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Ein schweres Motorrad fuhr die Straße entlang und röhrte durch das geschlossene Fenster mit einer irrwitzigen Lautstärke bis an Roberts Ohr. Robert lag immer noch quer über das Bett gestreckt, hörte das Motorrad gar nicht und schlief tief und fest und schnarchte hin und wieder ein bisschen dabei.

Klaus Burkhardt ließ die Seiten durch seine großen, langen Finger gleiten. Der Geruch eines frisch gedruckten Buches wehte ihm in die Nase. Er liebte diesen ganz eigenen Geruch aus frisch geschnittenem Papier, Druckerschwärze und Leim. Am liebsten war es ihm, wenn er das Buch aus der Verpackung auspacken konnte, dann war der Geruch am intensivsten. Er holte sich umständlich seine Lesebrille aus dem schwarzen Etui. Das Alter hatte sie vor nicht allzu langer Zeit seiner Eitelkeit abgenötigt. Er setzte sie sich immer noch ungeübt auf die Nase, knöpfte sich sein Jackett auf und lehnte sich bequem zurück, um ein paar Zeilen zu lesen. Der kleine gepolsterte Bürostuhl unter ihm ächzte. Burkhardt war zwar nicht besonders dick, er war nur eben groß. Und der Stuhl unter ihm war nur ein normaler Bürostuhl, wie sie hier überall standen, in jedem Büro und in jedem Vorzimmer der Beigeordneten und Referenten. Burkhardt hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, viel Zeit in seinem Vorzimmer bei Drilling zu verbringen. Er mochte die Gesellschaft anderer bei der Arbeit, deshalb war er meist hier und eher selten, ja, fast nie in seinem eigenen Bürozimmer.

Burkhardt las nur wenige Zeilen, um dann plötzlich, ohne irgendeine Ankündigung, unter einem lautem Zischen in sich zusammen zu sinken, nach vorn auf beide Ellbogen zu fallen, mit denen er sich auf den Tisch stützte, um, so schien es, fast ganz unter den Tisch zu sinken.

„Ja, ja, ja, da schreiben irgendwelche Heinis irgendwas, machen ein Buch daraus, schicken es hierhin und dorthin und meinen, damit einen Job zu bekommen. Am besten noch meinen.“

Die Bemerkung war an sein Gegenüber gerichtet, Stefan Drilling. Er war sein persönlicher Assistent. Zuständig für Pressearbeit, Koordination, Termine. Er war unscheinbar, nicht so eine imposante Erscheinung wie Burkhardt, und er war eher leise, gegenüber dem manchmal unangenehm lauten Burkhardt. Das Auffälligste an ihm war die viel zu große, viel zu rote Nase. An manchen Tagen war die Nase besonders rot, sie leuchtete regelrecht, niemand sprach ihn darauf an, alle aber dachten sich ihren Teil zu diesem leuchtenden Ding mitten in Drillings Gesicht. Manchmal aber leuchtete seine Nase allerdings auch dann schon auf, wenn er nur ein wenig nervös war. Das hatte ihm bereits manch unangenehme Situation eingebracht, vor allem auf behördeninternen Besprechungen, damals, im Archiv! Manche hatten sich daraus dann und wann auch schon einmal einen kleinen Scherz mit Drilling und seinem Ding im Gesicht erlaubt. Aber das war schon lange her. Seitdem hatte er seine Arbeit immer im Stillen verrichtet und war, als sich vor einigen Jahren die Gelegenheit ergab, Burkhardts persönlicher Assistent geworden. Und unter diesem Chef konnte er seine Fähigkeiten sehr schnell unter Beweis stellen. Das hat schon mancher zu spüren bekommen. Er war klug. Und hintertrieben. Intrigant. Nachdem Burkhardt ihn kennen gelernt hatte, konnte er nicht mehr auf ihn verzichten. Und Stefan Drilling hätte nicht mehr tauschen wollen. Er mochte Burkhardt vom ersten Tag an. Er liebte ihre Geistesverwandtschaft.

Burkhardt rückte wieder auf seinem Stuhl zurecht, nahm den Brief, der dem Buch beigelegen hatte, und las ihn noch einmal mit spöttisch verzogenen Mundwinkeln durch.

Stefan Drilling schrieb unterdessen weiter unbeirrt an einem Brief, ließ sich nicht durch Burkhardt stören, denn solches Stöhnen entfuhr Burkhardt ständig, wenn dieser große Körper zusammengesunken auf dem viel zu kleinen Stuhl saß.

„Stefan?“

„Ja?“, kam es militärisch knapp zurück, Drilling sah auf.

„Hast du nicht zugehört?“

Burkhardt ließ die Seiten wieder durch seine Finger gleiten.

