Liebkosungen lag Scarlett nichts, aber sie sonnte sich in den Schmeicheleien. Auf Tara hatte ihr niemand so viel Schmeichelhaftes gesagt; im Gegenteil, Mammy hatte ihre Tage damit verbracht, an ihr herumzumäkeln. Der kleine Wade war ihr keine Last mehr. Die Familie und alles, was an Schwarzen und Weißen dazugehörte, auch alle Nachbarn, vergötterten ihn, und es war eine unaufhörliche Eifersüchtelei im Gange, wem er gerade auf dem Schoß sitzen durfte. Besonders Melanie war in ihn vernarrt. Noch wenn er am durchdringendsten kreischte, fand Melanie ihn himmlisch und schmachtete: >Ach,dusüßer Liebling! Wärstdudochmein! <

Manchmal fiel es Scarlett schwer, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Tante Pitty war ihr noch immer die albernste unter allen alten Damen. Ihre Fahrigkeit und ihre Grillen fielen ihr unerträglich auf die Nerven. Scarletts eifersüchtige Abneigung gegen Melanie wuchs mit jedem Tag, und manchmal mußte sie unvermittelt das Zimmer verlassen, wenn Melanie strahlend von Ashley sprach und aus seinen Briefen vorlas. Aber es lebte sich hier doch so glücklich, wie es unter den Umständen nur möglich war. Atlanta bot ihr so viel neuartige Ablenkung, daß ihr zum Denken und Trauern wenig Zeit blieb. Nur manchmal, des Abends, wenn sie das L icht ausgeblasen hatte, seufzte sie, den Kopf im Kissen vergraben: »Wäre Ashley doch nicht verheiratet! Wenn ich nur nicht in diesem schrecklichen Lazarett zu pflegen brauchte! Was gäbe ich nicht umein paar Verehrer!«

Der Krankendienst war ihr vom ersten Tag an abscheulich, aber sie konnte sich der Pflicht nicht entziehen, weil sie sowohl in Mrs. Meades wie in Mrs. Merriwethers Komitee saß.

Viermal in der Woche hatte sie, vom Hals bis zu den Füßen in einer viel zu warmen Schürze steckend und ein Tuch fest um den Kopf gebunden, den ganzen Vormittag in dem stickigen Lazarett Dienst. Jede Frau in Atlanta, ob alt oder jung, pflegte mit einer Begeisterung, die in Scarletts Augen an Fanatismus grenzte. Ihnen allen war es selbstverständlich, daß auch sie von glühendem Patriotismus erfüllt sei; hätten sie gewußt, wie wenig inneren Anteil sie am Kriege nahm, sie wären empört gewesen. Das einzige, was Scarlett beschäftigte, war die ununterbrochene Seelenangst, Ashley könnte fallen.

Romantisch war die Tätigkeit der Krankenschwestern durchaus nicht. Stöhnen, Delirium, Tod und Gestank! Das Lazarett war übervoll von verschmutzten, bärtigen Männern voller Ungeziefer, die abstoßend rochen und so scheußliche Verletzungen am Körper hatten, daß einem Christenmenschen wohl übel davon werden konnte. Der Geruch der brandigen Wunden schlug ihr schon weit vor der Tür in die Nase, ein ekler süßlicher Gestank, der ihr am Haar und an den Händen haftenblieb. Über den Patienten summten Schwärme von Fliegen, Moskitos und Mücken und quälten sie, daß sie fluchten oder matt aufschluchzten. Scarlett kratzte die eigenen Moskitostiche und schwenkte Palmenwedel, bis ihr die Arme schmerzten und sie allen Verwundeten den Tod wünschte.

An Melanie hingegen schienen die Gerüche, die Wunden und die Nacktheit der Männer spurlos vorüberzugehen, was Scarlett an dieser schüchternsten, verschämtesten aller Frauen wundernahm. Manchmal sah Melanie allerdings sehr bleich aus, wenn sie Dr. Meade die Schalen und Instrumente reichte, während er brandiges Fleisch wegschnitt. Einmal fand Scarlett sie nach einer solchen 0peration in der Wäschekammer, wie sie sich heimlich erbrach. Aber solange die Verwundeten sie sehen konnten, war sie sanft, verständnisvoll und froh, und die Leute nannten sie einen Engel des Erbarmens. Diesen Titel hätte Scarlett auch gern gehabt, aber damit war verbunden, daß man verlauste Männer anfaßte, mit dem Finger im Hals von bewußtlosen Patienten nachfühlte, ob sie nicht etwa an einem verschluckten Priem erstickten, daß man Stümpfe verband und faules und eitriges Fleisch säuberte. Nein, sie mochte durchaus nicht pflegen! Vielleicht wäre es hier erträglicher gewesen, wenn sie bei den Genesenden ihren weiblichen Zauber hätte spielen lassen dürfen. Aber als Witwe konnte sie sich derlei nicht erlauben. Die Genesenden waren in der Hut der jungen Mädchen aus der Stadt, die nicht pflegen durften, damit ihre jungfräulichen Augen nichts Unziemliches zu sehen bekamen. Unbeschwert von Ehe und Witwenschaft konnten sie sich ausleben, und auch die Unscheinbar sten unter ihnen hatten, wie Scarlett mißmutig beobachtete, keine Schwierigkeiten, einen Bräutigam zu finden. Abgesehen von den schwerverletzten und sterbenden Männern im Lazarett, lebte Scarlett ganz und gar in einer Welt von Frauen. An drei Nachmittagen in der Woche mußte sie an den Nähzirkeln von Melanies Freundinnen teilnehmen. Alle Mädchen waren sehr freundlich und zuvorkommend gegen sie, besonders Fanny Elsing und Maybelle Merriwether, die Töchter der beiden städtischen Machthaberinnen. Sie kamen ihr mit solcher Ehrerbietung entgegen, als wäre sie alt und zähle nicht mehr mit. Ihr ständiges Gerede über Bälle und Verehrer erfüllte Scarlett mit Bitterkeit, weil ihre Witwenschaft sie davon ausschloß. War sie nicht dreimal so anziehend wie Fanny und Maybel le? Ach, wie ungerecht war das Leben! Wie ungerecht, daß jeder dachte, ihr Herz läge im Grabe, und es war doch in Virginia bei Ashley!

Aber trotz aller Kümmernisse gefiel Atlanta ihr gut. Die Wochen vergingen, und ihr Besuch dauerte länger und länger.

An einem Hochsommermorgen saß Scarlett am Fenster ihres Schlafzimmers und sah betrübt die Leiterwagen und Equipagen voller Soldaten und Mädchen mit ihren Chaperons fröhlich die Pfirsichstraße hinunterfahren, um Blätterschmuck für den Basar zu holen, der am Abend zum Besten der Lazarette stattfinden sollte. Auf die schattige rote Straße fielen helle Sonnenflecken durch das Laubgewölbe der Bäume. Die Hufe wirbelten kleine Staubwolken auf. In einem Leiterwagen, der den anderen voranfuhr, saßen vier dicke Farbige mit Äxten, während sich hinten im Wagen die mit Servietten bedeckten Frühstückskörbe und Dutzende von Wassermelonen häuften. Zwei der schwarzen Gesellen waren mit Banjo und Harmonika ausgerüstet und gaben schwungvoll »Wenn ihr es gut haben wollt, kommt zur Kavallerie!« zum besten. Hinter ihnen her strömte die lustige Kavalkade, die Mädchen in leichten geblümten Waschkleidern mit feinen Schals, Häubchen, Handschuhen und Sonnenschirmchen. Alte Damen lächelten zufrieden unter Scherzen und Anrufen von Wagen zu Wagen. Genesende Soldaten, eingekeilt zwischen dicken Chaperons und schlanken Mädchen, die viel Lärm und Wesens um sie machten, 0ffiziere zu Pferde im Schneckenschritt neben den Equipagen, Rädergequietsch und Sporengeklirr, schimmernde goldene Tressen, Fächergewedel und dem Gesang der Farbigen. Ganz Atlanta fuhr über die Pfirsichstraße hinaus, um Laub zu pflücken und ein Picknick zu feiern. »Ganz Atlanta« dachte Scarlett, »nur ich nicht.«

Man winkte ihr fröhlich im Vorbeifahren zu. Sie suchte mit fröhlicher Miene zu antworten, aber es wurde ihr schwer. Mit einem Stich im Herzen hatte es begonnen und stieg nun langsam zum Halse herauf. Jeder ging zum Picknick, nur sie nicht. Und heute abend ging jeder zum Basar und zum Ball, nur sie nicht. Das heißt, nur sie, Pittypat und Melly und all die anderen Unglücksvögel in der Stadt, die Trauer hatten, nicht. Melly machte sich nichts daraus und kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie gern hingegangen wäre. Aber Scarlett fühlte den brennenden Schmerz der Entsagung.

Es war ungerecht. Sie hatte doppelt so schwer wie andere Mädchen in der Stadt gearbeitet, um mit allem für den Basar fertig zu werden, hatte Socken, Babykappen und Halsbinden gestrickt und zahllose Meter Spitzen geklöppelt. Viele Kissenbezüge hatte sie mit der Konfö deriertenflagge bestickt. Die Sterne waren wohl ein wenig schief geworden, einige beinahe rund, andere sechsund sogar siebeneckig, aber es machte sich doch gut. Gestern hatte sie bis zur Erschöpfung in dem alten verstaubten Schuppen eines Waffenarsenals gearbeitet, um die Verkaufsbuden, die an den Wänden entlang errichtet waren, mit buntem Stoff zu verkleiden. Das war rechtschaffene Arbeit und kein Spaß gewesen. Den Damen Merriwether und Elsing zur Hand zu gehen, war niemals ein Spaß, sie sprangen mit ihr u m, als wäre sie eine Schwarze. Dazu mußte sie auch noch mit anhören, wie sie mit der Beliebtheit ihrer Töchter prahlten. Was aber das Schlimmste war, sie hatte sich, als sie Pittypat und Cookie bei den Schichttorten für die Tombola half, zwei Blasen in die Finger gebrannt. Sie hatte gearbeitet wie eine Magd und sollte sich jetzt, wo das Vergnügen anfangen sollte, zurückziehen. Ach, es war hart, daß sie einen toten Mann und ein Kind hatte und von allem Schönen ausgeschlossen war! Noch vor einem Jahre hatte sie getanzt und statt der dunklen Trauer bunte Kleider getragen und war mit drei Burschen so gut wie verlobt gewesen.

Sie war siebzehn Jahre alt, und ihre Füße warteten noch auf viele ungetanzte Tänze. Das Leben ging in grauen Uniformen, mit Sporengeklirr, in geblümten 0rgandykleidem und mit Banjoklang an ihr vorüber. Beim lächelnden Grüßen war es ihr nicht leicht, ihre Grübchen in Zucht zu halten und immer noch so auszusehen, als läge ihr Herz im Grabe. Jäh hörte sie auf zu grüßen und zu winken, als Pittypat ins Zimmer stürzte und sie vom Fenster wegriß. »Kindchen, hast du den Kopf denn ganz und gar verloren, daß du Männer vom Schlafzimmerfenster aus grüßt? Ich bin entsetzt, Scarlett; was würde deine Mutter dazu sagen?«

»Sie wissen doch nicht, daß es mein Schlafzimmer ist.«

»Aber sie könnten es denken, und das ist ebenso schlimm. Alle werden nun über dich reden, und jedenfalls weiß Mrs. Merriwether, daß es dein Schlafzimmer ist!«

»Und nun erzählt die alte Katze das überall herum?«

»Kindchen, Dolly Merriwether ist meine beste Freundin!«

»Meinetwegen, aber eine alte Katze ist sie trotzdem - ach, es tut mir ja leid, Tantchen, weine nur nicht! Ich habe ganz vergessen, daß es mein Schlafzimmerfenster war. Ich wollte sie nur vorbeifahren sehen. Ach, ich wollte, ich könnte mitfahren.«

»UmHimmels willen, Kindchen!«

»Jawohl, ich habe es satt, zu Hause zu sitzen.«

»Scarlett, versprich mir, daß du so etwas nicht wieder sagst. Sonst müßten die Leute ja denken, du ehrtest nicht das Andenken des armen Charlie.«

»Ach, Tantchen, weine doch nur nicht!«

»0h, nein ... sieh, nun mußt du auch weinen«, schluchzte Pittypat voller Wohlbehagen und suchte in der Rocktasche nach ihrem Taschentuch. Auch Scarlett wurde jetzt überwältigt und verlor alle Fassung. Sie schluchzte laut - nicht um den armen Charlie, wie Pittypat dachte, sondern weil das Räderrollen und Gelächter nun verklungen war. Melanie kam aus ihrem Zimmer hereingerasselt, eine Bürste in der Hand, ihr sonst so ordentliches schwarzes Haar war frei vom Netz und plusterte ihr in hundert winzigen Wellen und Löckchen ins Gesicht.

»Ihr Lieben, was ist denn?«

»Charlie!« jammerte Pittypat, barg den Kopf an Mellys Schulter und gab sich ganz dem Genuß ihres Kummers hin.

»Ach!« Mellys Lippen zitterten sogleich, als der Name ihres Bruders fiel. »Sei tapfer, Liebes, nicht weinen. Ach, Scarlett!«

Scarlett hatte sich aufs Bett geworfen und schluchzte herzzerreißend um ihre verlorene Jugend, um die Freuden, die ihr verwehrt wurden, schluchzte empört und verzweifelt wie ein Kind, das einst mit seinen Tränen alles erreichte und nun weiß, daß kein Schluchzen mehr hilft. Sie vergrub den Kopf in die Kissen und weinte und stieß mit den Füßen die mit Quasten behangene Steppdecke weg.

»Ich könnte ebensogut tot sein!« Vor einem solchen Schmerzensausbruch versiegten Pittys wohlige Tränen, und Melly stürzte ans Bett, umdie Schwägerin zu trösten.

»Liebes, nicht weinen! Denke doch, wie lieb Charlie dich gehabt hat, kann dich das nicht trösten? Denk doch an den süßen Kleinen! «

Das Gefühl der Einsamkeit und des Nichtverstandenwerdens war so stark in Scarlett, daß es ihr den Mund verschloß, und das war gut, denn hätte sie jetzt gesprochen, so wäre manche schlimme Wahrheit zutage gekommen. Melly streichelte ihr die Schulter, und Pittypat ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer und schloß die Vorhänge. Scarlett hob ihr rotes geschwollenes Gesicht aus den Kissen: »Laß das! Ich bin noch nicht so tot, daß ihr die Vorhänge schließen müßt. Ach, bitte, geht hinaus und laßt mich allein!«

Wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Kissen, und nach einigem erregten Geflüster gingen die beiden hinaus. Sie hörte, wie Melanie leise auf der Treppe zu Pittypat sagte:

»Tante Pitty, wenn du doch nicht mehr mit ihr über Charlie sprechen wolltest! Du weißt doch, wie nahe es ihr geht. Armes Ding, sie sieht dann plötzlich so sonderbar aus. Ich weiß, sie versucht dann, die Tränen zu unterdrücken. Wir dürfen es ihr nicht noch schwerer machen.«

In ohnmächtiger Wut stieß Scarlett das Deckbett weg und suchte nach einem Ausdruck, der alles, was sie bewegte, kräftig genug ausdrückte. »Heiliger Strohsack!« kam es schließlich aus ihr hervor, und sie fühlte sich ein klein wenig erleichtert. Wie konnte Melanie sich damit abfinden, zu Hause zu sitzen und für ihren Bruder Krepp zu tragen! Spürte sie nicht, wie das Leben mit Sporenklirren vorüberschritt? Scarlett schlug das Kissen mit Fäusten. »Sie ist nie so geliebt worden wie ich, und deshalb vermißt sie nicht, was ich vermisse. Und ... und ... außerdem hat sie Ashley, und ich habe keinen Menschen!« Und sie brach von neuem in Schluchzen aus.

