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Vom Ende einer Lebenslüge

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Trotz der Fortschritte der letzten Jahre fehlte bislang eine Studie zum in der k. u. k. Monarchie geborenen Spitzenpersonal von Gestapo, Kripo und SD. Mitverantwortlich für dieses Desiderat war die Haltung des offiziellen Österreich zu seiner Vergangenheit. Denn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs pflegte das Land seinen von den Alliierten zugeschriebenen Opferstatus.24 Als „erstes Opfer der Hitlerschen Eroberungspolitik“ externalisierte die Alpenrepublik den Nationalsozialismus als rein „deutsches“ Problem. Dass der „Führer“ ein Landsmann war, legte man als geografischen Zufall aus. Eine Umfrage vom März 1947 ergab, dass 71 Prozent der Befragten das Land frei von jeder Schuld am Zweiten Weltkrieg wähnten. Nur mickrige vier Prozent erkannten eine Mitschuld an. Das Motto der österreichischen Lebenslüge lautete: „Das waren ja die Deutschen, nicht wir“.25 Ihren Antisemitismus überdachten die Bewohner der Alpenrepublik deshalb aber nicht. Überlebende Juden verhöhnte der Volksmund als „Hitlers Unvollendete“. Einen Film über Konzentrationslager störten in Klagenfurt Heil-Hitler- und Sieg-Heil-Rufe. Die Briten reagierten darauf gelassen, weil sie Antisemitismus für einen festen Bestandteil der österreichischen Mentalität hielten. Gegen jüdische Remigranten hatten im August 1946 fast die Hälfte aller Teilnehmer einer Umfrage etwas einzuwenden. Als in der Wochenschau Bilder ihrer Ankunft in Wien über die Leinwand flimmerten, schrie das Publikum „Vergasen!“. Auf die Bemerkung des Sprechers, sie möchten ihre zerstörte Heimat wieder aufbauen, brach im Zuschauerraum gellendes Gelächter aus. Bundespräsident Karl Renner versicherte indessen, alles zu tun, um die erneute Entstehung jüdischer Familienmonopole zu verhindern. Leopold Kunschak, der Nationalratspräsident, wurde in Anspielung auf den Herausgeber des antisemtischen Hetzblattes Der Stürmer der „Streicher von Österreich“ genannt.26

In der Opferrolle aufgegangen, verfielen die führenden Köpfe des Landes in den 1950er Jahren auf die verwegene Idee, von der Bundesrepublik Deutschland Wiedergutmachung für die NS-Zeit einzufordern. Konrad Adenauer ließ wissen, wenn Österreich dies verlange, werde er eine Urne mit den Gebeinen Adolf Hitlers nach Wien schicken. Damit war die Sache vom Tisch.27 So ungern das Land an seinen berühmtesten Sohn erinnert wurde, so heftig verdrängte es jetzt alles, was mit ihm im Zusammenhang stand. Für Jahrzehnte verschwanden die österreichischen Täter von der öffentlichen Bildfläche. Vergeben und Vergessen, dass Ernst Kaltenbrunner, Odilo Globocnik und Hermann Höfle Österreicher waren. Globocnik und Höfle leiteten die „Aktion Reinhardt“, womit sie die Verantwortung für die Ermordung von etwa 1,6 Millionen Menschen – fast ausnahmlos Juden – trugen.28 Der Oberösterreicher Franz Stangl und der Bregenzer Irmfried Eberl kommandierten die Vernichtungslager Sobibor und Treblinka. Überhaupt erblickten 40 Prozent des Personals und drei Viertel der Kommandanten solcher Lager in der k.u.k. Monarchie das Licht der Welt. Die Deportationen dorthin organisierten die „Ostmärker“ Alois und Anton Brunner, Franz Novak, Erich Rajakowitsch und Hermann Krumey. Simon Wiesenthal lastete drei Millionen der ermordeten Juden seinen Landsleuten an.29

