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Robert war immer noch zuhause, eigentlich wollte er ja Max abholen, aber jetzt lag er noch genau so auf seinem Sofa, wie er sich vor einer Stunde dorthin geschmissen hatte, den Arm über die Stirn, ein Bein ausgestreckt, das andere auf dem Boden, so starrte er gegen die weiße Decke und versuchte, an gar nichts zu denken. Barbara hatte wieder einmal angerufen. Es war immer so schön, Barbaras Stimme zu hören. So zärtlich und zerbrechlich nahm sie ganz von ihm Besitz, füllte ihn aus bis zum Bersten, gerade wenn sie leise sprach, so wie gerade eben, je leiser ihre Stimme war, um so tiefer hallte sie in ihm wider. Er brauchte sie. Hin und wieder wenigstens ihre Stimme. Verlangte er zu viel?

Aus den Boxen tröpfelte Sentimentales. Das brauchte er immer, wenn sie telefoniert hatten.

Erst hatte er die Fotos ihres letzten gemeinsamen Urlaubs in Italien durchgeblättert. Manchmal half es ihm, wenn er in seiner Melancholie badete. Dann war sie um so schneller vorbei.

Heute nicht.

Es regnete.

Die Tropfen rannen die Fenster hinab und er sah ihnen nach.

Und Simone hätte ihn auch nicht trösten können. Sowieso nicht. Nicht jetzt.

Im dämmrigen Regen flackerte das Licht der Gaslaterne vor seinem Fenster.

Ein Foto musste er immer wieder anschauen, eines aus dem ersten gemeinsamen Urlaub in der Toscana, sie waren einen Tag die Küste entlanggefahren, durch kleine Orte hindurch, bis sie diese kleine Straße hinauffuhren und an einer kleinen Kehre hielten, ausstiegen und sich plötzlich dieser unwirkliche Blick auftat, als ob man über das Meer und über die ganze Welt schauen könnte. Und daneben die Einfahrt zu einem kleinen Restaurant. Da hatten sie dann den ganzen Abend verbracht. Mit Blick auf das Meer, das tiefschwarz unten lag, hier und da vom Mond funkelnd beschienen.

Barbara blinzelte schelmisch in die Kamera. Und Robert konnte sie fühlen. Sogar riechen. Nur auf diesem Foto.

Er dachte an Max. Eigentlich war er ja mit ihm jetzt verabredet. In Annes Ecke. Hat er selbst vorgeschlagen. Aber jetzt konnte er nicht mehr hingehen. Ging nicht mehr. Ende. Aus. Heute war einfach zu viel passiert. Er konnte sich nicht mehr regen, nicht mehr bewegen, eine beängstigende Taubheit hatte sich in allen Gliedern festgesetzt.

Das Telefon klingelte. Max. Wo er bleibe. Er solle sich auf die Socken machen. Los jetzt! Robert schwieg. Hallooo! Komm jetzt, ich warte. Na gut, dann eben doch noch. Immerhin hörte es gerade auf zu regnen.

Robert ließ die schwere, alte Türe hinter sich zufallen. Annes Schlüsselbund schlug dumpf von innen gegen das im Laternenlicht schwarze Holz der Tür, als sie gleich hinter ihnen die schwere Kneipentüre abschloss. Sie waren wieder einmal die letzten Gäste bei „Annes Ecke“ gewesen, wie so oft. Die Nacht war kalt, die Straßen waren immer noch nass vom Regen, man konnte den Winter manchmal noch spüren, und es war noch gar nicht so lange her, dass es so kalt war, dass er nachts auf der Straße kleine Wölkchen mit seinem Atem hauchen konnte. Als er jetzt in der kühlen Nachtluft stand, wurde ihm wieder schwindlig. Er musste sich setzen. Auf den kalten Bordstein.

„Was ist los?“ fragte Max. Er blieb stehen.

„Ich weiß nicht. Mir ist schwindlig!“

Max wandte sich zum Gehen und schüttelte leise den Kopf. „Weil du betrunken bist? Ich hätte nicht die Zeche für dich zahlen sollen!“

„Nein, nein!“

„Was dann?“

„Ich weiß nicht. Wirklich! Vielleicht ...“ Robert stand auf und taumelte. Er musste sich an der Hauswand festhalten.

„Ja?“ Max kam einen hastigen Schritt auf Robert zu und fing ihn auf bevor er hingefallen wäre. Max war zwar nicht besonders groß, so dass man so viel Kraft, einen taumelnden Robert aufzufangen, gar nicht vermuten würde, aber er zog ihn auf seine Schulter und gemeinsam stolperten sie weiter.

„Vielleicht – weil es mir ssiemlich beschissen geht?“, fragte Robert in Max Gesicht hinein.

„Ich bring dich nach Hause.“

„Danke, aber das schaff ich schonnalleine.“

Robert stieß sich von der Wand ab und fiel beinahe auf das Pflaster. Er hielt sich wieder an der Wand fest.

„Scheiße!“

„Komm her!“ Max reichte ihm die Hand, um ihn hochzuziehen. Robert zögerte.

„Es geht nicht nur dir im Moment ziemlich beschissen. Ja, gut, Barbara hat sich von dir getrennt, aber ...“

„Am Telefon!“, fuhr Robert ihn an. An einem Fenster wurde ein Vorhang zur Seite gezogen. Max wurde es peinlich. Er riss Robert hoch und zog ihn einfach mit sich.