In düsterer Stimmung blieb sie bis zum Nachmittag auf ihrem Zimmer. Dann kamen draußen die heimkehrenden Picknickgäste wieder vorbeigefahren, müde vor lauter Lebensfreude und Glück, und wieder winkten sie ihr zu, und sie erwiderte trübselig die Grüße. Das Leben war nicht wert, gelebt zu werden.

Die Erlösung aber kam von einer Seite, von der sie sie am wenigsten erwartet hätte. Zur Zeit des Mittagsschlafes kamen die Damen Merriwether und Elsing vorgefahren. Über den unerwarteten Besuch erschrocken, fuhren Melanie, Scarlett und Miß Pittypat in die Höhe, hakten sich rasch die Taille zu, strichen sich das Haar glatt und gingen in den Salon hinunter.

»Mrs. Bonnells Kinder haben die Masern«, sagte Mrs. Merriwether in einem Tonfall, der deutlich zu erkennen gab, daß sie Mrs. Bonell für ein derartiges Vorkommnispersönlich verantwortlich machte.

»Und die McLureschen Mädchen sind nach Virginia gerufen worden«, sagte Mrs. Elsing mit ihrer ersterbenden Stimme und fächelte sich so müde, als ginge das Folgende über ihre Kraft. »Dallas McLure ist verwundet.«

»Wie schrecklich!« riefen ihre Gastgeberinnen im Chor aus. »Ist der arme Dallas ...«

»Nein, nur ein wenig durch die Schulter«, fiel ihnen Mrs. Merriwether ins Wort. »Aber es hätte zu keiner unpassenderen Zeit geschehen können. Die Mädchen fahren nach dem Norden, um ihn nach Hause zu holen. Aber, Himmel, wir haben gar keine Zeit, hier zu sitzen und uns zu unterhalten. Wir müssen sofort zum Arsenal zurück und die Ausschmückung be enden. Pitty, wir brauchen dich und Melly heute abend. Ihr müßt Mrs. Bonnell und die McLures vertreten.«

»Aber Dolly, wir können doch nicht!«

»Pittypat Hamilton«, sagte Mrs. Merriwether energisch, »dieses Wort gibt es bei mir nicht. Ihr müßt die Schwarzen mit den Erfrischungen beaufsichtigen, das war Mrs. Bonnells Amt, und du, Melly, mußt die Bude der McLureschenMädchen übernehmen.«

»Ach, das geht doch nicht, wo der arme Charlie erst ...«

»Ich weiß, wie euch ums Herz ist, aber für die heilige Sache ist kei n 0pfer zu groß«, entschied Mrs. Elsing mit sanfter Stimme.

»Wir würden euch ja so gern helfen, aber ... könnt ihr denn nicht ein paar junge Mädchen für die Bude bekommen?«

»Ich weiß nicht«, schnaubte Mrs. Merriwether, »was die jungen Leute heutzutage haben! Jedenfalls kein Verantwortungsgefühl. Alle jungen Mädchen, die schon Buden übernommen haben, kommen mir mit mehr Ausreden, als ich Haare auf dem Kopf habe. 0h, mir machen sie nichts weis. Sie wollen sich nur ungehindert mit den 0ffizieren amüsieren, das ist alles. Sie sind bange, ihre neuen Kleider könnten hinter den Budenauslagen nicht recht zur Geltung kommen. Ich wünschte wahrhaftig, dieser Blockadebrecher ... wie heißt er doch noch?«

»Kapitän Butler«, half Mrs. Elsing nach.

»Ich wollte, er brächte mehr Lazarettbedarf und weniger Reifröcke und Spitzen herein. Wo ich auch heute ein Kleid bewundern mußte, und es waren mindestens zwanzig, alle hatte er durch die Blockade geschmuggelt. Kapitän Butler ... ich mag den Namen nicht mehr hören. Also, Pitty, wi r haben keine Zeit, länger zu reden, du mußt kommen. Im hinteren Raum sieht dich niemand, und Melly fällt ohnehin nicht auf. Die Bude liegt ganz amEnde und ist nicht sehr hübsch. Da bemerkt euch niemand.«

»Ich finde, wir sollten hingehen«, mischte sich Scarlett ein und versuchte, so harmlos wie irgend möglich auszusehen. »Es ist das mindeste, was wir für das Lazarett tun können.«

Keine der Besucherinnen war auch nur auf den Gedanken gekommen, eine Frau, die kaum ein Jahr Witwe war, bei dieser gesellschaftl ichen Veranstaltung um ihre Mitwirkung zu bitten. Sie sahen sie scharf und erstaunt an; mit großen Kinderaugen hielt Scarlett ihren Blick aus. »Ich finde, jeder hat die Pflicht, das Seine zu tun. Melly und ich könnten doch vielleicht zusammen diese Bude übernehmen, denn ... macht es nicht auch einen besseren Eindruck, wenn wir zu zweien da sind, als eine allein? Was meinst du, Melly?«

»Gott, ja«, stammelte Melly hilflos. Der Gedanke, auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung öffentlich zu erscheinen, während sie in Trauer waren, schien ihr so unerhört, daß sie damit nicht zurechtkommen konnte.

»Scarlett hat recht«, sagte Mrs. Merriwether. Sie stand auf und schüttelte den Reifrock zurecht »Ihr beide ... ihr alle müßt kommen. Nein, Pitty, fang nicht wieder mit Entschuldigungen an. Bedenk doch nur, wie dringend das Lazarett Geld braucht! Und wie lieb wäre es Charlie, wenn ihr der heiligen Sache helfen würdet, für die er starb!«

Pittypat war einer stärkeren Persönlichkeit gegenüber immer hilflos. »Wenn ihr meint, daß die Leute es richtig verstehen ...«

»Es ist zu schön, um wahr zu sein! Es ist zu schön, um wahr zu sein!« jubelte Scarletts Herz, als sie unauffällig in die rosa und gelb verhängte Bude schlüpfte, die eigentlich den McLureschen Mädchen gehörte. Sie war auf einer Gesellschaft! Nach einjähriger Abgeschiedenheit in Trauerkleidern und mit gedämpften Stimmen, nach einer Langeweile, die sie schier verrückt gemacht hatte, war sie nun wirklich auf einer Gesellschaft, der größten, die Atlanta je erlebt hatte. Sie konnte wieder Leute sprechen, durfte Lichter sehen und mit eigenen Augen die entzückenden Spitzen, Kleider und Rüschen betrachten, die der berühmte Kapitän Butler auf seiner letzten Fahrt durch die Blockade geschmuggelt hatt e.

Sie sank auf einen der kleinen Hocker hinter der Auslage der Bude und blickte den langen Saal entlang, der noch vor kurzem ein kahler Exerzierraum gewesen war. Wie mußten die Damen heute noch gearbeitet haben, um ihn schön zu machen! Jeder Leuchter und jede Kerze aus ganz Atlanta schienen heute abend hier aufgestellt zu sein. Silberne Leuchter mit einem Dutzend gespreizter Arme, Porzellankandelaber mit zierlichen Figürchen am Fuße, hohe würdige Messingleuchter, alle mit Kerzen von jeder Größe und Farbe versehen, waren auf den Gewehrständern, an den Wänden, auf den langen blumengeschmückten Tischen und sogar vor den offenen Fenstern aufgestellt, durch die die warme Sommerluft gerade kräftig genug hereinwehte, um die Flämmchen ins Flackern zu bringen. Die häßliche Riesenlampe, die in der Mitte der Halle an rostigen Ketten von der Decke herabhing, war mit Efeu und Weinlaub, das in der Hitze schon schlaff wurde, völlig verkleidet worden. Die Wände waren ebenfalls über und über mit würzig duftenden Kiefernzweigen bedeckt, in den Ecken hatte man hübsche Lauben für die alten Damen entstehen lassen. Um die Fensterrahmen und die bunten Buden schlangen sich zierliche Laubgewinde, und inmitten des Grüns prangten überall auf Flaggen und Fahnentüchern die hellen Sterne der Konföderierten auf ihrem rotblauen Hintergrund. Besonders kunstvoll war das erhöhte Podium für die Musik geschmückt: alle Topfund Kübelpflanzen der Stadt waren hier zusammengetragen worden, Geranien, Hortensien, 0leander, Begonien und sogar Mrs. Elsings ängstlich gehütete Gummibäume, die als Ehrenposten an den vier Ecken aufgestellt waren.

Am anderen Ende des Saales, dem Podium gegenüber, hingen große Bildnisse von Präsident Davis und Georgias eigenem »Little- Alec« Stephens, dem Vizepräsidenten der Konföderierten Staaten. Über ihnen prangte ein Riesenbanner, und darunter lag auf langen Tischen alles, was die Gärten nur hatten hergeben können, Farne, Haufen von roten, gelben und weißen Rosen, stolze Sträuße goldgelber Gladiolen, bunte Kapuzinerkresse, hohe steife Stockmalven, die ihre rotbraunen und rahmweißen Köpfe über die anderen Blumen erhoben. Dazwischen brannten helle Kerzen wie auf einem Altar. Die beiden Gesichter blickten von den Bildern auf das Schauspiel herab. Es waren zwei so verschiedene Gesichter, wie sie zwei Männer am Steuer eines so folgenschweren Unternehmens nur haben konnten: Davis mit den eingefallenen Wangen und kalten Augen eines Asketen, die schmalen, stolzen Lippen fest aufeinandergepreßt; Stephens mit tiefliegenden, dunkel glühenden Augen in einem Antlitz, das nur von Krankheit und Schmerz wußte, ihrer aber mit Humor und Feuer Herr geworden war - zwei Gesichter, die sehr geliebt wurden. Nun kamen die ältlichen Komiteedamen, in deren Händen die ganze Verantwortung für die Veranstaltung ruhte, wie mit vollen Segeln hereingerauscht und trieben die verspäteten jungen Frauen und kichernden Mädchen auf ihre Plätze in den Buden, dann wogten sie durch die Türen in die hinteren Räume, wo die Erfrischungen angerichtet wurden - Tante Pitty keuchend hinter ihnen her. Die Musikanten kletterten auf ihr Podium, eine schwarze grinsende Gesellschaft, die fetten Gesichter glänzten schon von Schweiß. Sie begannen ihre Geigen zu stimmen und strichen und lärmten mit ihren Bogen im Vorgefühl ihrer Wichtigkeit. Der alte Levi, Mrs. Merriwethers Kutscher, der seit der Zeit, da Atlanta noch Marthasville hieß, auf jedem Basar und auf jedem Ball das 0rchester dirigierte, klopfte geräuschvoll mit dem Bogen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aller Augen wendeten sich ihm zu. Dann fingen die Geigen, Bratschen, Akkordeons und Banjos unter Begleitung der Schlagzeuge an, »Lorena« zu spielen, vorerst noch zum Tanzen zu langsam. Der Tanz sollte erst später beginnen, wenn die Buden leergekauft waren. Scarlett schlug das Herz rascher, als die süße Schwermut des Walzers an ihr 0hr klang:

»Langsamschwinden die Jahre, Lorena!

Auf den Feldern liegt wieder der Schnee.

Schon tief steht die Sonne amHimmel, Lorena ...!«

Eins, zwei, drei; eins, zwei, drei; tiefe Verbeugung und drehen drei; eins, zwei, drei. Was für ein herrlicher Walzer! Sie breitete die Arme aus, schloß die Augen und wiegte sich in dem traurigen Rhythmus, der einen nicht wieder losließ. In der schwermütigen Melodie von Lorenas verlorener Liebe lag etwas, was sich mit ihrer eigenen Erregung verschmolz und ihr beklemmend in die Kehle stieg.

Dann drangen, als hätte die Walzermusik sie hereingeholt, Klänge von der schattigen, mondbeschienenen Straße herauf: Pferdegetrappel und Wagenrollen, getragen von der warmen, lieblichen Luft, viel frohes Gelächter, Stimmen der Farbigen in ihrer eigentümlich weichen Schärfe, die sich um die Plätze zum Anbinden der Pferde stritten. Von der Treppe her hörte man die frischen Stimmen der Mädchen, die sich mit den Bässen ihrer Begleiter vermischten, muntere Ausrufe der Begrüßung und des freudigen Wiedererkennens. Plötzlich kam Leben in den Saal, die Mädchen erschienen in ihren schmetterlingsbunten Kleidern mit riesigen Reifröcken und Spitzenhöschen, die darunter hervorlugten; kleine, runde, nackte Schultern, zarteste Ansätze ferner, weicher Brüste unter Spitzenrüschen, leicht über den Arm geschlagene Schals, Fächer aus Schwanendaunen und Pfauenfedern, die an Samtbändern von zierlichen Handgelenken herabhingen. Mädchen mit schlicht über den 0hren zurückgestrichenen Haaren, die hinten zu so schweren Knoten geschlungen waren, daß die Köpfe sich in herrischer Gebärde zurückbogen, Mädchen mit blonden Locken um schlanke Nacken und schweren goldenen 0hrgehängen dazwischen. Geschmuggelte Seiden, Spitzen, Borten und Schleifen, alles um so stolzer getragen, als es den Yankees zum Hohn die Blockade durchbrochen hatte.

Nicht alle Blumen der Stadt waren den beiden Führern der Konföderierten Staaten als Tribut dargebracht worden. Mit den allerfeinsten, allerduftigsten Blüten waren diese jungen Mädchen geschmückt. Teerosen staken hinter rosigen 0hren, Jasmin und Rosenknospen hingen in kleinen Girlanden über fallenden Seidenlocken. Blüten wurden sittsam in Atlasschärpen getragen und fanden, noch ehe die Nacht zu Ende ging, ihren Weg als kostbare Andenken in die Brusttaschen grauer Uniformen. In diesen Uniformen waren viele Männer erschienen, die Scarlett vom Lazarett, von der Straße oder vom Exerzierplatz her kannte. Es waren prächtige Waffenröcke mit blanken Knöpfen und funkelnden Goldtressen an Aufschlägen und Kragen; vorzüglich hoben sich von dem Grau der Hosen die roten, gelben und blauen Streifen der verschiedenen Waffengattungen ab. Die breiten Fransen der rot- goldenen 0ffiziersschärpen glitzerten im vielfachen Licht der Kerzen, schimmernde Degen klappten gegen Lackstiefel, Sporen rasselten und klirrten.

»Was für gutaussehende Männer!« dachte .Scarlett in freudiger Erregung, als die Begrüßungen begannen. Trotz der schwarzen und braun en Vollbärte sahen sie alle so jung und unbekümmert aus, mit dem Arm in der Schlinge oder dem erschreckend weißen Kopfverband über dem sonnenverbrannten Gesicht. Einige kamen an Krücken - wie sorgsam paßten ihrem Humpeln die Mädchen den Schritt an! Eine Un iform beschämte durch ihre Farbenpracht den buntesten Putz der Damen und stach aus dem Schwärm wie ein tropischer Vogel hervor. Es war ein Zuave aus Louisiana mit blau und weiß gestreiften Pluderhosen, elfenbeinfarbenen Gamaschen und einem enganliegenden roten Jäckchen - ein dunkler, grinsender kleiner Affe von Mann mit dem Arm in einer schwarzen Seidenschlinge. Das war Maybelle Merriwethers bevorzugter Verehrer, Rene Picard. Das ganze Lazarett war offenbar hier, wenigstens jeder, der gehen konnte, alle Urlauber, alle vom Eisenbahnund Postdienst, von den Sanitäts und Requirierungskommandos zwischen hier und Macon. Wie mußten sich die Komiteedamen freuen! Das Lazarett mußte eine Unsumme von Geld dabei einnehmen.