Aber die Mauer des Vergessens bröckelte. Ende der 1980er Jahre sollte sie dann fallen. Ihrem Einsturz voran ging die Affäre Reder-Frischenschlager, die weltweit für Fassungslosigkeit sorgte. Ausgelöst hatte das Entsetzen der Handschlag, mit dem Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) im Januar 1985 den aus italienischer Haft heimkehrenden Kriegsverbrecher Walter Reder auf dem Grazer Flughafen begrüßte. Die Londoner Times, die darüber berichtete, äußerte erhebliche Zweifel an der österreichischen Opferthese. In den großen Blättern der USA füllte der Eklat ebenfalls die ersten Seiten. Die Regierung reagierte trotzig und beließ Frischenschlager im Amt. In der FPÖ sprach sich allein Jörg Haider für den Rücktritt des Verteidigungsministers aus, weil er sich für den Handschlag entschuldigt hatte.30 Das Ende der österreichischen Lebenslüge besiegelte die Affäre um Kurt Waldheim, welche die „Skandalrepublik“ von 1986 bis 1988 erschütterte. Waldheim, der Kandidat der ÖVP für den Präsidentschaftswahlkampf, hielt mit seiner NS-Vergangenheit (SA, NS-Studentenbund und Wehrmacht) hinterm Berg, womit er sich massive Kritik seitens der Medien und der SPÖ einhandelte. Die internationale Presse schaltete sich ebenfalls wieder ein. Ein Eigentor schoss sich Waldheim mit dem Satz, als Soldat der Wehrmacht habe er wie alle anderen Österreicher auch nur seine Pflicht getan. Damit war die Katze aus dem Sack. Und die Opferthese nicht mehr aufrecht zu erhalten. Gewählt wurde er im Juni 1986 dennoch. Innerhalb der in trüben Gewässern fischenden FPÖ gab es daraufhin einen Rechtsruck. Jörg Haider, ein junger Charismatiker, löste den bisherigen Parteivorsitzenden Norbert Steger ab. Die USA zogen ihrerseits Konsequenzen. Sie setzten Kurt Waldheim, den österreichischen Bundespräsidenten, als Privatperson auf die watch list, wodurch es ihm unmöglich war, legal in die Staaten einzureisen. Waldheim knickte ein. In seiner Rede zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ erklärte er im März 1988, es sollte nicht vergessen werden, dass „viele der ärgsten Schergen des Nationalsozialismus Österreicher waren“.31 Die Bilder vom Heldenplatz in Wien kehrten in die Erinnerung zurück, auf dem am 15. März 1938 weit über 200.000 Menschen wie in Trance ihrem „Führer“ zujubelten. Die Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich dankten sie ihm mit minutenlangen Sprechchören und Sieg-Heil-Rufen. Hitler selbst stieß kraftvoll ins Mikrofon: „Ich proklamiere nunmehr für dieses Land seine neue Mission. Sie entspricht dem Gebot, das einst die deutschen Siedler des Altreiches hierher gerufen hat. Die älteste Ostmark des deutschen Volkes soll von jetzt ab das jüngste Bollwerk der deutschen Nation und damit des Deutschen Reiches sein.“32 Beifall brandete auf. Beinahe geschrien waren die Sätze, in denen Hitler den österreichischen Nationalsozialisten für ihren Kampf im Untergrund Respekt zollte und den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich verkündete. Der „Führer“ des Großdeutschen Reiches nahm nun Haltung an, als ob er vor einem Vorgesetzten salutieren würde.33 Am 10. April 1938 stimmten 99,75 Prozent der „Ostmärker“ für den „Anschluss“.34

Gegner des Regimes wie Carl Zuckmayer erlebten die Märztage nicht im Rausch. Bis Ende 1938 verhaftete allein die Wiener Gestapo über 20.000 Menschen. Die jüdische Bevölkerung traf es besonders hart. Kinder wurden gezwungen, das Wort „Jude“ an die Geschäfte ihrer Eltern zu pinseln. Vom Pöbel umringt, mussten Erwachsene das Straßenpflaster schrubben, mit einer Zahnbürste Toiletten putzen oder Plakate der alten Regierung von den Wänden kratzen. Die SA plünderte derweil Warenhäuser, Geschäfte und Wohnungen. Fabrikanten und Bankiers kamen in Haft. Schläge hagelte es für Rabbiner. Sie mussten in ihren Kultgewändern „Sport“ treiben. Die Menschen trugen Schilder, mit denen sie die „Arier“ warnen mussten, nicht bei ihnen, den Juden, zu kaufen.35 Zuckmayer, nach Nazi-Mathematik ein „Mischling“, hielt sich am 11. März 1938 in Wien auf:

„An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, haßerfülltem Triumph. […] Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Haß richtete sich gegen alles durch Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde.“36

Diese Wahrheit tat weh. Während der sechs Jahre, die Waldheim im Amt war, wurde er nicht ein einziges Mal von einem westlichen Land eingeladen. Die offizielle Entsorgung der Opferthese schreibt Günter Bischof dem Altkanzler Franz Vranitzky zu, der im Juni 1993 Israel besuchte, wo er in einer Rede an der Hebräischen Universität in Jerusalem eine moralische Verantwortung seines Landes für die Verbrechen der Nazis eingestand. Vranitzky verschwieg zudem nicht, dass Österreicher zu den „brutalsten und scheußlichsten Übeltätern“ gehörten.37