„Vielleicht hatte ich in der letzten Zeit nicht solchen Liebeskummer wie du, aber sei dir da sicher, das war nicht freiwillig!“ Max wurde allmählich sauer. „Und überhaupt – war da nicht noch die kleine Bankangestellte? Hattest du nicht gerade noch erzählt, dass ...“

„Soffie? Lass sie auss’m Spiel, ja!“

Max brach ab. In dem Zustand ließ sich mit Robert nicht reden. Das kannte er schon von einigen Abenden vorher. Als Barbara nach München ging, zum Beispiel. Als Barbara fast herausbekommen hätte, dass er noch mit Simone zusammen war. Und eben heute Abend.

„Mach dich blossnich lustich, ja?!“

Max sagte nichts.

Robert stutzte.

„Jaaa, ich weiß, ich bin ja auch froh, dass ich dich noch hab!“ Robert küsste Max auf die Wange. Max roch Roberts Fahne und wandte angewidert sein Gesicht ab. Sie waren fast unzertrennlich. Aber im Moment wollte Max das nun so genau auch nicht wissen.

Robert und Max hatten sich aber erst an der Universität kennen gelernt. Zufällig. Denn Max, eigentlich Maximilian Haas, war das genaue Gegenteil von Robert. Damals waren sie beide im gleichen Seminar und saßen zufällig an einem Tag nebeneinander. Max hatte Robert an diesem Tag etwas zugeraunt, eine beiläufige Bemerkung, leichtfertig dahergesagt, und Robert hatte etwas geantwortet.

Wahrscheinlich hätten sie nie wieder nebeneinander in einem Seminar gesessen und sie hätten wahrscheinlich auch nie wieder ein Wort miteinander gewechselt, so verschieden, wie die beiden waren. Nicht allein, dass Roberts offene Züge einen gleich in die Arme schlossen, meist wenigstens, eben bis auf so kleine Ausnahmen wie heute Abend. Max hingegen schien sich in seinem gedrungenen Körper eher zu ducken, damit er nicht Gefahr liefe, angesprochen zu werden und Rechtfertigung ablegen zu müssen für seine zu große Nase und den ewigen Stoppelbart, nein, ein Adonis war er wirklich nicht, sagte er selbst immer mit einem Grinsen. Aber nicht nur das. Robert war eher zuversichtlich, jedenfalls dann, wenn sich nicht gerade Barbara von ihm getrennt hatte oder wenn nicht alle Jobs platzten. An jenem Tag mussten sie beide recht lange vor dem Büro ihres Professors warten, sie hatten ein Seminar bei Pulte belegt, mussten beide ein Thema für eine Seminararbeit mit ihm absprechen. Und da sich Pulte immer eingehend Zeit für jeden seiner Studenten nahm, verbrachten sie reichlich viel Zeit vor dem Büro des Professors. Das wussten sie beide damals noch nicht und hatten sich deshalb pünktlich zu ihrem Termin dort eingefunden. Und gewartet. Und sich kennen gelernt.

„Gut, dass du das noch weißt.“ Max dachte an die unzähligen Abende, an denen Robert ihm sein ärmliches kleines Leben zu Füßen gelegt hat, wie er dann jammerte, und an denen er von seinen Träumen erzählt hat, mal diesen, mal jenen Traum, meist war es der Job an der Uni, mit Forschungsreisen, Vorträgen, Veröffentlichungen, Büchern, und nicht zu vergessen einem Einkommen, das immer größer wurde, wenn die Scheine in Roberts Portmonee schrumpften. Und am Ende, wenn er betrunken war, war doch alles wieder in Ordnung. Nur heute nicht.

„Es iss fast alles egal, Hauptsache wir hamm uns, nich?“

„Ah?“ Oh nein! Max sah ihn skeptisch von der Seite an. Was kommt jetzt noch?

„Jaaa, du bekommst dein Geld. Morgen. Wirklich!“

„Dann musst du deine Bankangestellte aber noch reichlich bestechen, was?“ Max schaute in den sternklaren Nachthimmel. „Ich hab nur vergessn, Geld abssuholen, dass’s alles! Ehrlich! Du bekommsses morgen ssurück! Ehrlich!“

Max fröstelte, trotz des schweren Gewichts, das sich auf ihn stützte.

„Das krieg ich schon hin, verlass dich drauf. Diese Frau ...“

Max blieb abrupt stehen, fast wäre ihm Robert von der Schulter gerutscht. Robert konnte ja sein Leid klagen, worüber auch immer, aber wenn Robert von seinen Schwerenötereien erzählte, dann versetzte es Max immer einen Stich, und er mochte ihm gar nicht mehr zuhören. Normalerweise wusste Robert, dass Max immer davon träumte, in dieser Hinsicht ein bisschen so zu sein wie Robert, es aber nicht schaffte, und normalerweise nahm Robert auch immer Rücksicht darauf. Nur manchmal rutschte ihm so eine Bemerkung heraus. Max musste tief Luft holen.

„Oh, ’schuldigung“, brabbelte Robert.

Max setzte sich wieder mühsam in Bewegung.

„Ja, ja! Soffie!“ Und Robert wirbelte seinen freien Arm in die Luft. „Das wäre ein Leben, was, mit einer solchen Frau ...?“ grölte er in die Nacht hinein.

„Sei still“, fuhr ihm Max unwirsch dazwischen, „erstens kenne ich sie nicht und zweitens hetzt du uns noch die Polizei auf den Hals mit deiner Schreierei!“

„Ach was, ich werd doch wohl noch was träumen dürfen, oder?“

Max alle Mühe, den Träumer nach Hause zu bekommen ohne selbst gegen eine Hauswand oder ein parkendes Auto zu fallen. Polizei ließ sich an diesem Abend zum Glück auch nicht sehen. Und es wurde spät. Und er musste morgen zu seinem Professor. Und es war nicht der liebenswürdige Pulte!

Schuld und Lüge

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