Von der Straße herauf erscholl Trommelwirbel. Ein Signalhorn ertönte, eine Baßstimme kommandierte: »Rührt euch!« Darauf erdröhnte die schmale Treppe unter den Tritten der Landwehr und des Landsturms, deren bunte Uniformen sich nun gleichfalls in den Saal ergossen. Hier gab es blutjunge Burschen, die sich gelobt hatten, nächstes Jahr um diese Zeit in Virginia zu sein, falls der Krieg so lange dauerte, und alte weißbärtige Männer, die sich wünschten, jünger zu sein, und doch stolz waren, Uniform zu tragen, stolz in dem Abglanz ihrer Söhne an der Front. Unter den Landsturmleuten aber erblickte man vereinzelt auch Männer in felddienstfähigem Alter, die nicht ganz so unbefangen einhergingen wie die Knaben und Greise. Schon begann es um sie her zu tuscheln und zu fragen, warum sie nicht bei General Lee an der Front seien.

Wie sollten sie nur alle in diesem Saal Platz finden! Noch ein paar Minuten vorher hatte er so groß und leer ausgesehen, und nun war er gedrängt voll. Warme sommerliche Düfte erfüllten ihn: Eau de Cologne, Riechwasser, Pomade und brennende Wachskerzen, Blumenduft und schwacher Staub von dem Tritt so vieler Füße auf den alten verbrauchten Dielen. In dem Lärm und Durcheinander der Stimmen war fast nichts mehr zu verstehen, und als spürte der alte Levi die freudige Erregung des Augenblicks, brach er »Lorena« mitten im Takt ab, gab ein lautes Klopfzeichen mit dem Bogen, und das 0rchester spielte, als ginge es ums Leben, die »Schöne blaue Flagge«. Hunderte stimmten ein, sangen mit, jubelten das Lied wie einen einzigen Hochruf. Der Hornist des Landstu rms stieg auf die Plattform und fiel ein, gerade als der Refrain begann, und die hohen Silbertöne stiegen über den Massengesang hinaus, daß es allen durch Mark und Bein ging, auf nackten Armen die Gänsehaut ausbrach und die Erregung kalte Schauer das Rückgrat hinunterjagte:

»Hurra, hurra! Für das Recht des Südens! Für die schöne blaue Flagge, hurra! Nur ein Stern ziert sie, hurra!«

Dröhnend stimmten sie den zweiten Vers an. Scarlett hörte, während sie mitsang, wie hinter ihr Melanies hoher süßer Sopran ebenso klar und eindringlich wie der Silberklang des Horns aufstieg. Sie drehte sich um und sah Melly mit geschlossenen Augen und auf der Brust gefalteten Händen dastehen. Feine Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Als die Musik aufhörte, lächelte sie Scarlett seltsam zu, verzog ein wenig den Mund, als ob sie sich entschuldigen wollte, während sie sich mit dem Taschentüchlein die Augen abtupfte. »Ich bin so glücklich«, flüsterte sie, »und so stolz auf die Soldaten, daß ich weinen muß.« In ihren Augen leuchtete eine tiefe, fanatische Glut, die ihr unscheinbares Gesichtchen überstrahlte und verschönte.

Als das Lied zu Ende war, lag derselbe Glanz auf den Gesichtern aller Frauen, Tränen des Stolzes auf rosigen wie auf runzligen Wangen, ein Lächeln auf den Lippen und in den Augen heiße Glut, wenn sie ihre Männer ansahen, die Liebste den Geliebten, die Mutter den Sohn, die Gattin den Gatten. Alle hatten teil an jener Schönheit, die auch die unscheinbarste Frau verklärt, wenn sie sich ganz und gar geliebt und beschützt fühlt und die Liebe tausendfältig zurückgibt. Sie liebten die Männer ihres Vaterlandes, sie glaubten an sie und vertrauten ihnen bis zum letzten Atemzug. Wie konnte denn der Heimat ein Unglück widerfahren, wenn diese hochgemute graue Mauer der heldenhaftesten und ritterlichsten Männer, die je auf der Welt gelebt hatten, sich zwischen ihr und den Yankees erhob! Aller Herzen waren übervoll von Hingabe und Stolz, übervoll von der gerechten Sache der Konföderierten, deren endgültiger Sieg zum Greifen nahe war. »Stonewall« Jacksons Erfolge im Shenandoahtal und die Niederlage der Yankees in der siebentägigen Schlacht um Richmond ließen daran keinen Zweifel. Wie konnte das bei solchen Heerführern wie Lee und Jackson auch anders sein? Noch ein Sieg, dann lagen die Yankees am Boden und bettelten um Frieden. Dann kamen die Männer nach Hause geritten, und dann war des Küssens und Lachens kein Ende. Noch ein Sieg, und der Krieg war aus.

Freilich stand mancher Stuhl leer, mancher Säugling sollte die väterlichen Züge nie zu Gesicht bekommen, manches namenlose Grab lag an einsamen Bächen in Virginia und in den stillen Bergen von Tennessee. Aber war denn solcher Preis für die heilige Sache zu hoch? Daß Seidenstoffe und Genußmittel schwer zu haben waren, darüber lachte man nur. Außerdem brachten die schneidigen Blockadebrecher vor der Nase der Yankees manches herein, und das machte seinen Besitz doppelt aufregend. Bald würden Raphael Semmes und die konföderierte Flotte sich etwas näher mit den Kanonenbooten der Yankees befassen, und dann standen die Häfen wieder weit offen. Überdies mußte England den Südstaaten zu Hilfe kommen, denn dort standen die Spinnereien still, solange sie keine Baumwolle erhielten. Natürlich stand auch der britische Adel auf seilen der Konföderierten, wie eben Aristokraten gegen ein Gesindel von Geldmachern zusammenhielten.

So ließen denn die Frauen ihre Seide rauschen und empfanden die doppelte Süßigkeit der Liebe im Angesicht von Tod und Gefahr. Scarletts Herz pochte in der stürmischen Erregung, endlich wieder unter Menschen zu sein. Aber der Ausdruck einer schwärmerischen Begeisterung auf allen Gesichtern, die sie nicht teilte und nur halb verstand, dämpfte ihre Freude. Der Saal schien ihr nicht mehr so schön, die Mädchen nicht mehr so elegant, als ihr der Gedanke kam, daß all diese Glut der Hingabe auf jedem Antlitz vergeblich und ... albern sei.

Voller Entsetzen sagte sie sich: »Nein, nein! So etwas darfst du nicht denken, das ist unrecht, das ist Sünde!« Aber doch war ihr klargeworden , daß die große heilige Sache ihr nichts bedeutete. Es langweilte sie nur, wenn alle Menschen mit fanatischem Blick in den Augen davon sprachen. Der Krieg kam ihr durchaus nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas sehr Lästiges und Sinnloses vor. Ihr wurde klar, wie müde sie des endlosen Strickens, des Bindenrollens und Scharpiezupfens war, von dem ihre Fingerspitzen rauh wurden. Ach, und das Lazarett hatte sie so satt! Es machte sie elend und krank mit seinen ekelerregenden Gerüchen und dem endlosen Gestöhn. Der Ausdruck nahenden Todes auf den eingefallenen Gesichtern war ihr fürchterlich.

Verstohlen blickte sie sich um, voller Sorge, es möchte jemand in ihrem Gesicht lesen, was in ihrer Seele vorging. Warum konnte sie nicht wie die anderen Frauen empfinden? Sie alle meinten wirklich von ganzem Herzen, was sie sagten und taten, sie aber mußte die Begeisterung und den Stolz, den sie nicht empfinden konnte, spielen; mußte die Maske der Kriegerwitwe anlegen, die ihren Schmerz tapfer trägt, während ihr Herz im Grabe liegt; die davon durchdrungen ist, daß ihres Mannes Tod nichts gegen den Sieg der großen heiligen Sache bedeutet. Ach, wie einsam sie sich fühlte, sie, die doch niemals zuvor einsam gewesen war! Anfangs versuchte sie, sich selber über ihre Empfindungen zu täuschen, aber die harte Ehrlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war, ließ es nicht zu, und während dieses Wohltätigkeitsfest seinen Gang ging, war ihr Geist emsig beschäftigt, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, eine Aufgabe, die ihr selten schwerfiel. Alle andern Männer und Frauen schienen ihr wie benebelt von ihrer Vaterlandsliebe; sie allein, Scarlett 0'Hara-Hamilton, hatte den klaren irischen Verstand, der sich nicht bestechen ließ; aber keiner durfte je die Nüchternheit ihrer Anschauungen erfahren! Welche Empörung würde es hervorrufen, wenn sie plötzlich aufs Podium spränge und sagte, der Krieg möge aufhören, damit sie alle wieder heimkehren und sich um ihre Baumwolle kümmern könnten, damit es wieder Gesellschaften und Verehrer und blaßgrüne Kleider in Hülle und Fülle gäbe!

Für einen Augenblick blickte sie angewidert und voller Hochmut auf das Treiben rings um sie her. Ihre Bude war unauffällig gelegen, selten nur kam jemand daran vorbei, und Scarlett konnte nichts anderes tun als den fro hen Schwarm von weitem betrachten. Melanie, die ihre Mißstimmung bemerkte, sie aber der Sehnsucht nach Charlie zuschrieb, beschäftigte sich damit, die Waren in ihrer Auslage schöner zu verteilen, während Scarlett mürrisch in den Saal blickte und sogar an den vielen Blumen unter den Bildern von Davis und Stephens nichts als Mißfallen fand. »Wie ein Altar sieht es aus«, dachte sie abfällig. »Die beiden könnten fast Gott, Vater und Sohn, darstellen!« Erschrocken über ihren eigenen Einfall bekreuzigte sie sich verstohlen, verfolgte den Gedanken aber doch weiter. Die Leute machten so viel Wesens von den beiden, als seien sie Heilige, und dabei waren es doch nur Menschen, und sie sahen nicht einmal gut aus. Natürlich konnte Stephens nicht dafür, daß er sein Leben lang krank gewesen war; aber Davis' stolzes Gesicht mit den reinen, scharfgeschnittenen Zügen verdroß sie wegen seines Ziegenbartes, und sie sah nicht darin die klare kalte Intelligenz, die die Bürde einer neuen Nation trug. Scarlett fühlte sich nicht glücklich, denn niemand achtete ihrer. Sie war hier die einzige junge, nicht verheiratete Frau, die keinen Verehrer hatte. Sie war siebzehn Jahre alt, ihre Füße wollten tanzen und springen. Sie hatte einen Mann auf dem Friedhof von 0akland liegen und ein kleines Kind in der Wiege bei Tante Pittypat, und jeder meinte, sie könnte mit ihrem Los zufrieden sein, und es half ihr nichts, daß ihre Brust weißer, ihre Taille schlanker, ihre Füße zierlicher waren als bei irgendeinem anderen Mädchen. Sie war nicht alt genug, um Witwe zu sein, und doch mußte sie hier in vorbildlicher Witwenwürde sitzen und ihre Stimme dämpfen und ihre Augen verschämt niederschlagen, wenn Herren an ihre Bude traten. Sie kam sich in dem heißen schwarzen Taft, der kaum ihre Handgelenke freiließ und bis ans Kinn zugeknöpft war, wie eine Krähe vor und mußte geduldig zusehen, wie so viele unscheinbare Mädchen sich gutaussehenden Männern an den Arm hängten. Und alles, weil Charles die Masern gehabt hatte. Nicht einmal den Heldentod in der Schlacht war er gestorben, womit sie wenigstens noch hätte prahlen können. Gereizt stützte sie die Ellbogen auf den Auslagentisch und sah herausfordernd in die Menge. Was scherte es sie, daß Mammy sie so oft ermahnt hatte, die Ellbogen nicht aufzustützen, damit sie nicht runzlig würden! Was lag daran, wenn sie häßlich würden? Wahrscheinlich bekam sie doch nie wieder Gelegenheit, sie zu zeigen. Begehrlich betrachtete sie die Menge. Maybelle Merriwether ging am Arm des Zuaven an der nächsten Bude vorbei. Sie trug ein apfelgrünes Tarlatankleid, übersät von elfenbeinfarbenen Chantillyspitzen, die mit dem letzten Blockadezug aus Charleston gekommen waren, und protzte so damit, als hätte sie selbst und nicht der berühmte Kapitän Butler die Blockade durchbrochen.

»Wie süß müßte ich darin aussehen! Sie hat eine Taille wie eine Kuh. Das Grün ist meine Farbe, meine Augen würden darin ... Warum versuchen Blondinen überhaupt, diese Farbe zu tragen! Ihre Haut sieht darin grün wie Käse aus. Ach, wenn ich denke, daß ich die Farbe nie wieder tragen darf, selbst dann nicht, wenn die Trauer vorüber ist! Dann werde ich altes, verstaubtes Grau und Braun und Lila tragen müssen. War es nicht ein furchtbarer Unsinn, die ganze Mädchenzeit hindurch zu lernen, wie man Männer gewinnt, und seine Fähigkeiten dann nur ein oder zwei Jahre gebrauchen zu dürfen?« Wenn sie über ihre Erziehung unter Ellens und Mammys Augen nachdachte, so wußte sie, daß sie gründlich und gut gewesen war, denn der Erfolg war nie ausgeblieben. Wie unfehlbar und zuverlässig waren die festen Regeln dieser Erziehung! Mit alten Damen war man lieb und arglos und schlicht, um ihre scharfen, mißtrauischen Blicke zu entwaffnen. Mit alten Herren mußte man schlagfertig und keck sein und schon fast ein wenig liebäugeln, doch nur so viel, daß es ihre Eitelkeit kitzelte. Dann fühlten sie sich wieder jung und kniffen einen in die Wangen. Natürlich mußte man alsdann erröten, sonst taten sie es ärger als schicklich war und erzählten ihren Söhnen, man sei flott. Mit jungen Mädchen floß man über vor Liebe und küßte sie jedesmal, wenn man sie sah, und wäre es zwanzigmal am Tag. Man bewunderte unterschiedslos ihre neuen Kleider, neckte sie wegen ihrer Verehrer und sagte nie, was man wirklich dachte. Die Männer anderer Frauen ließ man gänzlich ungeschoren, um nicht ins Gerede zu kommen. Aber mit den jungen unverheirateten Männern war das eine andere Sache! Ihnen konnte man leise zulachen, mit den Augen konnte man viel Aufregendes versprechen, bis der Mann Himmel und Erde in Bewegung setzte, um mit einem allein zu sein. War man aber allein, so konnte man tiefgekränkt oder sehr böse sein, wenn er zu küssen versuchte. Man konnte ihn dann dazu bringen, sich zu entschuldigen, daß er sich wie ein Schuft benommen habe, und ihm so lieb verzeihen, daß es ihm den Kopf vollends verdrehte. Manchmal ließ man sich auch küssen. Dann weinte man hernach und behauptete, nicht zu wissen, was über einen gekommen sei, und nun könne er wohl nie wieder Achtung vor einem haben. Dann trocknete er einem die nassen Augen und machte meistens einen Heiratsantrag, um so seine Achtung gleich zu beweisen. 0h, wieviel ließ sich doch mit Junggesellen anfangen! Und Scarlett beherrschte alle Schattierungen des Seitenblicks und des halben Lächelns, des Wiegens in den Hüften, sie beherrschte die Tränen, die Ausgelassenheit, die Schmeichelei, das süße Mitgefühl. Sie beherrschte sie alle, die Künste und Kniffe, die nie versagten - außer bei Ashley.

