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Zimmer mit Aussicht

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Vier Monate zuvor: 11. September 2018

Gnadenlos brannte die Sonne vom Himmel an diesem Dienstag im Sommer, der nicht enden wollte. Der Bach, der am Schloss vorbeiführte, hatte kaum noch Wasser und war zu einem schmalen Rinnsal verkommen. Amélie Cohen trug ein schlichtes, luftiges Kleid, das ihre Figur äußerst vorteilhaft betonte. Christina Winterberg bemerkte es sofort. »Kors?«

»Genau! Aber im Outlet. Ein Schnäppchen.« Eines, das freilich immer noch einige Hundert Euro kostete. Aber in diesen Kreisen bemerkt man den Wert des Lümpchens immerhin, stellte Cohen befriedigt fest.

»Charakterköpfe also«, lenkte die Schlossherrin das Gespräch auf den Grund des Besuchs. »Ich weiß nicht, wie wir da …«

»Der Herr Winterberg selber brachte mich auf die Idee. Bei einem Sponsoren-Essen, das wir kürzlich hatten, erwähnte er, dass die Familie vor allem früher sehr aktiv auf dem Gebiet der Kunst war: sein Vater, aber auch Roberts, also Herr Winterbergs erste Frau.«

Einige Ölgemälde, die im Entree des Schlosses hingen, schienen diese Aussage zu bezeugen. »Und da dachte ich, es wäre doch eine nette Referenz an die Familie, die dank ihrer Großzügigkeit die Ausstellung überhaupt erst ermöglicht, wenn eines ihrer Bilder die Sammlung ergänzen würde. Natürlich nur, wenn die Qualität stimmt!«

»Natürlich, meine Liebe. Qualität! Da sind wir uns einig. Dafür steht der Name Winterberg.«

Schloss Conradsberg thronte leicht erhöht am Fuße des Schweizer Seerückens. Erbaut wurde es in den 1930er-Jahren nach den Ideen von Conrad Winterberg. Seine Pläne waren damals schon etwas antiquiert. Heute würde man sagen: Conradsberg ist ein Anwesen im Retro-Design. In einer Zeit, in der architektonisch der Bauhaus-Stil oder ein Le Corbusier aufkam, beharrte der Bauherr auf Anleihen beim Klassizismus. Dort eine Säule, da ein Türmchen. Winterberg senior hatte Mühe, einen Architekten zu finden, der seine Vision umsetzen konnte. Nach vier Jahren Bauzeit war es aber so weit: 1940 war das Schloss fertiggestellt: Conradsberg, eine Mischung aus griechischem Tempel und italienischem Palazzo.

Fast 80 Jahre später fügten Christina Winterberg und ihr Gast sich gut in diese Kulisse ein. Sie machten eine kurze Führung durch das Anwesen. Mit ihrem Master of Arts war Amélie Cohen erstaunt über die geradezu reaktionäre Architektur, ließ sich aber nichts anmerken.

»Wie pittoresk!« – »Oh wie eigen …« – »So etwas sieht man selten!« Sie flüchtete sich in Allgemeinplätze.

»Manchmal habe ich das Gefühl, in einem Museum zu wohnen«, fasste Christina Winterberg ihr Verhältnis zum Schloss zusammen. Kein Wunder: Überall stand Nippes auf dunklen Möbelstücken herum, beides schien den Staub magisch anzuziehen. »Und wie viel Arbeit das alles gibt. Zum Glück habe ich einen guten Hausgeist, der hier für Ordnung sorgt.«

»Und die vielen Bilder«, versuchte Amélie Cohen die Diskussion wieder auf heimischeres Terrain zu führen.

»Ja, die Bilder. Eine Familientradition. Genau. Deswegen sind Sie ja eigentlich hier …«

Von der Wand her schien der Hausherr den Dialog zwischen Amélie Cohen und Christina Winterberg aufmerksam zu verfolgen. Das Porträt war anlässlich seines 70. Geburtstags gefertigt worden: Stolz schaute er den Betrachter mit sicherem Blick an, die silbergraue Mähne unter einem Stetson gebändigt, buschige Augenbrauen, die stahlblauen, wenn auch etwas kalten Augen, das Grübchen am Kinn, hohe Wangenknochen, die breite Stirn. Ein attraktiver Mann, auch im Alter. »Natürlich kommt ein Porträt von ihm selber nicht infrage. Das wäre ihm zu protzig«, ergänzte Cohen.

So bescheiden kenn ich ihn gar nicht, dachte Christina Winterberg und sagte: »Natürlich. Das wäre überhaupt nicht sein Stil.«

Die beiden Frauen stiegen drei Stockwerke hoch und betraten ein Zimmer mit wunderbarem Ausblick auf den See. Offensichtlich wurde der Raum schon seit Jahren nicht mehr bewohnt. Die Möbelstücke waren mit weißen Leintüchern abgedeckt und auf dem Bett lag eine nackte Matratze. »Das ehemalige Zimmer von Winterbergs Sohn. Aus erster Ehe«, bemerkte Christina Winterberg ohne weitere Erklärungen. Und Amélie Cohen fragte nicht nach. Robert hatte nie einen Sohn erwähnt. Wie er überhaupt sehr sparsam mit Auskünften über sein Familienleben war. Jedenfalls sah das Zimmer nicht so aus, als ob sein Bewohner vor Kurzem noch hier gewohnt hätte oder demnächst gedachte zurückzukehren.

»Vielleicht ist hier etwas, was in die Ausstellung passt.« Die Hausherrin zeigte in eine Ecke, wo einige Bilder mit der bemalten Fläche zur Wand standen, damit sie vom Tageslicht keinen Schaden nahmen. »Es sind Bilder, die jahrelang im Estrich lagerten. Ich hoffe, sie haben nicht gelitten durch die unsachgemäße Lagerung.« Christina Winterberg setzte sich auf die Matratze, von wo augenblicklich eine Handvoll Motten aufstoben und scheinbar ziellos ein neues Versteck suchten. »Ich glaube, unser guter Hausgeist war hier schon lange nicht mehr«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gast.

»Sie erlauben?« Amélie Cohen zupfte ein paar weiße Handschuhe aus ihrer Handtasche, schlüpfte mit ihren schlanken Fingern hinein und machte sich wortlos an die Durchsicht der Gemälde. Eine Prozedur, die mehrere Minuten dauerte. Ein Bild betrachtete sie dabei deutlich länger als die anderen. Etwas schien sie zu faszinieren. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Oberfläche, hielt einen Moment inne und wiederholte die Bewegung. Fasziniert betrachtete Christina Winterberg ihren Gast, der ganz versunken schien. Sie wünschte sich insgeheim eine ähnliche Passion für sich selbst. Schließlich meinte Amélie Cohen bestimmt: »Ja, ich glaube, da haben wir ein Werk, das ganz wunderbar in die Ausstellung passt.«

Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs

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