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Heute morgen saß er wieder an seinem Schreibtisch, die Tasse Kaffee neben sich, mittlerweile kalt. Eigentlich hatte er nichts zu tun. Gab ja nichts mehr zu tun.

Scheiße!

Er konnte warten. Ja klar, auf den Herbst warten. Die ganze Zeit bis zum Herbst an seinem Schreibtisch warten. Ein halbes Jahr nicht mehr vom Stuhl aufstehen. Gottverdammtescheiße.

Geht das überhaupt? Gar nicht mehr aufstehen?

Und dann diese Unruhe. Irgendetwas musste er doch tun!

Die Sonne schimmerte durch die frühen zerbrechlichen Blättchen an den Ästen der Straßenbäume. Er liebte diesen Ausblick, der manchmal so träge war, manchmal traurig, melancholisch.

Warum kam ihm jetzt der Morgen mit Simone in den Feldern in den Sinn? Keine Ahnung. Wie lange war das jetzt her? Vier Tage? Fünf? Er hatte Angst, dass das Bild immer mehr entglitt, verblasste, heller, unwirklich, unendlich weit weg, nie gewesen. Alles würde wieder genau so wie jeden blassen Tag.

Simone und ihre verrückten Ideen!

Er vermisste sie. Barbaras Stimme war ihm zu wenig. Ihre weiche Stimme, die so weich und so wach war, dass er schon oft gedacht hatte, er könnte sie berühren, wenn sie miteinander telefonierten, so, wie er über ihr Gesicht streichen könnte, wenn sie vor ihm stand. Und jedes Mal stand sie wirklich vor ihm, wenn sie telefonierten. Als sie gefahren war, begriff er zum ersten Mal wirklich, wie sehr er sie liebte. Dabei waren sie seit zwei Jahren zusammen, weniger, als er mit Simone zusammen war. Aber er hatte sich unsterblich in sie verliebt. Also, in Barbara. Als sie ihn ganz unerwartet zu Beginn des Semesters gesehen hatte, sie kam die Treppe auf ihn zugestürzt und war ihm in die Arme gefallen, so sehnsüchtig, dass er das Gleichgewicht verloren hatte und eine Stufe hinuntergestolpert war. Zum Glück hatte sie ihn festgehalten. So fest, dass er nicht fallen konnte. Und dann hatte sie ihn geküsst. Er mochte es nicht, dass die große Liebe seines Lebens ihn wegen eines einfachen Praktikums in München verlassen hatte. Wenigstens kam es ihm so vor, dass sie ihn verlassen hatte.

Robert sah in die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter blinzelten und die Luft tanzen ließen, bevor sie schließlich das geschwungene Muster der alten Holzfenster erst auf seinen Schreibtisch mit all seinen Zetteln, Stiften und Mappen, dann auf den Boden mit den Stapeln ausgeliehener Bücher und Kopien und schließlich das große, das Zimmer beherrschende Regal mit seinen vielen bunten Buchrücken zeichnete, das gegenüber des Schlafsofas stand, das jetzt ganz im Schatten dalag.

Jetzt hatte er viel Zeit für Simone.

Aber er musste auch an diesen Kuss zurückdenken.

Gut, dass er sich damals nicht von ihr getrennt hatte. Also, von Simone. Sonst käme er jetzt vielleicht noch auf dumme Gedanken, wo Barbara weg war.

War er glücklich?

Zehn Fragen an ...

Ihre persönliche Vorstellung vom Glück?

Nebenan klingelte ein Telefon, wahrscheinlich bei Ingo. Hoffentlich nicht wieder Ingos Mutter!

Wäre er eine berühmte Persönlichkeit, würde er antworten ... Robert hätte es nicht einmal auf Anhieb sagen können. Irgendwie hatte es wohl mit dem Beruf zu tun. Erfolg? Karriere? Karriere an der Uni! Irgendwie aber auch wieder nicht, nicht um jeden Preis. Sein Vater hat Karriere gemacht und hat nichts von seinem Leben gehabt, jedenfalls in Roberts Augen. Davon hatte er sich abgewandt. Familie? Ja, schon, aber erst später. Geld? Zack, da war’s wieder! Und schon spürte er wieder diese nagende Unruhe in sich. Geld! Natürlich, vor allem, um seine dringendsten Schulden bezahlen zu können. Man hat eben nicht in jeder Lebenslage immer das nötige Geld für sein Leben. Später würde er erben. Nicht viel, aber immerhin! Ein bisschen konnte er sich damit beruhigen.

Also, so leben wie gerade jetzt? Und träumen!

Nein, nicht seriös genug!

Er war Historiker! Also? Es gab nur zweierlei Arten von Historikern. Die einen versuchten, sich im Schatten der wirklich Mächtigen zu sonnen. Indem sie über die Großen der Geschichte urteilten, wähnten sie sich ihnen gleich. Manche Historiker waren so und wurden damit unglücklich, denn wer konnte sich schon in den ewigen Granit der Geschichtsschreibung einmeißeln? Robert interessierte das nicht. Er gab sich einem anderen Genuss hin. Er las sich in die längst gelebten Leben anderer, in die längst gefällten Schicksale anderer, schlich sich in ihre Leben, betrachtete ihre Leben aus ihrer Innensicht heraus, mit der spitzbübischen Sicherheit dessen, der das Ende schon kennt, ein Dieb im Unterschlupf für eine Nacht im Leben eines anderen.