Sie wurde in ihren Träumen unterbrochen, als die Menge sich gegen die Wände zu drängen begann. Scarlett hob sich auf die Zehenspitzen und sah über die Köpfe hinweg den Hauptmann des Landsturms auf das 0rchesterpodium steigen. Er rief einige Kommandos in den Saal, und eine halbe Kompanie trat an. Dann gab es einige Minuten scharfen Drill zu sehen, der den Männern den Schweiß in die Stirnen trieb und bei den Zuhörern Beifall und Hochrufe erntete. Auch Scarlett klatschte pflichtschuldigst in die Hände, und als die Soldaten nach dem Wegtreten zu den Punschund Limonadenbuden drängten, wandte sie sich an Melanie: »Wie schön sie aussahen, nicht wahr?«

Melanie machte sich an ihren Strickwaren in der Auslage zu schaffen und antwortete, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Stimme zu dämpfen: »Die meisten würden sich in Virginia und in grauer Uniform noch sehr viel schöner ausmachen.«

Mehrere stolze Mütter von Landsturmleuten standen ganz in der Nähe und hörten die Bemerkung. Mrs. Guinan wurde purpurrot und dann bleich. Ihr fünfundzwanzigjähriger Willie war bei der Kompanie.

Scarlett war entgeistert, solche Worte aus Mellys Mund zu hören. »Aber Melly!«

»Du weißt, Scarlett, daß es wahr ist. Ich meine nicht die kleinen Jungens und die alten Herren, aber eine Menge Landsturmleute sind sehr wohl in der Lage, ein Gewehr zu tragen, und sollten es auf der Stelle tun.«

»Aber ... aber ...«, fing Scarlett an, die noch nie darüber nachgedacht hatte. »Jemand muß doch zu Hause bleiben, um ...« Was hatte ihr Willie Guinan doch noch erzählt, um seine Anwesenheit in Atlanta zu entschuldigen? »Jemand muß doch zu Hause bleiben, um den Staat vor feindlichen Einfallen zu schützen.«

»Kein Feind fällt bei uns ein«, sagte Melly kühl und schaute zu ein paar Landsturmleuten hinüber. »Die beste Art, die Grenzen zu schützen, ist, nach Virginia zu gehen und dort die Yankees zu schlagen. Und all das Gerede, der Landsturm müsse hierbleiben, um einen Aufstand der Farbigen zu verhüten, nun, das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Das ist nur eine Ausrede für Feiglinge. Ich wette, wir würden mit den Yankees in einem Monat fertig, wenn der Landsturm aller Staaten nach Virginia ginge!«

»Aber Melly!« Scarlett sah sie noch immer fassungslos an. In Mellys sanften Augen blitzte es zornig auf.

»Mein Mann hatte keine Angst hinauszugehen, und auch deiner nicht. Mir wäre lieber, beide wären tot, als hier zu Hause ... Ach, Liebling, sei nicht böse. Wie gedankenlos von mir!« Bittend strich sie Scarlett, die sie groß ansah, über den Arm. Scarlett dachte gar nicht an Charlie, sie dachte an Ashley. Wenn er nun auch stürbe? Rasch wandte sie sich um und lächelte mechanisch, als Dr. Meade auf ihre Bude zugeschritten kam.

»Na, ihr Mädel«, begrüßte er sie, »schön, daß ihr gekommen seid. Ich weiß, welche Überwindung es euch gekostet haben mag. Aber alles für die gute Sache! Ich will euch ein Geheimnis sagen. Ich habe eine Überraschung vor, mit der ich noch mehr Geld für das Lazarett einnehmen will. Aber ich fürchte, einige von den Damen werden Anstoß daran nehmen.« Er hielt inne und zupfte an seinem grauen Spitzbart.

»Was denn, was? Bitte erzählen!«

»Nein, ich glaube, ich lasse es euch lieber raten, ihr werdet schon sehen. Aber ihr Mädchen müßt für mich eintreten, wenn die Kirchenvorstände mich deshalb aus der Stadt jagen wollen.« Feierlich schritt er auf eine Gruppe Chaperons in einer Ecke zu, und gerade, als die beiden Mädchen die Köpfe zusammengesteckt hatten, um herauszubekommen, was er wohl vorhaben könnte, kamen zwei ausgelassene alte Herren schnurstracks auf die Bude zu und verlangten mit lauter Stimme zehn Ellen Spitzen. Scarlett begann abzumessen und ließ es geschehen, daß man sie unters Kinn faßte. Dann zogen die beiden ab, und hin und wieder nahm ein anderer ihren Platz vor der Auslage ein. So viel Kunden hatten sie nicht wie die andern Buden, wo Maybelle Merriwethers gurrendes Lachen und Fanny Elsings Kicher n erklang und die schlagfertigen Antworten der Whitingschen Mädchen allgemeine Lustigkeit erregten. Ruhig und gelassen wie ein Ladenbesitzer verkaufte Melly unnützes Zeug an Männer, die nie irgendeinen Gebrauch davon machen konnten, und Scarlett suchte es ihr gleichzutun. Einige Male erzählten Käufer, daß sie mit Ashley auf der Universität gewesen waren und was für ein ausgezeichneter Soldat er sei, oder sie sprachen voller Hochachtung von Charles, und welchen Verlust sein Tod für Atlanta bedeute. Dann schmetterte die Musik die ausgelassene Melodie »Johnny Booker, hilf dem Farbigen!«. Scarlett hätte schreien mögen. Sie wollte tanzen! Sie blickte über den Tanzboden hin und klopfte mit dem Fuß den Takt. Ihre grünen Augen schillerten lebenshungrig. Auf der andern Seite des Saales bemerkte ein Mann, der soeben in die Tür getreten war, den Blick dieser schrägen Augen in dem rebellischen Gesicht, erkannte sie und stutzte. Dann lächelte er vor sich hin, denn er entzifferte in ihnen, was jedes männliche Wesen sofort zu entziffern vermag.

Er war hochgewachsen, trug einen eleganten schwarzen Tuchanzug und überragte alle Umstehenden. Seine Schultern waren von gewaltiger Breite, aber nach der Taille zu wurde er immer schlanker bis hinunter zu den auffallend kleinen Füßen in Lackstiefeln. Seine gepflegte Kleidung stach wunderlich von der Strenge seiner ganzen Erscheinung und besonders seines Gesichtes ab. Das war die Kleidung eines Dandys auf einem Athletenkörper. Er hatte kohlschwarzes Haar und einen kurzgeschnittenen Schnurrbart, der neben den martialischen Schnauzbärten der Kavallerieoffiziere fast fremdartig anmutete. Er trug eine gelassene, überlegene Unverschämtheit zur Schau. In dem frechen Blick, mit dem er Scarlett ansah, funkelte es boshaft, bis sie den Blick endlich spürte und zu ihm hinblickte. Einen Augenblick lang konnte sie sich nicht darauf besinnen, wer er war. Als er sich verbeugte, grüßte sie wieder, aber als er sich mit seinem eigentümlich geschmeidigen, indianerhaften Gang zu ihr aufmachte, fuhr die Hand vor Entsetzen zum Mund. Sie wußte nun, wer er war, und stand wie vom Blitz getroffen, während er sich durch die Menge Bahn brach. Dann machte sie blindlings kehrt und wollte in die Erfrischungsräume entfliehen, aber ihr Rock verfing sich an einem Nagel. Wütend riß sie sich los, da stand er schon neben ihr.

»Erlauben Sie«, sagte er höflich, beugte sich vor und brachte ihre Rüschen in 0rdnung. »Ich hatte kaum gehofft, Miß 0'Hara, daß Sie mich wiedererkennen würden.«

Es war die schön modulierende Stimme eines Gentleman, klangvoll und doch belegt, in der trägen, verschliffenen Mundart Charlestons. Sie war ihrem 0hr eigentümlich angenehm. Hochrot vor Scham über ihr letztes Zusammentreffen blickte sie zu ihm auf und sah die kohlschwarzen Augen in erbarmungsloser Lustigkeit sprühen. Daß unter allen Menschen gerade dieser hier auftauchen mußte, der Zeuge ihrer Demütigung gewesen war, der abscheuliche Lump, der Mädchen zugrunde richtete und bei anständigen Leuten nicht empfangen wurde! Der verächtliche Kerl, der ihr - mit Recht - gesagt hatte, sie sei keine Dame.

Beim Klang seiner Stimme wandte Melanie sich um, und zum ersten Male in ihrem Leben dankte Scarlett Gott für die Existenz ihrer Schwägerin. »Aber ist das nicht Mr. Rhett Butler?« sagte Melanie und streckte läc helnd die Hand aus. »Ich sah Sie ...«

»... an dem frohen Abend, als Ihre Verlobung verkündet wurde«, vollendete er und beugte sich über ihre Hand. »Es ist sehr liebenswürdig, daß Sie sich meiner entsinnen.«

»Und was machen Sie so weit von Charleston entfernt, Mr. Butler?«

»Langweilige Geschäfte, Mrs. Wilkes. Aber ich werde jetzt öfter in dieser Stadt ein und aus gehen. Es hat sich herausgestellt, daß ich die Ware nicht nur hereinbringen, sondern mich auch darum kümmern muß, was weiterhin damit geschieht.«

»Hereinbringen ...?« Melly zog die Stirn kraus. Aber dann strahlte sie auf: »Was, Sie müssen ja der berühmte Kapitän Butler sein, der Blockadebrecher, von dem wir soviel gehört haben! Jedes Mädchen trägt ja ein Kleid, das Sie hereingebracht haben. Scarlett, ist das nicht interessant? ... Aber was ist dir denn? Ist dir nicht wohl?«

Scarlett sank auf den Hocker. Ihr Herz klopfte rasch. Daß etwas so Schreckliches ihr widerfahren mußte! Sie hatte gehofft, den Mann nie wiederzusehen. Er ergriff ihren schwarzen Fächer und begann, sie mit ernstem Gesicht, aber immer noch funkelnden Augen zu fächeln. »Es ist recht warm hier drinnen«, sagte er, »kein Wunder, daß Miß 0'Hara sich nicht wohl fühlt. Darf ich Sie ans Fenster führen?«

»Nein!« sagte Scarlett so abweisend, daß Melly große Augen machte.

»Sie ist nicht mehr Miß 0'Hara«, sagte Melly. »Sie heißt Mrs. Hamilton und ist meine Schwester.«

Scarlett hatte das Gefühl, als lege sich der Ausdruck in Kapitän Butlers wettergebräuntem Piratengesicht wie eine Klammer umihren Hals.

»Damit haben zwei reizende Damen gewiß sehr viel gewonnen.« Das war eine der üblichen Bemerkungen, die alle Herren machten; die Art aber, in der er es sagte, ließ es ihr so klingen, als meine er das Gegenteil.

»Ihre Gatten sind doch heute bei einem so glücklichen Anlaß zugegen? Es würde mir eine Freude sein, meine Bekanntschaft mit ihnen zu erneuern.«

»Mein Mann ist in Virginia.« Melly hob stolz den Kopf. »Aber Charles ...«

»Er ist im Ausbildungslager gestorben«, sagte Scarlett nüchtern, bei nahe barsch. Wollte denn der Mensch nicht wieder fortgehen? Melly sah sie betroffen an, und der Kapitän erwiderte mit einer Miene aufrichtigen Bedauerns: »Meine lieben, verehrten Damen, wie konnte ich nur ...! Verzeihen Sie mir; doch erlauben Sie einem Fremden, Ihnen zum Trost zu sagen, daß der Tod fürs Vaterland ewiges Leben verheißt.«

Melanie lächelte ihm durch schimmernde Tränen zu, aber in Scarletts Innern nagte ohnmächtiger Haß. Wieder harte er eine höfliche Bemerkung gemacht, wie jeder Gentleman sie machen konnte, aber sie wußte, daß er sie dabei verhöhnte. Ihm war ja bekannt, daß sie Charles nicht geliebt hatte. Melly war zum Glück dumm genug, ihn nicht zu durchschauen. Gott mochte verhüten, daß ihn jemals jemand durchschaute! 0b er wohl ausplauderte, was er wußte? Er war ja kein Gentleman! Sie sah, daß seine Mundwinkel in spöttischem Mitgefühl herabgezogen waren, während er ihr immer noch zufächelte. In einer Aufwallung des Abscheus riß sie ihm den Fächer aus der Hand.

»Mir ist sehr wohl«, sagte sie, »Sie brauchen mir nicht das Haar in Unordnung zu bringen.«

»Scarlett, Liebling! Kapitän Butler, Sie müssen ihr verzeihen, sie ist nicht mehr sie selbst, sobald von dem armen Charlie die Rede ist. Wir hätten beide heute abend nicht herkommen sollen. Sehen Sie, wir sind noch in Trauer, und all die Lustigkeit und die Musik strengt das arme Kind sehr an.«

»Ich verstehe vollkommen«, sagte er mit betonter Zurückhaltung. Als er aber auf Melanie einen forschenden Blick warf und ihren klaren Augen bis auf den Grund schaute, verwandelte sich sein Ausdruck. Verhaltene Achtung und Zartheit zogen über sein dunkles Gesicht. »Sie sind eine mutige kleine Frau, Mrs. Wilkes.« Scarlett war empört, daß er sie in das Kompliment nicht mit einschloß; Melanie lächelte verschäm t.

»Du meine Güte, nein, Kapitän Butler! Das Lazarettkomitee brauchte uns im letzten Augenblick für diese Bude ... ein Kissenbezug gefällig? Hier ist ein sehr schöner, mit einer Flagge darauf.« Sie wandte sich an drei Kavalleristen, die vor ihrer Auslage auftauchten. Einen Augenblick schoß es Melanie durch den Sinn, wie nett Kapitän Butler doch sei. Dann kam ihr der Wunsch dazwischen, es möchte eine festere Schutzwand als der dünne Dekorationsstoff zwischen ihrem Rock und dem Spucknapf sein, der gerade an der Außenseite ihrer Bude stand: mit ihrem bernsteinfarbenen Tabaksaft zielten die Reiter nicht immer so unfehlbar wie mit ihren langen Sattelpistolen. Dann vergaß sie den Kapitän, Scarlett und den Spucknapf über anderen Kunden, die sich herandrängten. Scarlett saß still auf ihrem Hocker und wagte nicht aufzublicken. Sie wünschte Butler zurück an das Deck seines Schiffes, wohin er gehörte.

»Ist Ihr Mann schon lange tot?« »0 ja, schon fast ein Jahr.« »Das ist ja ein Aon!«

Scarlett wußte nicht, was ein Aon sei. Aber der Spott ihres Peinigers war nicht mißzuverstehen. Sie schwieg.

»Waren Sie lange verheiratet? Verzeihen Sie meine Frage, aber ich war so lange nicht in dieser Gegend.«

»ZweiMonate«, antwortete Scarlett widerwillig.

»Darum ist es nicht minder traurig«, fuhr er beharrlich fort.

»Hol ihn der Teufel!« dachte sie zornig. »Wäre er ein anderer, so könnte ich ihn einfach eiskalt behandeln und wegschicken. Aber er weiß von Ashley, und daß ich Charlie nicht geliebt habe.« Sie sagte nichts und blickte auf ihren Fächer nieder.

»Sie sind heute zum erstenmal wieder in Gesellschaft?«

»Ich weiß, es sieht etwas sonderbar aus«, fiel sie rasch ein, »aber die Mädchen, die diese Bude übernehmen sollten, mußten plötzlich abreisen, und es war niemand zum Ersatz da. Deshalb haben Melanie und ich ...«

»Kein 0pfer ist zu groß für die gerechte Sache.«

Das hatte auch Mrs. Elsing gesagt, aber da hatte es ganz anders geklungen. Hitzige Worte wollten ihr über die Lippen, aber sie schluckte sie wieder hinunter.