„Nein.“

„Meinst du, mit so was kann man Erfolg haben?“

„Doch, ich glaube schon. Wenn man das richtige Thema zur richtigen Zeit bearbeitet und rechtzeitig veröffentlicht, dann kann es sein, dass man damit sogar großen Erfolg hat.“

„Hm. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.“

„Das kann schon was Spannendes sein.“

„Das sieht mir aber nicht so aus.“

„Hast du schon mal hineingeguckt?“

„Ehrlich gesagt, nein. Aber lass mal sehen“, sagte Stefan Drilling und hielt die Hand hin. Burkhardt reichte ihm das Buch über den Tisch hinüber. Für die Aufgaben, die er zu erledigen hatte, war Drillings Platz in diesem Büro eher knapp bemessen. Er saß hinter dem Schreibtisch, unmittelbar vor dem wuchtigen Regal an der rechten Seite des Büros, so dass Drilling zwischen diesem Regal und Schreibtisch eingezwängt saß, und dazu hatte er auf seinem Schreibtisch alle Ablagen und Stapel, die Burkhardt auf dem niedrigen Schränkchen neben der Türe nicht unterbringen wollte. Der Platz vor dem Schreibtisch war demgegenüber riesig. Das sollte so sein, weil es großzügiger wirkte, meinte Burkhardt. Deshalb musste Drilling seinen Bauch einziehen, wie Burkhardt einmal sagte, das war eben so bei Burkhardt – ganz einfach – zack!

Drilling hatte unterdessen begonnen zu lesen. „Das könnte man interessanter machen“, meinte er kurz darauf.

„Aha?“

Und Drilling entwarf in knappen Sätzen die Fragen, Probleme und Zusammenhänge, die er in einem historischen Projekt bearbeiten würde, er hätte sich mehr auf eine einzelne Gruppe Abgeordneter konzentriert, aus der Stadt, der Region vielleicht, und dann wäre er weiter in die Vergangenheit zurückgegangen, hätte die Abgeordneten im Nationalsozialismus untersucht, historische Brüche herausgearbeitet, Karrieren unter die Lupe genommen, aber in jedem Fall die Zeit des Nationalsozialismus genommen, damit würde man immer Aufsehen erregen, kurz, er entwarf für Burkhardt ein kleines Buch, ein Projekt, etwas, das Burkhardt am Ende aufhorchen ließ. „Und zu einer bestimmten Zeit veröffentlicht, könnte es passieren, dass man auf einmal in aller Munde ist, und das würde einigen aus der Partei deinen Namen wieder einmal in Erinnerung bringen“, schloss er seine kleine Skizze.

Burkhardt dachte nach. „Du meinst also, ich sollte mich für diesen – wie heißt der noch? – einsetzen?“

„Nein, nein, das meinte ich jetzt nicht, ich meinte eher, dass wir damit auch Erfolg haben könnten. Davon schwärmst du doch immer noch, oder?“

„Du bist verrückt!“

„Wieso?“

„Und wie sollten wir das allein aufziehen? Nein, nein, das ist mir viel zu heikel. Da sind ja tausende Fallstricke bei diesen NS-Themen zu beachten, da wird einem ja jedes Wort im Munde herumgedreht, insbesondere bei diesen Pressefritzen, die einem immer hinterher hängen und einem jedes Wort aus der Nase ziehen, und am Ende bereut man, überhaupt auch nur ein Wort gesagt zu haben, nein, nein, das ist nichts für mich!“

„Da hast du ja Erfahrung, bei deinen bisherigen Themen. Die sind ja auch nicht besonders gut angekommen“, konnte sich Drilling nicht verkneifen zu bemerken.

„Ja, ja, das habe ich mittlerweile auch bemerkt“, schnauzte Burkhardt zurück.

Drilling liebte diese Momente, in denen Burkhardt wie ein verwundeter Riese war, und er in seinen offen zutage liegenden Wunden herumstochern konnte, ohne dass er es ihm übel nehmen konnte, weil er sich selbst in diese Lage gebracht hatte. Und Burkhardt nahm sich in solchen Momenten immer wieder vor, Drilling bei der nächsten Gelegenheit wieder los zu werden. Aber er wusste auch, dass das nur der Wunsch eines kleinen Augenblicks sein konnte, denn sie waren ja geradezu aneinander gekettet. Und auch Drilling wusste, dass ihr Schicksal zu eng verwoben war, als dass er Burkhardt machen lassen konnte, was der wollte. Er wollte wissen, was Burkhardt tat und was dadurch auch auf ihn zukam. Und wenn Drilling etwas nicht leiden konnte, dann, dass er an einer für ihn selbst brenzligen Situation, die er selbst nicht zu verantworten hatte, nichts mehr ändern konnte und ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.

Burkhardt strich sich mit seiner großen Hand über das Gesicht. Dann setzte er sich zurecht, lehnte sich nach vorn und stützte seine Stirne in beide Hände.

„Also, die Geschichte der Abgeordneten. Im Nationalsozialismus. Aus unserer Stadt. Gut.“

„Nein.“

„Nein? Wieso nein? Aber du hast doch gerade ...“ Burkhardt brach abrupt ab nachzudenken und überlegte sich, ob er sauer auf Drilling werden sollte.