Ingo stritt sich wieder einmal mit seiner Mutter. Robert musste lächeln. Diesmal ging es wohl um Ingos Schwester Doro. Sie schien sich bei ihm über die Mutter beschwert zu haben. Warum nur musste er sich da immer wieder einmischen?

Ihr bevorzugter Frauentyp?

Barbara. Nein, Simone. Vielleicht Frau Kottenbeck! Ha, warum kam sie ihm schon wieder in den Sinn? Nein, jetzt hab ich’s: Steffi! Na klar! Seine erste Liebe, noch als er zur Schule gegangen war! Steffi würde er nie vergessen! Gegen Ende des Schuljahres hatten sie sich verliebt. Warum hatten sie sich erst am Ende dieses verflixten Schuljahres verliebt? Keine Ahnung. War aber so. Erst waren da neugierige Blicke. Dann unverfängliche Wortwechsel. Schließlich ein erstes Date. Und dann ...

Manchmal bekam Robert Sehnsucht, aber er hätte nicht einmal genau sagen können wonach. Vielleicht nach der Unbeschwertheit, als sein Leben noch ganz undeutlich war, kaum Zeit vergangen war, die Zukunft noch ganz vor ihm lag, alles war möglich, nichts war unmöglich? Carpe diem! Der Tag war noch frisch, dein Leben ist noch ein leeres Blatt, das nach den ersten Zeilen hungert. Vielleicht hatte er mit Simone an jenem Morgen ein Stückchen Vergangenheit geatmet? Etwas von der Zeit, als er das erste Mal verliebt war? In Steffi. Vielleicht war er da glücklich? Ja, vielleicht. Sie war der erste Satz auf dem leeren Blatt.

Er musste schmunzeln, lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen durch seine Haare, die ihm jetzt manchmal wieder in den Augen kitzelten. Also, Steffi? Nein, doch eher Barbara! Ihr Lachen! Wie wunderschön sie lachen kann! Mit den Grübchen, die sie dann in ihrem Gesicht bekommt. Und ihre kleine Stupsnase in ihrem Mädchengesicht, in dem man alles lesen kann. Und ihre Neugier! Ihre Energie! Ihre unbändige Tatkraft. Oder, nein, eher Simone! Ja, Simone! Sie half ihm dabei, jede Scham zu verlieren. Oder doch Barbara? Sie war zurückhaltender, aber so viel einfühlsamer als Simone. Und intellektueller. Simone gehörte nicht zu den intelligentesten Menschen. Manchmal regte er sich auf, wenn Simone den einfachsten Gedanken nicht verstehen konnte.

Ingo stritt sich immer noch mit seiner Mutter. Er mochte ihn ja, aber manchmal waren seine lauten Streitereien nervtötend.

Jeder Tag wollte genossen werden, jeder Tag war ein Tag seines Lebens! Carpe diem! Den heutigen Tag musste er wohl der Arbeit zollen. Gut. Nein, nicht gut. Aber es geht nun mal nicht anders.

Er schob die Blätter beiseite. Draußen schlugen laut und heftig Autotüren. Das brachte ihn aus seinen Gedanken. Endlich! Neugierig geworden ging er zum Fenster. Oh, es war wieder soweit! Gegenüber packte Herr Schneider seinen Bulli, die Familie fuhr ins Wochenende. Aber dieses Mal war es wieder ihr ganz besonderes Wochenende. Einmal im Jahr nahmen sie ihren kurzen Abschied vom täglichen Einerlei der Glotze, der Flure des Amtes und der ewigen Streitereien, hin in die gelobte Einfachheit eines Wigwams, wenn auch nur für ein paar Tage. Das war noch so eine Eigenart von Herrn Schneider. Ob das auch das Amt bezahlte, fragte sich Robert und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass ihm so eine Frage einfiel. Hans, der immer noch bei seinen Eltern lebte, verstaute gerade die beiden letzten riesigen Aldi-Taschen, als seine kleinere Schwester Moni jetzt im Hauseingang erschien, verstohlen nach rechts und links guckte und dann gesenkten Kopfes schnell vom Hauseingang in den Bulli huschte. Nicht alle in der Familie schienen die gleiche Freude für Herrn Schneiders Eigenheiten zu teilen. Robert grinste. Als der Bulli schließlich knatternd um die Ecke bog, machte Robert das Fenster zu, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, schaute auf die Stapel der verschiedenen Papiere vor sich, die frischen, leeren Blätter genauso wie die mit Stichpunkten vollgeschriebenen, jeder hätte ein Durcheinander vermutet, aber er wusste genau, wo was lag, doch das brachte ihn jetzt auch nicht weiter und er lehnte sich wieder zurück und schaute in die frischen grünen Blättchen.