»Ich habe immer gefunden«, sagte er nachdenklich, »daß die ganze Art, wie die Witwen für den Rest ihres Lebens eingekerkert werden, ebenso barbarisch ist wie die Sati der Hindus.«

»Die Sage?«

Er lachte, und sie errötete über ihre Unwissenheit. Wer Worte gebrauchte, die sie nicht verstand, war ihr unausstehlich.

»Wenn in Indien ein Mann stirbt, wird er nicht begraben, sondern verbrannt, und dann steigt seine Frau zu ihm auf den Scheiterhaufen und läßt sich mitverbrennen.«

»Wie schrecklich! Aber warum tun sie das, und sieht die Polizei da ruhig zu?«

»Eine Frau, die sich nicht verbrennen ließe, wäre eine Ausgestoßene. Alle ehrbaren Hindumatronen würden über sie reden, daß sie sich nicht benehme wie eine wohlerzogene Dame. Genau wie jene ehrbaren Matronen in der Ecke dort drüben über Sie reden würden, wenn Sie heute abend in Rot erschienen wären und einen Walzer tanzen wollten. Mir persönlich kommt die Witwenverbrennung viel barmherziger vor als unsere hiesige Sitte, die Witwen lebendig zu begraben.«

»Wie können Sie sich unterstehen zu behaupten, ich sei lebendig begraben!«

»Wie doch die Frauen an ihren Ketten hängen! Sie finden die Sitte der Hindus barbarisch, aber ob Sie wohl den Mut gehabt hätten, heute abend zu erscheinen, wenn nicht das Vaterland Sie gerade gebraucht hätte?«

Solche Schlußfolgerungen verwirrten Scarlett immer, und diese ganz besonders, weil ihr dämmerte, daß Wahrheit darin enthalten war. Es wurde Zeit, ihm eins auf den Mund zu geben.

»Auf keinen Fall wäre ich gekommen. Es wäre ... eine Kränkung für ... es sähe so aus, als hätte ich Charles nicht ...«

Seine Augen hingen in zynischer Belustigung an ihren Lippen. Sie konnte nicht fortfahren. Er wußte, daß sie Charles nicht geliebt hatte, und all die schönen und edlen Gefühle, die auszudrücken sie sich anschickte, würden bei ihm nicht verfangen. Wie schrecklich war es doch, mit jemandem zu tun zu haben, der kein Gentleman war! Ein Gentleman tat immer, als schenke er einer Dame Glauben, auch wenn er wußte, daß sie log. Das war die Ritterlichkeit des Südens. Dieser Mann hingegen genoß es sichtlich, an peinliche Dinge zu rühren.

»Ich warte in großer Spannung.«

»Sie sind abscheulich«, sagte sie hilflos und schlug die Augen nieder.

Er lehnte sich weit über die Auslage, bis sein Mund ihrem 0hr nahe war, und zischte ihr in überaus glaubwürdiger Nachahmung eines Bühnenschurken die Worte zu: »Fürchte nichts, schöne Dame, dein sündiges Geheimnis ist bei mir sicher.«

»Wie können Sie nur so etwas sagen?« flüsterte sie fiebernd.

»Ich wollte nur Ihr Gemüt erleichtern, was hätte ich sonst sagen sollen? Vielleicht: >Sei mein, schönes Weib, oder ich bringe alles an den Tag<?« Wider Willen begegnete ihr Blick dem seinen, und sie sah den Schalk darin wie bei einem kleinen Jungen. Da lachte sie plötzlich auf. Schließlich war es doch eine gar zu alberne Situation. Er lachte auch, so laut, daß mehrere Chaperons aus der Ecke herüberschauten. Als sie bemerkten, wie gut die Witwe Charles Hamiltons sich mit einem Fremden unterhielt, steckten sie die Köpfe mißbilligend zusammen.

In diesem Augenblick erscholl ein Trommelwirbel. Viele Stimmen zischten, Ruhe heischend, als Dr. Meade auf das Podium trat und mit erhobenem ArmumGehör ersuchte.

»Wir sind den liebenswürdigen Damen den größten Dank dafür schuldig«, hub er an, »daß ihre unermüdliche Arbeit für das Vaterland diese Veranstaltung nicht nur zu einem finanziellen Erfolg gemacht, sondern obendrein diese unwirtliche Halle in einen festlichen Garten verwandelt hat, in den die reizenden Rosenknospen, die ich hier um mich sehe, so recht hineinpasse n.«

Alles klatschte Beifall.

»Die Damen haben ihr Bestes an Zeit und Mühe hergegeben, und alle die schönen Dinge in diesen Buden sind doppelt schön, weil die feinen Hände unserer reizenden Frauen aus demSüden sie verfertigt haben.«

Die Beifallsrufe wurden lauter, aber Rhett Butler, der sich lässig neben Scarlett über die Auslage lehnte, flüsterte ihr ins 0hr: »Pathetischer Ziegenbock!« Erschrocken über diese Majestätsbeleidigung - Dr. Meade war doch Atlantas beliebtester Bürger starrte sie ihn an. Aber tatsächlich sah der Doktor mit seinem grauen Kinnbart, der heftig hin und her wackelte, wie ein Ziegenbock aus, und nur mit Mühe unterdrückte Scarlett ein Kichern.

»Aber das ist noch nicht alles. Die guten Damen des Lazarettkomitees, deren kühle Hände mancher Leidensstirn so wohlgetan und manchen Braven, der sein Blut für die gute Sache vergossen hat, dem Rachen des Todes entrissen haben, kennen unsere Bedürfnisse. Ich will sie nicht aufzählen. Wir brauchen mehr Geld, um Arzneien aus England zu kaufe n, und in unserem Kreise befindet sich heute abend der verwegene Kapitän, der schon ein Jahr lang immer wieder die Blockade durchbrochen hat und es auch künftig tun wird, um uns die notwendigen Arzneien zu verschaffen: Kapitän Rhett Butler!«

Das kam unerwartet. Der Blockadebrecher machte eine anmutige Verbeugung - allzu anmutig, fand Scarlett und versuchte zu deuten, was er damit ausdrücken wollte. Fast schien es ihr, als übertreibe er seine Höflichkeit, weil seine Verachtung für alle Anwesenden so über alle Maßen groß war. Ein Beifallssturm brach aus, und die Damen in der Ecke reckten die Hälse. Das also war der Mann, mit dem sich die Witwe des armen Charles Hamilton amüsierte, und Charlie war doch erst ein Jahr tot.

»Wir brauchen mehr Gold, und ich bitte Sie darum«, fuhr der Doktor fort. »Ich bitte Sie um ein 0pfer, ein kleines 0pfer, lächerlich klein im Vergleich zu den 0pfern, die unsere tapferen Grauen uns bringen. Meine Damen, ich brauche Ihren Schmuck. Ich? Nein, die Konföderierten Staaten bitten darum, und ich weiß, da wird niemand zurückhalten. Wie schön glitzert ein Geschmeide an einem lieblichen Handgelenk, wie herrlich glänzt eine goldene Brosche am Busen unserer patriotischen Frauen! Aber wieviel herrlicher als alles Gold, als alle Edelsteine ist doch das 0pfer auf dem Altar des Vaterlandes! Das Gold wird eingeschmolzen, die Steine werden verkauft, und für das Geld werden Arzneien und anderer Lazarettbedarf beschafft. Meine Damen, zwei unserer tapferen Verwundeten werden jetzt mit einem Korb unter Ihnen die Runde machen ...« Das Ende der Rede ging im Sturm und Tumult des Händeklatschens und der Zurufe unter.

Scarletts erster Gedanke war inniger Dank dafür, daß die Trauer ihr verbot, Großmama Robillards kostbare 0hrringe und schwere goldene Kette zu tragen oder ihre in schwarzem Email eingefaßten goldenen Armbänder und die Granatbrosche. Der kleine Zuave ging mit einem Spankorb am unverwundeten Arm langsam durch die Menge, und alte und junge Frauen zogen in lachendem Eifer ihren Schmuck ab, schrien vor gespieltem Schmerz auf, wenn sie die Ringe aus dem 0hr lösten, halfen einander, das Schloß der Halsketten zu öffnen, nahmen sich die Broschen vom Busen. Fortwährend erklang der helle Laut, mit dem Metall gegen Metall schlägt. Dazwischen rief es durcheinander: »Warten Sie ... einen Augenblick! So, jetzt ist es los!« Maybelle Merriwether zog die hübschen Zwillingsarmbänder, die sie über und unter dem Ellbogen trug, ab; Fanny Elsing rief: »Ma, darf ich?« und löste den Perlenschmuck mit seiner schweren Goldfassung, der seit Generationen in der Familie war, aus ihren Locken. Bei jeder Gabe erhob sich neues Händeklatschen und Beifallsgeschrei.

Der grinsende kleine Mann kam jetzt mit dem Korb auf Scarletts Bude zu, an Rhett Butler vorbei, der ein schönes goldenes Zigarettenetui achtlos hineinwarf. Als er vor Scarlett den Korb auf den Auslagentisch hinstellte, schüttelte sie den Kopf und breitete beide Hände aus, um zu zeigen, daß sie keinen Schmuck zu geben hätte. Da fiel ihr der helle Schimmer ihres breiten goldenen Eheringes ins Auge. Während eines verworrenen Augenblicks suchte sie sich im Geiste Charles' Gesicht, als er ihr den Ring an den Finger steckte, zu vergegenwärtigen. Aber die Erinnerung ward durch die Gereiztheit, die jeder Gedanke an ihn in ihr wachrief, ausgelöscht. Mit raschem Griff wollte sie den Ring abziehen, aber er saß fest. Der Zuave ging weiter zu Melanie.

»Halt!« rief Scarlett. »Ich habe etwas für Sie!« Der Ring glitt vom Finger, und als sie die Hand hob, um ihn auf all die Schmucksachen in den Korb zu werfen, begegnete sie Rhett Butlers Blicken. Seine Lippen waren zu einem winzigen Lächeln verzogen. Trotzig warf sie den Ring in den Korb.

»0h, Liebste!« flüsterte Melly und packte sie am Arm, und die Augen funkelten ihr vor Liebe und Stolz. »Ach, du tapferes Mädchen! Halt! Bitte warten Sie, Leutnant Picard, ich habe noch etwas für Sie!«

Sie zog an ihrem eigenen Trauring, von dem Scarlett wußte, daß er ihr nie vom Finger gekommen war, seitdem Ashley ihn daraufgesteckt hatte. Scarlett wußte wie niemand sonst, was dieser Ring ihr bedeutete. Er ließ sich nur mit Schwierigkeit abziehen, und einen kurzen Augenblick umschloß die kleine Hand ihn fest. Dann legte sie ihn sanft in den Korb. Beide Mädchen schauten dem Zuaven nach, der zu den älteren Damen hinüberging, Scarlett trotzig, Melanie mit einem unbeschreiblichen Blick, der tiefer zu Herzen ging als alle Tränen; und der Mann, der neben ihnen stand, ließ sich nichts von dem entgehen, was auf den beiden Gesichtern zu lesen war.

»Wärest du nicht so tapfer gewesen, ich hätte mich nie dazu entschließen können!« Melly legte den Arm um Scarletts Taille und drückte sie an sich. Einen Augenblick lang hatte Scarlett den Wunsch, sie abzuschütteln und einen kräftigen Fluch auszustoßen, wie Gerald tat, wenn er sich ärgerte. Aber sie sah Rhett Butlers Blick auf sich gerichtet, und es gelang ihr, sich zu beherrschen. Es war ihr verhaßt, wie Melly ihr immer Empfindungen unterschob, die sie gar nicht verspürte ... aber vielleicht doch besser so, als wenn sie die Wahrheit ahnte!

»Welch schöne Geste!« sagte Rhett Butler. »Solch ein 0pfer wie das Ihre macht unseren braven grauen Jungens wieder Mut.«

Eine hitzige Erwiderung drängte sich ihr auf die Lippen, aber sie hielt sie zurück. Mit jedem Wort, das er sprach, machte er sich über sie lustig. Er war ihr von ganzem Herzen zuwider. Aber dennoch, er hatte etwas Anfeuerndes, Lebendiges, Elektrisierendes. Ihr irisches Naturell bäumte sich gegen die Herausforderung seiner schwarzen Augen auf. Sie beschloß, den Kampf mit diesem Mann aufzunehmen. Daß er ihr Geheimnis kannte, gab ihm einen Vorteil, der sie zur Raserei brachte. Aber die Versuchung, ihm ihre Empörung ins Gesicht zu sagen, überwand sie. Mit Zucker fängt man mehr Fliegen als mit Essig, pflegte Mammy zu sagen, und diese Fliege wollte sie fangen! Nie wieder durfte sie ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein.

»Vielen Dank«, sagte sie liebenswürdig und überhörte geflissentlich seinen Hohn. »Ein solches Kompliment von einem so berühmten Mann wie Kapitän Butler wissen wir zu schätzen.«

Er warf den Kopf zurück und lachte laut auf - kläffte, wie Scarlett zornerfüllt fand, während sie fühlte, daß sie wieder rot wurde.

»Warum sagen Sie nicht, was Sie meinen?« fragte er so leise, daß in dem Lärm ringsumher nur sie es hören konnte. »Warum sagen Sie nicht, ich sei ein verdammter Schuft und kein Gentleman, und ich sollte machen, daß ich fortkäme, sonst würden Sie einen der tapferen grauen Jungens bitten, mich zu fordern?«

Eine patzige Antwort lag ihr schon auf der Zunge, aber sie bezwang sich und brachte liebenswürdig heraus: »Aber Kapitän Butler, wo denken Sie hin? Als wüßte nicht jeder, wie berühmt und wie tapfer Sie sind und was für ein ... was für ein ...«

»Ich bin von Ihnen enttäuscht«, sagte er.

»Enttäuscht ?«

»Ja. Bei unserem ersten, so ereignisreichen Zusammentreffen dachte ich bei mir selbst, ich hätte endlich ein Mädchen getroffen, das nicht nur schön, sondern auch mutig ist. Nun aber sehe ich, daß Sie nur schön sind.«

»Soll das etwa heißen, daß ich ein Feigling bin?«

»Allerdings. Sie haben nicht den Mut, zu sagen, was Sie meinen. Als ich Ihnen zuerst begegnete, dachte ich: da ist unter Millionen endlich ein Mädchen einmal nicht wie die andern Gänse, die alles glauben und nachplappern, was Mama ihnen sagt, einerlei, was sie dabei empfinden, die alle ihre Gefühle unter einem Strom von süßer Heuchelei verbergen; ich dachte, Miß 0'Hara ist ein Mädchen von seltenem Temperament, sie weiß, was sie will, und scheut sich nicht, es auszusprechen - oder Vasen zu zerschmeißen. «

»Dann«, sagte sie mit aufbrechender Wut, »werde ich Ihnen auf der Stelle sagen, was ich von Ihnen denke. Wenn Sie überhaupt eine Spur von Kinderstube hätten, dann wären Sie nie hergekommen und hätten nie mit mir gesprochen, dann hätten Sie gewußt, daß Sie mir aus den Augen zu bleiben haben. Aber Sie sind kein Gentleman! Sie sind ein unerzogener Flegel! Sie meinen, weil Ihre verdammten kleinen Boote schneller fahren als die der Yankees, hätten Sie ein Recht, tapfere Männer und Frauen, die alles für die heilige Sache opfern, zu verhöhnen ...«

»Halten Sie ein!« bat er lachend. »Sie fingen ganz hübsch an und sagten, was Sie dachten, aber nun kommen Sie mir wieder mit der heiligen Sache. Ich mag nichts mehr davon hören, und ich wette, Sie auch nicht. «

»Was, wieso ... roher ...« stammelte sie ratlos. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und schon kochte sie wieder vor Zorn, daß er sie so durchschaute.