„Ich habe dir gesagt, was ich aus diesem Buch machen würde. Aber du brauchst ein anderes Thema. Etwas, was mit dir zu tun hat. Sonst glauben dir die Leute dein Engagement nicht.“

„Aha. So! Und was schlägst du da vor?“

„Eine Geschichte deiner Behörde. Bauen und Planen. Besser geht‘s doch gar nicht.“

„Wieso? Was soll dieses Amt besser geeignet für ein Thema machen als ...“

„Bau, Zulassung und Abnahme von Zwangsarbeiterlagern? Überplanung von Synagogen? Durchführen kriegswichtiger Aufgaben? Mit Zwangsarbeitern? Brauchst du noch mehr?“

„Ah. Äh, nein. Das reicht. Erst mal. Gut. Also...“

„Also?“

„Also, da brauchen wir einen, der das bearbeitet, einen Professor, wie wäre es mit – mit – verflixt, ich habe den Namen vergessen, der war früher auch mal aktiver in unserer Partei, falls wir den dafür begeistern können, ...“ Und sie überlegten, wie sie ein solches Unternehmen auf die Beine stellen könnten. Mit welchen Professoren, von der Universität, oder lieber doch aus den eigenen Reihen, nein, Drilling kannte jemanden von der Universität, „harmlos“, wie er meinte, „eher ein Zauderer, ein biederer Zauderer“, aber auch der könne ja hinter Geld und Stellen her sein wie der Teufel hinter der armen Seele, da müsse man also vorsichtig sein, „Aber wie der hieß ...“, nein, Drilling konnte sich nicht erinnern, Burkhardt hingegen fiel in diesem Moment der Name seines Parteifreundes ein, „Kriszeck“, richtig, Kriszeck könnte doch so ein Projekt aufziehen, der lehrte irgendetwas in Neuerer Geschichte, das müsste ja erst einmal hinhauen, und außerdem könnte man ja auch noch die Arbeitsstelle NS-Geschichte ansprechen, „das sind ja die Experten“, meinte Burkhardt. „Vielleicht“, meinte Drilling dazu, das wäre keine schlechte Idee. „Wir werden also erst einmal den einen ansprechen, den ... – Pulte! So hieß er, Pulte!“, rief Drilling schließlich.

„Nein, das war deiner, Drilling, der, den du von der Uni kennst. Ich meine aber den aus unserer Partei. Den Kriszeck! Also, Drilling, du telefonierst mit Pulte, ich mit Kriszeck.“ Burkhardt lehne sich zurück und nickte. „Schön.“

„Gut. Aber lass nicht wieder mich alles allein machen, ja? Und du solltest dieses Mal nicht wieder sofort ‚hier‘ rufen, wenn ein Posten irgendwo im Land frei wird, das geht manchen Leuten schon auf die Nerven. Lass dieses mal die anderen darauf aufmerksam werden, dass du gut bist für den nächsten wichtigen Posten.“

„Ja, ja, ja, ich halte mich dieses Mal zurück“, grummelte Burkhardt. „Aber du bist dir sicher, dass das Thema wirklich so ein Knaller werden könnte, dass ich mich da nicht selbst ins Spiel ...?“

„Das hängt davon ab, wie wir das präsentieren“, unterbrach Drilling ihn. „Und worauf es dabei wirklich ankommt! Worauf es dir ankommt!“ Drilling dachte dabei das „und mir“ in Gedanken immer mit. „Das Thema, das seriös bearbeitet werden soll, Stellen schaffen für nette Leute, schön, dass wir mal darüber geredet haben“, fuhr er also fort, „oder die Tatsache, dass du mit dem Thema auf dich aufmerksam machst? Man darf das Ziel bei dieser Sache nie aus den Augen verlieren! Und daraus ergeben sich dann ganz andere Anstrengungen und Maßstäbe.“

„Mensch, Drilling“, lachte Burkhardt, „du weißt ja, was wichtig ist, nicht wahr? Tue Gutes und rede drüber, ha, ha! Du durchtriebene Socke!“

„Aber es liegt eine Menge Arbeit vor uns, vergiss das nicht, es dauert Monate, bis wir erste Ergebnisse erzielen können. Frühestens.“

Burkhardt stand auf, ging um den Tisch herum und klopfte Drilling auf die Schulter: „Dann wollen wir mal, was? Komm, lass uns gehen, es ist schon spät geworden.“ Burkhardt griff nach seiner Tasche, öffnete die Türe und wartete dort, bis Drilling seine Sachen zusammengeräumt hatte. Ihre erfolgreichen Besprechungen ließen sie gewöhnlich bei dem etwas teureren Italiener „Capri“ neben „Annes Ecke“ bei einem späten üppigen Essen ausklingen.

Robert blinzelte in die regnerische Dunkelheit hinein, murrte ein wenig und drehte sich um.

Es war viertel nach Acht. Abends. Da konnte er gleich liegen bleiben.

Gestern war es spät geworden.

Schuld und Lüge

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