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit einer der wichtigsten Tätergruppen, dem österreichischen Führungspersonal von Sicherheitspolizei und SD, blieb aber dennoch aus. Dies leistet erst die vorliegende Arbeit. Um die Personen ausfindig zu machen, die für eine solche Untersuchung in Frage kommen, wurden die einschlägigen Quellenbestände38 und die wissenschaftliche Sekundärliteratur nach der ersten Garnitur von Sicherheitspolizei und SD durchforstet. Heraus kam eine Liste mit etwa 1400 Namen. Der Geburtsort der Männer konnte mithilfe der SS-Personalakten im Bundesarchiv Berlin (BAB) ermittelt werden. Erblickten sie in der k. u. k. Monarchie das Licht der Welt, dann fanden sie nur Eingang ins Sample, wenn sie RSHA-Funktionäre (vom Referatsleiter aufwärts), Stapo- oder Kripo-Chefs (inklusive deren Stellvertreter), IdS, BdS oder KdS, Führer von SD-Abschnitten39 oder mobiler Formationen (wie den EG, EK, SK oder den Fliegenden Kommandos) waren. Das so definierte Führerkorps beläuft sich auf 51 Personen. Adolf Eichmann und Leopold Spann, obwohl in Österreich aufgewachsen und sozialisiert, schafften es aufgrund ihres deutschen Geburtsortes nicht in die Untersuchungsgruppe. Andersherum verhält es sich jedoch genauso. Reiner Gottstein und Fritz Rang wuchsen zwar in Deutschland auf, wurden aber in der Donaumonarchie geboren, was ihre Aufnahme in die Untersuchungsgruppe begründet.

In Form einer Kollektivbiografie sollen die Fragen nach der sozialen Herkunft, der politischen Sozialisation, dem weltanschaulichen Zuschnitt, der individuellen Verstrickung in die Shoah und den Nachkriegskarrieren der Ostmärker beantwortet werden.40 An die Stelle einer grauen anonymen Masse treten so Menschen mit Gesichtern, die ihren Daumen hoben oder senkten, über Kimme und Korn anvisierten, von ihren Fäusten Gebrauch machten und noch fünf vor zwölf Abweichler richteten. Es entsteht das Bild von Männern mit einer spezifischen Vergangenheit, die ihre Ressentiments auslebten sowie mit Organisations- und Selektionsleistungen zum Massenmord beitrugen. Ideologische Unbedingtheit zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Biografien.

Entsprechend ihrer Konzeption gliedert sich die Arbeit in drei große Abschnitte. Im ersten wird eine Typologie des österreichischen Führungspersonals entworfen, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Lebensläufe aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach dem Nährboden zu stellen sein, auf dem Xenophobie und Antisemitismus gediehen. Zur Orientierung des Lesers, und außerdem als Kontextualisierung unabdingbar, erschien ein Überblick zu den Institutionen, in denen die Ostmärker Karriere machten. Eingeflochten sind hier biografische Fallbeispiele von Vertretern der jeweiligen Sparte. Der zweite Abschnitt ist das eigentliche Herzstück der vorliegenden Untersuchung. Im Kapitel „Karrieren österreichischer Weltanschauungstäter“ werden Humbert Achamer-Pifrader, Rudolf Mildner, Helmut Glaser, Herbert Strickner, Gerhard Bast und Ernst Kaltenbrunner porträtiert. Zu ihnen erwies sich die Quellenlage als am dichtesten. Überdies stehen sie für die Spannbreite an Persönlichkeiten, die es auch in einer ansonsten recht homogenen Gruppe gibt. Vom Chef des RSHA einmal abgesehen, waren ihre Namen bisher allenfalls einem kleinen Fachpublikum von Forschern bekannt. Mutatis mutandis lässt sich diese Feststellung für das gesamte Sample treffen. Nur Otto Skorzeny dürfte den an Militärgeschichte Interessierten ein Begriff sein. Einen biografischen Abriss zu jedem Ostmärker des Samples bieten die Kurzbiografien im Anhang, die auf den dritten Themenkomplex folgen, in dem das Kriegsende und die Zeit nach 1945 beleuchtet werden: Wie verhielt sich die Speerspitze des Repressions-Apparats in Anbetracht der Niederlage? Welches Strafmaß erwartete diesen Täterkreis? Gab es einen beruflichen Neuanfang? Wer verschwand und tauchte womöglich nie wieder auf?

Heydrichs Ostmärker

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