»Ich stand dort in der Tür, ehe Sie mich sahen, und beobachtete Sie«, sagte er. »Ich beobachtete auch die anderen Mädchen. Die sahen alle aus, als wären ihre Gesichter aus einer einzigen Form gegossen. Nur Ihres nicht. In Ihrem Gesicht ist leicht zu lesen. Ihr Gesicht war nicht bei der heiligen Sache, sondern es war voll davon, daß Sie tanzen und sich amüsieren wollten und nicht durften. Sagen Sie mir die Wahrheit, habe ich recht?«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Kapitän Butler«, sagte sie so förmlich, wie sie nur konnte, und raffte notdürftig die Reste ihrer Würde zusammen. »Wenn Sie sich etwas darauf einbilden, der große Blockadebrecher zu sein, so gibt Ihnen das noch lange kein Recht, eine Frau zu beschimpfen.«

»Der große Blockadebrecher! Das ist ein Witz! Bitte, schenken Sie mir noch einen Augenblick Gehör, ehe Sie mich in die Finsternis hi nabstoßen. Eine so reizende kleine Patriotin soll nicht im Unklaren bleiben über das, was ich für die Sache der Konföderierten tue.«

»Es liegt mir nichts daran, von Ihrem Heldentum zu hören!«

»Bei mir ist das Blockadebrechen kein Heldentum, sondern lediglich ein Geschäft. Ich mache Geld damit. Wenn das nicht mehr geht, nehme ich meinen Abschied. Was halten Sie nun davon?«

»Ich halte Sie für einen ganz gewöhnlichen Dollarjäger, genau wie die Yankees.«

»Genauso!« grinste er. »Die Yankees helfen mir beim Dollarjagen. Vor einem Monat bin ich mit meinem Boot schnurstracks in den Hafen von New York gefahren und habe eine Ladung an Bord genommen.«

Wider ihren Willen horchte Scarlett auf. »Wie, und die Yankees haben Sie nicht in Grund und Boden geschossen?«

»Sie Unschuldsengel, die Yankees dachten gar nicht daran. Es gibt eine Menge wackerer Patrioten in der Union, die gar nicht abgeneigt sind, den Konföderierten Waren zu verkaufen und dabei zu Geld zu kommen. Ich laufe New York an, kaufe bei einer Firma alles Nötige zusammen und bin wieder verschwunden. Wird mir dort der Boden zu heiß, so fahre ich nach Nassau, wohin die gleichen Patrioten der Union mir Pulver, Kanonenkugeln und Reifröcke bringen. Das ist bequemer, als nach England zu fahren. Manchmal ist es nicht ganz einfach, in Charleston oder Wilmington damit durchzukommen, aber Sie haben keine Ahnung, was ein bißchen Gold alles ausrichtet.«

»0h, ich wußte, daß die Yankees gemein sind, ich wußte aber nicht ...«

»Wozu vertuschen, daß die Yankees ein anständiges Stück Geld damit verdienen, daß sie die Warenbestände der Union ausverkaufen. In hundert Jahren kräht kein Hahn mehr danach. Daß die Konföderierten am Ende doch Prügel bekommen, steht fest, und warum sollten diese Leute dabei nicht verdienen?«

»Wir, Prügel?«

»Selbstverständlich. «

»Wollen Sie bitte gehen ... oder ich lasse meinen Wagen holen und fahre nach Hause, umSie loszuwerden.«

»Sie hitzköpfige kleine Rebellin«, sagte er und lachte über das ganze Gesicht. Dann verbeugte er sich und machte sich gemächlich davon, und sie blieb, bis zum Rande erfüllt von ohnmächtiger Wut und Empörung, zurück. Eine Enttäuschung brannte in ihr, aus der sie nicht klug wurde. Es war die Enttäuschung eines Kindes, das seine Träume in Stücke gehen sieht. Wie durfte er sich unterstehen zu behaupten, die Konföderierten würden Prügel bekommen! Dafür verdiente er, erschossen zu werden wie ein gemeiner Verräter. Sie blickte im Saal umher auf all die vertrauten Gesichter, die des Sieges ihrer Sache so sicher waren und so viel Tapferkeit und Hingebung ausdrückten; und dennoch kroch etwas wie ein kalter Schauer ihr ins Herz. Prügel? Diese Leute? Unsinn! Schon der bloße Gedanke war Verräterei.

»Was hattet ihr beiden da zu flüstern?« wandte sich Melanie an Scarlett, als ihre Kunden sich entfernt hatten. »Mrs. Merriwether hat die ganze Zeit über ein Auge auf dich gehabt, und du, Liebes, kennst ihre Zunge!«

»Ach, dieser Mann ist unmöglich ... ein ungezogener Flegel«, sagte Scarlett, »und die alte Merriwether laß nur reden. Ich habe keine Lust mehr, mich ihr zuliebe wie ein Lamm aufzuführen.«

»Aber Scarlett!« rief Melanie bestürzt.

Plötzlich verstummte der Lärm der Versammlung abermals, als Dr. Meade seine Stimme erhob, um den Damen seinen Dank dafür auszusprechen, daß sie so bereitwillig ihre Schmucksachen hergegeben hatten. »Und nun, meine Damen und Herren«, fuhr er fort, »möchte ich Ihnen eine Überraschung vorschlagen. Etwas ganz Neues, das bei einigen von Ihnen vielleicht Anstoß erregen wird, aber ich bitte Sie, daran zu denken, daß es um des Lazaretts willen geschieht und zum Besten unserer Braven, die dort liegen.«

Alle drängten erwartungsvoll zu ihm hin und versuchten zu erraten, was der würdige Doktor wohl Anstößiges vorschlagen könnte.

»Jetzt beginnt der Tanz, und als erstes natürlich eine Polonäse mit nachfolgendem Walzer. Jedem der folgenden Tänze, den Polkas, den Schottischen, den Mazurkas geht eine kurze Polonäse vorauf. Ich kenne wohl den stillen Wettbewerb umdie Führung dabei, und deshalb ...«

Der Doktor wischte sich die Stirn und warf einen besorgten Seitenblick in die Ecke, wo seine Frau unter den Chaperons saß. »Meine Herren, wenn Sie mit der Dame Ihrer Wahl eine Polonäse anführen möchten, müssen Sie auf Ihre Dame bieten. Ich bin der Auktionator. Der Ertrag geht an das Lazarett. «

Mitten im Wedeln hielten die Fächer plötzlich inne, und ein erregtes Gemurmel lief durch den Saal. Die Ecke der alten Damen geriet in Aufruhr. Mrs. Meade, die ihrem Mann in einer Aktion, die sie mißbilligte, doch von Herzen gern beistehen wollte, befand sich im Nachteil. Die Damen Elsing, Merriwether und Whiting hatten rote Köpfe vor Entrüstung, aber die gesamte Landwehr stimmte einen begeisterten Hochruf an, in den alle andern Gäste in Uniform einfielen. Die jungen Mädchen klatschten in die Hände und liefen vor Aufregung umher.

»Findest du nicht ... es ... es ist doch ein bißchen wie eine Sklavenauktion«, sagte Melanie leise und sah etwas unsicher zu dem unternehmungslustigen Doktor, der bisher in ihren Augen eine Autorität gewesen war, hinüber.

Scarlett erwiderte nichts, aber ihre Augen glänzten, während sich ihr das Herz in leisem Schmerz zusammenzog. Wäre sie doch nur keine Witwe, wäre sie doch wieder Scarlett 0'Hara und dort auf dem Tanzboden in einem apfelgrünen Kleid mit dunkelgrünen Samtbändern, die ihr über die Brust herabhingen, und mit Tuberosen im schwarzen Haar - die Polonäse würde sie anführen und keine andere! Ein Dutzend Männer würden um sie kämpfen und einander bei Dr. Meade überbieten. Ach, daß sie hier sitzen mußte, ein Mauerblümchen wider Willen, und zusehen, wie Fanny oder Maybelle als Königin von Atlanta die Polonäse anführte!

Über den Tumult erhob sich die Stimme des kleinen Zuaven mit seinem unverkennbar kreolischen Akzent: »Wenn's erlaubt ist, zwanzig Dollar für MißMaybelle Merriwet her!«

Maybelle sank errötend an Fannys Schulter. Die beiden Mädchen bargen ihre Gesichter kichernd eins am Nacken des andern, während neue Stimmen neue Namen aufriefen und neue Summen nannten. Dr. Meade hatte seine Sicherheit wiedergewonnen und überhörte das entrüstete Geflüster in der Ecke der alten Damen. Zuerst hatte Mrs. Merriwether laut und energisch erklärt, daß ihre Maybelle sich an solchem Verfahren niemals beteiligen dürfe. Als aber Maybelles Name öfter und öfter genannt wurde und das Gebot bis zu fünfundsiebzig Dollar stieg, begann ihr Widerstand zu erlahmen.

Scarlett stützte die Ellbogen auf das Auslagebrett und stierte in die aufgeregte, lachende Menge, die mit Händen voll konföderierten Papiergeldes das Podium umdrängte. Gleich durften sie alle tanzen, nur sie und die alten Damen nicht. Sie sah Rhett Butler in unmittelbarer Nähe des Doktors stehen. Er blickte sie an, und sein rechter Mundwinkel zog sich sacht herab und seine linke Augenbraue aufwärts. Mit einem Ruck warf sie das Kinn empor und wandte sich weg. Da hörte sie ihren eigenen Namen von einer Stimme gerufen, die sich laut über das Durcheinander all der Namen erhob, von einer allzubekannten Stimme: »Mrs. Charles Hamilton - hundertfünfzig Dollar in Gold!«

Jäh verstummte die Menge, als eine solche Summe und als dieser Name genannt wurde. Scarlett war so erschrocken, daß sie kein Glied rühren konnte. Mit aufgestütztem Kinn blieb sie sitzen, die Augen vor Verwunderung ganz weit geöffnet. Alles drehte sich um und schaute sie an. Sie sah, wie sich der Doktor vom Podium herniederbeugte und dem Kapitän etwas ins 0hr sagte, wahrscheinlich, daß sie in Trauer sei und unmöglich auf dem Tanzboden erscheinen könne. Sie sah Rhett Butler lässig die Achsel zucken.

»Vielleicht eine andere von unseren Schönen?« fragte der Doktor leise.

»Nein«, sagte Rhett Butler mit deutlich vernehmbarer Stimme und ließ die Augen gleichgültig über die Menge schweifen. »Mrs. Hamilton.«

»Ich sage Ihnen, das ist unmöglich«, sagte der Doktor aufgeregt, »Mrs. Hamilton wird nicht ...«

Scarlett hörte eine Stimme, die sie zuerst gar nicht als ihre eigene erkannte: »Ja, ich tanze!«

Sie sprang auf die Füße, das Herz hämmerte ihr so wild, daß sie glaubte umsinken zu müssen, hämmerte in dem Triumphgefühl, daß sie nun wieder der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, das begehrteste aller anwesenden Mädchen war, und, und, ach, vor allem in der Erwartung, wieder tanzen zu dürfen.

»Ach, laß sie reden, was schert es mich!« flüsterte sie toll vor Aufregung vor sich hin. Zurückgeworfenen Hauptes kam sie aus ihrer Bude hervor, klapperte mit den Hacken wie mit Kastagnetten und öffnete mit einem Ruck den schwarzen Fächer, so weit es irgend ging. Einen flüchtigen Augenblick sah sie Melanies ungläubiges Gesicht, die Mienen der Chaperons, die enttäuschten Blicke der Mädchen, die begeisterte Zustimmung der Soldaten.

Dann stand sie auf dem Tanzboden, und Rhett Butler kam ihr durch das Spalier der Menge, mit seinem widerwärtigen spöttischen Lächeln auf den Lippen, entgegen. Sie kehrte sich nicht daran. Es war ihr einerlei, wer er war, und wäre er Abe Lincoln selber; sie wollte tanzen, die Polonäse anfuhren wollte sie.

Sie verneigte sich vor ihm bis auf die Erde und lächelte ihm funkelnd ins Gesicht. Er verbeugte sich, die eine Hand auf der gefältelten Hemdbrust. Levi, dem die Haare zu Berge standen, brüllte, um über den Augenblick hinwegzukommen, mit schallender Stimme. »Bitte zur Polonäse auffordern!«

Und das 0rchester stimmte krachend den schneidigsten aller Polonäsenmärsche an, den »Dixi e«.

»Wie können Sie sich unterstehen, mich so zu kompromittieren, Kapitän Butler?«

»Aber meine liebe Mrs. Hamilton, Sie hatten so offensichtlich den Wunsch, kompromittiert zu werden.«

»Wie konnten Sie vor aller Welt meinen Namen aufrufen?«

»Sie hätten ja ablehnen können.«

»Aber das konnte ich nicht, eine solche Summe in Gold - ich bin es unserer Sache schuldig. Lachen Sie nicht, alles schaut uns an.«

»Das tun die Leute ohnehin. Versuchen Sie doch nicht, mir den Unsinn von >unserer Sache< aufzutischen. Sie wollten tanzen, und ich gab Ihnen die Gelegenheit. Dies sind die letzten Takte der Polonäse, nicht wahr?«

»Ja. - Ich mußjetzt aufhören undmich setzen.« »Warum? Habe ich Ihnen auf den Fuß getreten?« »Nein, aber die Leute werden über mich reden.«

»Macht Ihnen das wirklich - drinnen im Herzen - etwas aus? Es ist doch kein Verbrechen, nicht wahr? Warum wollen Sie den Walzer nicht mit mir tanzen?«

»Wenn Mutter je ...«

»Also immer noch an Mamas Schürzenband?«

»Was für eine scheußliche Art Sie haben, bei Ihnen wird alle Tugend ...« »Tugend ist dumm. Kehren Sie sich wirklich an das, was die Leute

reden?«

»Nein, aber ... Gott sei Dank, da fängt der Walzer an.«

»Zur Sache bitte! Haben Sie sich je daran gekehrt, was andere Frauen sagen?«

»Wenn Sie es durchaus wissen wollen - nein! Heute abend ist es mir einerlei.«

»Bravo! Endlich fangen Sie an, selber zu denken. Das ist der Anfang aller Weisheit.«

»Ach, aber ...«

»Wenn man erst soviel über Sie geredet hat wie über mich, dann wird Ihnen auch nicht mehr daran liegen. Denken Sie doch, in Charleston gibt es kein Haus mehr, in dem ich noch empfangen werde. Nicht einmal, was ich für die gerechte heilige Sache tue, löst den Bann.«

»Wie schrecklich!«

»Durchaus nicht. Ehe Sie nicht Ihren guten Ruf verloren haben, merken Sie gar nicht, was für ein Laster er ist.«

»Was Sie sagen, ist unerhört!«

»Unerhört und wahr. Immer vorausgesetzt, daß Sie Mut haben - oder Geld, kommen Sie auch ohne guten Ruf aus.«

»Für Geld kann man nicht alles kaufen.«

»Das muß Ihnen jemand gesagt haben. Auf solche Plattheit wären Sie nie von selbst verfallen. Was kann man denn nicht dafür kaufen?«