Steffi war nach den Sommerferien mit Ralf zusammen. Und wollte von ihm nichts mehr wissen. Wäre wohl ein Irrtum gewesen, vor den Ferien.

Sollte er nicht vielleicht doch habilitieren? Das fragte sich Robert immer wieder. Wollte er das? Nein! Ein entschiedenes Nein! Auch wenn ein leiser Zweifel doch immer noch nagte. Aber schon die Promotion war ihm doch immer wieder aus den Händen geglitten, wenigstens hatte er immer wieder das Gefühl gehabt damals. Würde er so etwas denn schaffen, Professor werden? Er war sich da gar nicht so sicher. Heute genauso wenig wie damals, als Clauß, sein Professor, ihn aus heiterem Himmel auf der Examensfeier darauf angesprochen hatte. Könnte er sich ja überlegen. Neinneinnein. Andererseits: Schließlich hatte Clauß ihm ja dieses Forschungsprojekt vermittelt, das im Herbst starten würde. In Münster! Nachdem er ein paar mal dort gewesen war, hatte er seine beiden Kommilitonen kennengelernt, Bernd und Lisa, und mit ihnen ein paar nette Tage verbracht. Im Herbst würde es starten. Dann wären sie seine Kollegen. Und er müsste sich Gedanken darum machen, ob er nach Münster ziehen müsste. Wenn es genehmigt würde. Wenn, ja, wenn! In ein paar Wochen würde er es wissen. Verflixt! So lange noch. Aber das Thema gäbe was her, man könnte es ausbauen und ...

Clauß! Seine letzte Hoffnung. Einer der besten Professoren, die er je gehabt hatte. Immer wieder war ihm was eingefallen. Letztens das Forschungsprojekt bei seinem Kollegen Hergenau. Die Arbeit für die Anträge war längst fertig, jetzt hieß es warten. Und wenn er die Zusage bekäme, würde es immer noch einige Wochen dauern, bis es beginnen könnte. Herbst, hatte Hergenau gesagt, bis dahin würde es dauern, mindestens. Zu lange? Für Frau Kottenbeck?

Ja, Clauß ... Sein Vorschlag zu habilitieren hatte ihn damals glatt aus der Bahn geworfen. Er wusste zuerst nicht ein noch aus, er war einige Tage lang völlig verwirrt, weil er sich nie für so gut gehalten hatte. Damals hatte er beschlossen, nicht mehr daran zu denken. Und das funktionierte sogar. Eigentlich bis heute. Erst heute dachte er wieder einmal daran, aber nicht ernsthaft, manchmal schien ihm der Gedanke sogar lächerlich. Professor Robert Kahlenborn! Neinneinnein, hatte Clauß nicht irgendwann einmal selbst gesagt, die Uni wäre wie ... was hat er damals gesagt? Ach ja, man fühle sich wie unter Wölfen, so hatte er es ausgedrückt, ein komisches Bild. Neinnein, ihm fehlte nur der richtige Job, keine Professur, oder nein, nicht ein Job, eine Stelle! Eine Festanstellung. Eine, die ihm bis jetzt niemand geben konnte. Oder wollte. Eine, die er auch jetzt, nach zwei Jahren Sucherei, nicht gefunden hatte. Waren es wirklich schon zwei Jahre? Aber er baute fest darauf, sie zu bekommen, und bis dahin arbeitete er eben unverdrossen seine Jobs ab. Er war so fest davon überzeugt, dass er noch eine Festanstellung an der Uni finden würde, dass ihn nichts und niemand davon abbringen konnten. Er war zwar immer wieder verwundert, dass es so lange dauerte, aber seine Lebensplanung war dadurch nur ein bisschen ins Stocken geraten. Er dachte nicht im mindesten daran, etwas anderes in Erwägung zu ziehen.

Ingo hatte aufgehört zu streiten. Jetzt lief er schimpfend in seiner Wohnung hin und her, mal wurde das Schimpfen lauter, mal leiser, dann entfernte es sich ganz.

Er sah hinaus in die klare Luft des Frühlings, und er sah die kleinen, leicht im Wind treibenden kleinen Wattebäusche der Pollen, die schon während des ersten schönen Tages kaum mehr zu zählen waren. Er spürte die Wärme der Sonne, sie prickele leise an den Stellen, die er länger in das Licht hielt.

Übermorgen hatte er den Termin mit Frau Kottenbeck. S. Kottenbeck! Und immer noch keinen wirklichen Plan, was er ihr sagen sollte.

Ihm fiel auf, dass der muffige Geruch, der vom Winter übrig geblieben war, immer noch im Zimmer war. Vielleicht fiel ihm das ja auch nur auf, weil draußen alles begann, frisch zu werden. Er stand auf, ging die paar Schritte zum Fenster, das auf die Straße ging, öffnete es, ließ die kühle, frische Frühlingsluft herein und lehnte sich auf die Fensterbank. Die Luft schmeckte feucht, und der Tau des Morgens lag noch auf den Blättern. Urlaub. Wenn man im Urlaub früh aufsteht, riecht die Luft genauso.

Frau Kottenbeck!

Übermorgen!

Schuld und Lüge

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