»Nun, ich weiß nicht recht ... jedenfalls kein Glück und keine Liebe.« »Meistens doch. Mindestens kann man ansehnlichen Ersatz dafür

kaufen.«

»Haben Sie denn so viel Geld, Kapitän Butler?«

»Was für eine ungehörige Frage, Mrs. Hamilton. Ich muß mich wundern. Ja, für einen seit früher Jugend verfemten jungen Mann habe ich es zu einem ganz hübschen Vermögen gebracht, und bei der Blockade werde ich sicher noch eine Million einstecken.«

»Nicht möglich!«

»Doch! Den meisten Leuten ist eben nicht klar, daß man aus dem Untergang einer Kultur ebensoviel Geld herausschlagen kann wie aus dem Aufbau einer neuen.«

»Was soll das heißen?«

»Ihre Familie, meine Familie und jeder, der heute abend hier ist, alle haben ihr Vermögen damit gemacht, daß sie eine Wüste in Kulturland verwandelt haben. Das heißt ein Reich aufbauen. Beim Aufbau eines Reiches läßt sich freilich viel Geld verdienen. Beim Untergang eines Reiches aber noch mehr.«

»Was für ein Reich meinen Sie?«

»Das Reich, in dem wir leben. Der Süden, die Konföderierten Staaten, das Baumwollreich - es bricht uns jetzt unter den Füßen zusammen. Das aber wollen die meisten Dummköpfe nicht einsehen. Sie werden ihren Vorteil erst aus der Lage zu ziehen suchen, die nach dem Zusammenbruch entsteht. Ich ziehe ihn aus dem Zusammenbrach selbst.«

»Dann glauben Sie also wirklich, wir werden geschlagen?«

»Ja, warumdenn Vogel Strauß spielen?«

»Ach Gott, ist das alles langweilig! Können Sie eigentlich jemals auch etwas Hübsches sagen, Kapitän Butler?«

»Macht es Ihnen Freude, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Augen zwei Goldfischhäfen gleichen, die bis zum Rand mit dem klarsten grünen Wasser gefüllt sind? Und wenn die Fische an die 0berfläche kommen, wie in diesem Augenblick, dann sind sie verteufelt reizend.«

»Ach, das mag ich gar nicht ... Ist die Musik nicht wunderbar? Ach, ich könnte ewig so weitertanzen. Ich habe gar nicht gewußt, wie sehr ich es vermißt habe.«

»Sie sind die schönste Tänzerin, die ich je im Arm gehalten habe.« »Kapitän Butler, Sie dürfen mich nicht so fest anfassen. Alles schaut auf

uns.«

»Wenn es niemand sähe, hätten Sie dann auch etwas dagegen?« »Kapitän Butler, Sie vergessen sich.«

»Nicht einen Augenblick. Wie könnte ich, solange ich Sie im Arm halten ... Was ist das für ein Walzer, ist er neu?«

»Ja. Ist er nicht herrlich? Den haben wir von den Yankees gekapert.« »Wie heißt er?«

»Wenn der grausige Krieg zu Ende ...«

»Wie sind die Worte? Singen Sie sie mir vor.«

»>Liebste, weißt dunoch, das letztemal,

Als wir zwei uns sahn?

Als du mir zu Füßen knietest

Und von der Liebe sprachst? Ach, wie stolz du vor mir standest Ganz in Grau,

Als du schwurst, mich nie zu lassen,

Nie das Vaterland.

Ach, nun wein' ich, einsam, t raurig, Seufzer, Tränen, ach, umsonst! Wenn der grause Krieg zu Ende, Wollenwirunswiedersehen! <

Natürlich hieß es >Ganzin Blau<, aber wir habenes in >Grau< umgeändert ... Ach, Sie tanzen so gut Walzer, Kapitän Butler. Sie wissen doch, große Männer können das selten. Und zu denken, daß es nun Jahre dauert, bis ich wieder tanzet«

»Das dauert nur ein paar Minuten. Ich biete auch für die nächste Polonäse auf Sie ... und für die übernächste und überübernächste.«

»0 nein, das geht nicht! Das dürfen Sie nicht! Dann ist mein Ruf hin.«

»An dem kann auch der nächste Tanz nicht mehr viel verderben. Mag sein, daß ich den andern Jungens auch einmal Gelegenheit gebe, wenn ich fünf oder sechs hinter mir habe, aber den letzten bekomme ich!«

»Also gut Ich weiß, ich bin verrückt, aber was schert das mich! Mir ist es ganz einerlei, was die Leute sagen. Ich habe es so satt, zu Hause zu sitzen. Ich will tanzen und immer wieder tanzen.«

»Und nicht mehr Schwarz tragen? Krepp ist mir ein Greuel.«

»0 nein, meine Trauer kann ich nicht ablegen ... Kapitän Butler, Sie dürfen mich nicht so an sich drücken. Wenn Sie das tun, werde ich böse.«

»Sie sehen so wunderbar aus, wenn Sie böse sind. Ich will Sie noch einmal recht fest drücken ... so ... nur um zu sehen, ob Sie wirklich böse werden. Sie haben ja keine Ahnung, wie reizend Sie damals in Twelve 0aks waren, als Sie in Wut gerieten und Gegenstände zerschmissen.«

»Ach, bitte ... wollen Sie das nicht vergessen?«

»Nein, das gehört zu meinen ganz unbezahlbaren Erinnerungen ... eine wohlerzogene Schöne aus den Südstaaten, mit der ihr irisches Blut durchgeht.«

»0 je, nun ist die Musik zu Ende, und da kommt Tante Pittypat aus dem Hinterzimmer. Mrs. Merriwether muß es ihr erzählt haben, das weiß ich gewiß. Ach, um Gottes willen, lassen Sie uns hinübergehen und zum Fenster hinausschauen. Jetzt darf sie mich nicht abfangen. Ihre Augen sind so groß wie Untertassen.«

Am nächsten Morgen saß Tante Pittypat in Tränen aufgelöst über ihren Waffeln. Melanie war still, Scarlett trotzig.

»Was geht das mich an, was sie reden! Ich habe dem Lazarett mehr Geld eingebracht als all der alte Kram, den wir verkauft haben.«

»Ach Gott, was liegt denn an Geld«, jammerte Tante Pittypat und rang die Hände. »Ich traute einfach meinen Augen nicht, und dabei ist der arme Charlie kaum ein Jahr tot. Und dieser schreckliche Kapitän Butler, der dich so kompromittiert hat. Er ist ein ganz, ganz furchtbarer Mensch. Mrs. Whitings Cousine, Mrs. Coleman, deren Mann aus Charleston ist, hat mir davon erzählt. Er ist das schwarze Schaf einer angesehenen Familie. In Charleston wird er von niemandem empfangen, er hat den schlimmsten Ruf von der Welt, und da war etwas mit einem Mädchen, etwas so Schreckliches. Mrs. Coleman wußte nicht einmal, was es eigentlich war.«

»Nein, ich kann nicht glauben, daß er so schlecht ist«, sagte Melanie sanft. »Er machte den Eindruck eines vollkommenen Gentleman, und wenn man bedenkt, wie tapfer er die Blockade durchbrochen hat ...«

»Er ist gar nicht tapfer«, sagte Scarlett störrisch und goß sich das halbe Glas Sirup über die Waffeln. »Er tut es nur um des Geldes willen. Das hat er mir gesagt. Die Konföderierten Staaten sind ihm gleichgültig, und er sagt, wir bekommen Prügel. Aber tanzen tut er göttlich!«

Die beiden Zuhörerinnen waren vor Entsetzen sprachlos.

»Ich habe es satt, zu Hause zu sitzen. Ich tue es nicht mehr. Wenn alle jetzt über mich herziehen, ist mein Ruf ohnehin erledigt, und es kommt nicht mehr darauf an, was sie sonst sagen.«

Sie merkte nicht, daß dies Rhett Butlers Gedanke war. Er kam ihr so gelegen und fügte sich so gut in ihre eigenen Gedanken ein.

»Ach, was wird deine Mutter sagen, wenn sie davon hört? Was soll sie nur von mir denken?«

Als Scarlett sich Ellens Bestürzung vorstellte, falls sie je von dem anstößigen Benehmen ihrer Tochter erfahren sollte, wurde ihr beklommen ums Herz. Aber sie schöpfte wieder Mut, als sie sich überlegte, daß zwischen Atlanta und Tara fünfundzwanzig Meilen lagen. Miß Pitty erzählte Ellen sicher nichts, denn sie würde sich als Tante in ein gar zu schlechtes Licht setzen.

»Ich glaube«, sagte Pitty, »es ist besser, ich schreibe Henry einen Brief darüber, so ungern ich das auch tue, aber er ist unser einziger männlicher Verwandter und sollte Kapitän Butler ins Gewissen reden. Ach, wenn nur Charlie noch lebte! Mit dem Mann darfst du niemals wieder auch nur ein Wort sprechen, Scarlett.«

Melanie hatte ruhig mit den Händen im Schoß dagesessen, während ihr die Waffeln auf dem Teller kalt wurden. Sie stand auf, trat hinter Scarlett und legte ihr die Arme umden Hals.

»Liebes«, sagte sie, »laß dich nicht irremachen. Ich verstehe dich. Was du gestern abend getan hast, war tapfer von dir und eine große Hilfe für das Lazarett. Wenn jemand sich untersteht, daran zu mäkeln, bekommt er es mit mir zu tun ... Tante Pitty, nicht weinen! Es war hart für Scarlett, daß sie nirgends hingehen durfte. Sie ist eben noch ein Kind.« Ihre Finger glitten spielend durch Scarletts schwarzes Haar. »Vielleicht täte es uns allen besser, wenn wir hin und wieder ausgingen. Ist es nicht eigentlich sehr selbstsüchtig von uns, wenn wir uns so mit unserem Kummer einschließen? In Kriegszeiten ist das etwas anders als sonst. Wenn ich an all die Soldaten in der Stadt denke, die fern von zu Hause sind und keine Freunde haben, die sie abends besuchen können ... und an die im Lazarett, die gesund genug sind, aufzustehen, und doch nicht gesund genug, an die Front zurückzukehren ... ja, wir sind selbstsüchtig gewesen! Wir sollten auf der Stelle, wie jeder andere, drei Genesende ins Haus nehmen und jeden Sonntag ein paar Soldaten zu Tisch haben. So, Scarlett, nun mach dir keine Gedanken mehr. Wenn die Leute dich verstehen, reden sie auch nicht. Wir alle wissen, wie lieb du Charlie gehabt hast.«

Scarlett machte sich durchaus keine Gedanken mehr darüber, ab er Melanies weiche Hände in ihrem Haar waren ihr unangenehm. Es reizte sie, mit einem Ruck den Kopf wegzuziehen und »dummes Zeug!« zu sagen, denn die Erinnerung daran, wie Landwehr, Landsturm und all die Frontsoldaten aus dem Lazarett sich um Tänze mit ihr gerissen hatten, erwärmte sie noch immer. Von allen Menschen wünschte sie sich Melly am wenigsten zur Verteidigerin. Sie wollte schon für sich selbst aufkommen, danke schön, und wenn die alten Drachen fauchen wollten nun, sie konnte auch ohne sie auskommen. Für sie gab es viel zuviel nette 0ffiziere auf der Welt, als daß sie sich über alte Weiber und ihr Gerede den Kopf zerbrechen müßte.

Bei Melanies beruhigenden Worten tupfte sich Pittypat die Augen. Da kamPrissy mit einem dicken Brief herein.

»Für Sie, Miß Melly. Ein kleiner farbiger Junge wird ihn bringen.«

»Für mich?« Melly konnte sich nicht denken, woher er kam, und öffnete den Umschlag.

Scarlett beschäftigte sich gerade mit ihren Waffeln und bemerkte nichts weiter, bis sie Melly in Tränen ausbrechen hörte und, als sie aufblickte, Tante Pittypat sich nach dem Herzen greifen sah.

»Ashley ist tot!« kreischte Pittypat, warf den Kopf zurück und ließ beide Armeschlaff heruntersinken.

»Mein Gott!« Scarletts Blut erstarrte.

»Nein! Nein!« rief Melanie. »Rasch das Riechsalz, Scarlett! Nun komm, Tante, fühlst du dich besser? Tief atmen! Nein, es ist nicht Ashley. Es tut mir leid, daß ich euch einen Schrecken eingejagt habe. Ich weinte vor lauter Freude.« Und auf einmal öffnete sie die Faust und drückte etwas, was darin steckte, an die Lippen. »Ich bin so glücklich!« Und wieder brach sie in Tränen aus.

Scarlett sah, daß es ein breiter, goldener Ring war.

»Lies.« Melly wies auf den Brief, der am Boden lag. »Ach, wie lieb und gut von ihm!«

Scarlett wußte nicht, was sie davon denken sollte, sie hob das Blatt auf und las die breiten kühnen Schriftzüge: »Mögen die Konföderierten auch das Blut ihrer Männer brauchen, das Herzblut ihrer Frauen verlangen sie noch nicht. Nehmen Sie, liebe gnädige Frau, dieses Zeichen meiner Verehrung für Ihre Tapferkeit entgegen, und meinen Sie nicht, Ihr 0pfer sei umsonst gebracht. Dieser Ring ist für das Zehnfache seines Wertes eingelöst worden. Kapitän Rhett Butler.«

Melanie steckte sich den Ring an den Finger und betrachtete ihn liebevoll.

»Habe ich nicht gesagt, daß er ein Gentleman ist?« wandte sie sich an Pittypat und lächelte glücklich durch die Tränen auf ihren Wangen. »Nur ein feinfühliger, verständnisvoller Gentleman konnte sich vorstellen, wie es mir das Herz brach! Ich schicke statt dessen meine goldene Kette. Tante Pittypat, du mußt ihm eine Zeile schreiben und ihn Sonntag zum Mittagessen einladen, damit ich ihm danken kann.«

Keiner der beiden andern war es in ihrer Erregung aufgefallen, daß Kapitän Butler nicht auch Scarletts Ring zurückgeschickt hatte. Sie aber merkte es und ärgerte sich darüber. Sie wußte, daß Kapitän Butler nicht aus Feingefühl so ritterlich gehandelt hatte. Er wollte gern in Pittypats Haus eingeladen werden und hatte das sicherste Mittel dazu herausgefunden.

»Es hat mich tief bekümmert, zu hören, wie Du Dich kürzlich aufgeführt hast«, lautete Ellens Brief, und Scarlett, die ihn bei Tisch las, machte ein finsteres Gesicht. Schlechte Nachrichten reisen schnell. Sie hatte in Charleston und Savannah oft sagen hören, daß die Leute von Atlanta ärger klatschten als irgend jemand sonst im Süden, und nun glaubte sie es. Erst vorige Woche hatte das Fest stattgefunden. Wer von den alten Drachen mochte es wohl auf sich genommen haben, Ellen zu benachrichtigen? Einen Augenblick hatte sie Tante Pittypat im Verdacht, ließ den Gedanken aber sofort fallen. Die arme Tante hatte Qualen der Angst ausgestanden, Scarletts dreistes Betragen könnte ihr zur Last gelegt werden. Es mußte wohl Mrs. Merriwether gewesen sein.

»Es fällt mir schwer zu glauben, daß Du Dich und Deine Erziehung so völlig vergessen hast. Von der Ungeschicklichkeit, in Trauer öffentlich zu erscheinen, will ich nicht reden. Ich begreife, wie es Dir am Herzen gelegen hat, etwas für das Lazarett zu tun. Aber tanzen und das mit einem Mann wie Kapitän Butler? Ich habe viel von ihm gehört, wer hätte das nicht, und Pauline schrieb mir, er würde in Charleston nicht einmal von seiner eigenen Familie mehr empfangen, außer von seiner untröstlichen Mutter. Er ist ein durch und durch schlechter Charakter, der Deine Jugend und Deine Unschuld benutzt, um Dich zu kompromittieren, um Dir und Deiner Familie Schmach anzutun. Wie konnte Miß Pittypat ihre Pflicht gegen Dich so vernachlässigen?«

Scarlett blickte über den Tisch zu ihrer Tante hinüber. Die alte Dame hatte Ellens Handschrift erkannt und spitzte erschrocken ihr Mündchen wie ein kleines Kind, das vor Schelte bange ist und sie durch Tränen abwenden möchte.

»Es geht mir sehr nahe, daß Du Deine Erziehung so vergessen konntest. Ich ging schon mit dem Gedanken um, Dich sofort nach Hause zurückzurufen, stelle aber das lieber Deinem Vater anheim. Freitag kommt er nach Atlanta, um mit Kapitän Butler zu sprechen und Dich nach Hause zu bringen. Ich fürchte, trotz meiner Bitten wird er sehr streng sein. Ich hoffe und bete, nur Deine jugendliche Unerfahrenheit möge die Ursache zu so keckemBenehmen gewesen sein.«

Es ging noch lange in demselben Ton weiter, aber Scarlett las den Brief nicht zu Ende. Dieses Mal war sie wirklich zu Tode erschrocken. Dies ließ sich nicht einfach trotzig abschütteln. Sie fühlte sich so klein und schuldbewußt wie mit zehn Jahren, wenn sie Suellen über den Tisch einen Zwieback ins Gesicht geworfen hatte, und nun wollte ihr Vater gar in die Stadt kommen, um mit Kapitän Butler zu sprechen! Der Ernst der Sache ging ihr immer deutlicher auf. Dieses Mal, wußte sie, konnte sie sich der Strafe nicht dadurch entziehen, daß sie sich schmeichelnd auf Geralds Knie setzte.

»Es sind doch keine schlechten Nachrichten?« stammelte Pittypat .

»Pa kommt morgen und will mich tüchtig abkanzeln«, antwortete Scarlett kläglich.

»Prissy, mein Riechsalz!« wimmerte Pittypat und schob den Stuhl zurück. »Mir wird schlecht!«

»Das haben Sie in der Rocktasche«, sagte Prissy. Sie ahnte das Drama und genoß es. Master Gerald war immer so schön aufgeregt, wenn er böse wurde, und das liebte sie sehr, vorausgesetzt, daß ihr wolliger Kopf nicht gerade das 0pfer war. Pittypat suchte in ihrem Rock und hielt sich das Fläschchen an die Nase.

»Ihr müßt mir beistehen und dürft mich keinen Augenblick allein lassen«, sagte Scarlett. »Er hat euch beide gern, und wenn ihr dabei seid ...«

»Ich kann nicht«, sagte Pittypat matt und erhob sich mühsam. »Ich ... ich fühle mich krank ... ich muß mich hinlegen, den ganzen Tag muß ich mich morgen hinlegen. Ihr müßt mich bei ihm entschuldigen.«

»Feigling!« dachte Scarlett und funkelte sie voll Verachtung an. Melly nahm alle Kraft zusammen, obwohl sie bei dem Gedanken an den feuerspeienden Mr. 0'Hara ganz blaß vor Schreck wurde.

»Ich helfe dir, ihm klarzumachen, daß du es um des Lazaretts willen getan hast. Das muß er doch begreifen.«

»Nein, das tut er nicht. Ach, ich sterbe, wenn ich nach Tara zurück muß, wie Mutter mir droht!«

»Ach Gott, du kannst doch nicht nach Hause«, sagte Pittypat unter Tränen. »Wenn du fortgingst, wäre ich ja gezwungen, Henry zu bitten, er möge zu uns ziehen, und du weißt doch, ich kann und kann nicht mit Henry unter einem Dache leben. Mir ist abends so bange, wenn ich mit Melly allein im Haus bin, bei all den fremden Männern, die jetzt in der Stadt sind! Du bist so tapfer, da macht es mir weniger aus, daß kein Mann im Haus ist!«

»Ach, er kann dich doch nicht mit nach Tara nehmen!« Auch Melly sah aus, als wären ihr die Tränen ganz nahe. »Dein Heim ist jetzt bei uns, was sollten wir je ohne dich anfangen?«

Ihr würdet mich mit Freuden entbehren, wenn ihr wüßtet, wie ich in Wirklichkeit über euch denke, dachte Scarlett mißmutig und wünschte, jemand anders als Melanie möge ihr helfen, Geralds Zorn abzuwehren. Es war ihr ein jämmerliches Gefühl, gerade von der verteidigt zu werden, die sie so wenig leiden mochte.

»Sollten wir nicht lieber die Einladung an Kapitän Butler widerrufen?« fing Pittypat an.

»Aber das können wir doch nicht! Das wäre wirklich die Höhe der Unhöflichkeit!«Melly war ganz unglücklich.

»Bringt mich ins Bett, ich werde krank«, stöhnte Pittypat. »Ach, Scarlett, wie konntest du mir das antun?«

Pittypat lag wirklich im Bett, als Gerald am nächsten Nachmittag ankam. Hinter ihrer verschlossenen Tür verschanzt, hatte sie sich tausendfach entschuldigen lassen und überließ es den beiden verängstigten Mädchen, sie beim Abendessen zu vertreten. Gerald war von unheilverkündender Schweigsamkeit, wenn er auch Scarlett küßte und Melly in die Wange kniff und sie »Cousine Melly« nannte. Flüche und Vorwürfe wären Scarlett sehr viel lieber gewesen. Melanie hielt getreulich ihr Versprechen und hängte sich, ein kleiner raschelnder Schatten, an Scarletts Rock. Gerald war zu sehr Gentleman, um seiner Tochter in ihrer Gegenwart die Leviten zu lesen. Scarlett mußte zugeben, daß Melanie es sehr geschickt anfing. Sie benahm sich, als wäre alles in bester 0rdnung, und als das Abendessen aufgetragen war, gelang es ihr auch, Gerald in ein Gespräch zu ziehen.

»Ich möchte alles aus der Provinz hören«, sagte sie strahlend zu ihm. »India und Honey schreiben keine Briefe; Sie aber wissen ja alles, was dort vorgeht, bitte, erzählen Sie uns von Joe Fontaines Hochzeit.«

Das schmeichelte Gerald, und er erzählte, die Hochzeit sei recht still verlaufen, weil Joe nur kurz Urlaub hatte. Sally, das kleine Munroeküken, habe sehr niedlich ausgesehen. Nein, was für ein Kleid sie anhatte, wußte er nicht mehr, er hatte aber gehört, ein Kleid für den »zweiten Tag« habe sie nicht gehabt.

»Nicht möglich!« Die beiden Mädchen waren entrüstet.

»Sicher nicht, sie hatte ja gar keinen >zweiten Tag< «, erklärte Gerald und lachte schallend, ehe ihm einfiel, daß solche Bemerkungen für weibliche 0hren nicht geeignet sein mochten. Es wurde Scarlett bei seinem Gelächter wieder ein wenig wohler, und sie segnete Melanies Taktik.

»Joe ist am nächsten Tage schon wieder nach Virginia gegangen«, fuhr Gerald hastig fort, »da gab es keine Besuche und keinen Tanz hinterher. Die Tarleton-Zwillinge aber sind zu Hause.«

»Wir haben davon gehört, sind sie wieder hergestellt?«

»Sie waren nur leicht verwundet. Stuart hatte einen Schuß ins Knie, und durch Brents Schulter war eine Gewehrkugel gegangen. Habt ihr schon gehört, daß sie wegen ihrer Tapferkeit im Kriegsbericht erwähnt worden s ind?«

»Nein! Erzähle!«

»Tollköpfe - alle beide. Mir scheint fast, sie haben irisches Blut«, sagte Gerald wohlgefällig. »Was sie eigentlich gemacht haben, ist mit entfallen, aber Brent ist jetzt Leutnant.«

Es machte Scarlett Freude, von ihren Heldentaten zu hören. Es war eine Freude am Eigentum. War ein Mann einmal ihr Verehrer gewesen, so betrachtete sie ihn immer weiter als ihr Eigentum, und alles, was er leistete, gereichte ihr zur Ehre.

»Ich habe noch eine Neuigkeit für euch beide«, sagte Gerald, »es heißt, Stuart gehe in Twelve 0aks auf Freiersfüßen.«

»Bei Honey oder India?« fragte Melly gespannt, während Scarlett fast entrüstet dreinsah.

»Natürlich Miß India, die hatte ihn doch am Bändel, bis mein eigenes Gelichter nach ihm äugte. Stimmt's?«

Melly war in nicht geringer Verlegenheit über Geralds freimütige Ausdrucksweise.

»Und, was noch mehr ist, der junge Brent fängt an, in Tara herumzulungern. Was sagt ihr nun?«

Scarlett war sprachlos. Es kam ihr geradezu wie eine Beleidigung vor, daß ihre Verehrer sie solcherart im Stich ließen, besonders wenn sie daran dachte, wie die beiden Tarletons sich aufgeführt hatten, als sie Charles heiraten wollte. Stuart hatte sogar damit gedroht, Charles zu erschießen oder Scarlett oder sich selbst oder alle drei. Es war höchst aufregend gewesen.

»Suellen?« fragte Melly und lächelte freudig. »Aber ich dachte, Mr. Kennedy ...«

»Der?« sagte Gerald, »ja, er katzbuckelt immer noch um sie herum und hat Angst vor seinem eigenen Schatten. Wenn er nicht bald selber mit der Sprache herausrückt, frage ich ihn nächstens, was er eigentlich vorhat. Nein, dies gilt meiner Kleinen.«

»Carreen?«

»Aber sie ist doch noch ein Kind«, sagte Scarlett scharf. Sie hatte ihre Sprache wiedergefunden.

»Sie ist nur ein gutes Jahr jünger, als du bei deiner Hochzeit warst, mein Kind«, gab Gerald zurück. »Gönnst du deiner Schwester deine alten Verehrer nicht?«

Melly, der solche 0ffenheiten äußerst peinlich waren, wurde rot und gab 0nkel Peter ein Zeichen, daß er den süßen Kartoffelauflauf hereinbringe. Verzweifelt suchte sie in ihrem Hirn nach einem Gesprächsthema, das nicht so persönlich, aber doch geeignet wäre, Mr. 0'Hara von seinem eigentlichen Reisezweck abzulenken. Ihr fiel nichts ein. Nachdem aber Gerald einmal im Gange war, brauchte er zu seiner Anregung nichts weiter als Zuhörer. Er redete sich in Zorn über die diebische Intendantur, die jeden Monat höhere Forderungen stellte, über Jefferson Davis' schuftige Dummheit und die Schäbigkeit der Iren, die sich durchs Handgeld verlocken ließen, in das Heer der Yankees einzutreten.

Als der Wein auf dem Tisch stand und die beiden Mädchen sich erhoben, um den alten Herrn allein zu lassen, warf er hinter zusammengezogenen Brauen seiner Tochter einen strengen Blick zu und befahl sie zu einer kurzen Unterhaltung unter vier Augen. Während Scarlett ihr verzweifelt nachsah, ging Melly, hilflos an ihrem Taschentuch zerrend, hinaus und schloß leise die Flügeltür.

Gerald schenkte sich ein Glas Portwein ein. »Also, mein Kind, das ist ja eine hübsche Geschichte! So kurz erst Witwe und schon auf den zweiten Mann aus!«

»Nicht so laut, Pa, die Dienstboten ...«

»Die wissen längst alles. Jeder weiß von deiner Schande. Deine arme Mutter liegt deswegen zu Bett, und ich mag mich nirgends mehr sehen lassen. Schmählich ist es. Nein, Puß, diesmal kommst du mir nicht mit Tränen davon.« Zwischen seinen hastigen Worten wurde eine gelinde Panik wahrnehmbar, als Scarletts Lider zu beben und ihr Mund zu zucken begann. »Ich kenne dich. Du würdest noch unter den Augen deines eigenen Ma nnes flirten. Nicht weinen! Nun, nun, ich will heute abend nichts mehr sagen. Ich suche jetzt den famosen Kapitän Butler auf, der es mit dem Ruf meiner Tochter so leicht nimmt. Aber morgen früh - Nicht weinen, das hilft dir gar nichts, nicht das geringste. Ich bleibe fest, und morgen kommst du wieder mit mir nach Tara, ehe du uns noch alle in Verruf bringst. Nicht weinen, Kindchen. Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe, ist das nicht ein schönes Geschenk? Sieh doch her! Wie konntest du mir nur so viel Plage machen und mich den ganzen langen Weg hierher fahren lassen? Ich habe doch so viel um die 0hren. Nicht weinen!«

Melanie und Pittypat schliefen schon seit mehreren Stunden, Scarlett aber, mit ihrem schweren angstvollen Herzen, lag noch immer wach in der wannen Dunkelheit. Nun, wo das Leben gerade wieder anfing, sollte sie Atlanta verlassen, heimfahren und vor Ellens Angesicht treten! Lieber wollte sie auf der Stelle sterben, dann würden sie es alle bereuen, daß sie so hart gegen sie gewesen waren. Sie drehte und wälzte sich auf den heißen Kissen, als von fernher aus der stillen Straße herauf ein merkwürdig vertrautes Geräusch an ihr 0hr schlug. Sie schlüpfte aus dem Bett und sah aus dem Fenster. In dem weichen Schatten der hohen Bäume lag die Straße tiefdunkel unter dem dämmerigen Sternenhimmel. Das Geräusch kam näher, Räderrollen, Hufschlag, Menschenstimmen, und auf einmal mußte sie lächeln: eine weinselige irische Stimme sang vernehmbar das vertraute »Peggy in der kleinen Chaise«, und nun wußte sie Bescheid. Gerichtstag in Jonesboro war freilich nicht, aber Gerald kam in der gewohnten Verfassung nach Hause.

Sie sah die dunklen Umrisse eines Einspänners halten und unbestimmte Gestalten aussteigen. Es waren zwei. Sie blieben an der Gartenpforte stehen, und Scarlett hörte die eiserne Klinke knacken. Dann erklang deutlich Geralds Stimme. »Nun noch die >Klage um Robert Emmet<. Das Lied solltest du wirklich kennen, mein Junge, ich will es dich lehren.«

»Ich möchte es wirklich lernen«, erwiderte der andere mit einem leisen unterdrückten Lachen in seinem gedehnten, verschliffenen Tonfall, »aber nicht jetzt, Mr. 0'Hara.«

»Du mein Gott, das ist ja dieser schreckliche Butler.« Scarletts erste Regung war Ärger, dann faßte sie Mut. Jedenfalls hatte es keine Schießerei gegeben. Sie mußten schon auf freundschaftlichem Fuß miteinander stehen, wenn sie zu dieser nächtlichen Stunde in einer solchen Verfassung miteinander nach Hause kamen.

»Ich will es aber singen, und du sollst mir zuhören, sonst schieße ich dich 0rangeman t ot.«

»Ich bin kein 0rangeman, ich bin aus Charleston.«

»Das ist auch nicht besser, das ist noch viel schlimmer. Ich habe zwei Schwägerinnen in Charleston und weiß Bescheid.«

»Will er denn der ganzen Nachbarschaft davon erzählen?« dachte Scarlett erbleichend und schlüpfte in ihren leichten Schlafrock. Was sollte sie nun machen? Sie konnte unmöglich so spät in der Nacht hinuntergehen und ihren Vater von der Straße ins Haus zerren.

Gerald aber, über die Pforte lehnend, warf ohne weitere Aufforderung den Kopf zurück und stimmte in seinem grölenden Baß die »Klage« an. Scarlett stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und hörte zu. Sie mußte

Vom Winde verweht

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