Читать книгу Das Weg ist das Ziel - Max Kohlhaas - Страница 8

Einschlafphase

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Zurück in den eigentlichen Bücherraum gedrängt scheint mir alles plötzlich so unfreundlich. Das urige, heimatliche Gefühl dieses kleinen Raumes war verschwunden. Das bisschen was mal da war.

Übrig geblieben ist das Gefühl von Unheil in mir und eine erschreckende, lauernde Atmosphäre.

Der Grund dafür, neben den seltsamen Geschehnissen in diesen Wänden, ist unter anderem die nicht dämmernde, sondern in ihrer vollen Pracht scheinende Nacht. War ich denn wirklich so lange mit meinen Gedanken beschäftigt? Wie lange hat das Mädchen mir etwas erzählt?

Der alte Holzboden knarrt mit jedem Schritt den ich tue lauter.

Inzwischen sind beide Männer wieder anwesend. Sie haben Tee mitgebracht. Er wird mir angeboten, ich trinke.

Es ist eine Pfirsich-Schwarztee-Mischung. Ich habe ihn noch nie getrunken, aber der Geschmack erinnert mich an ein Kindheitserlebnis:

Ich war damals gerade sechs geworden, dass weiß ich noch so genau, weil mir meine liebe Großmutter seit meinem sechsten Geburtstag bis hin zu meinem achtzehnten immer eine Schachtel Pralinen schenkte. Es waren immer die gleichen.

Eine rechteckige, blaue Verpackung mit einer roten, breiten Schleife umbunden.

Wenn man die Verpackung öffnete, stach einem, sobald man den von der Luft gehaltenen Deckel vorsichtig abnahm, eine weiße, seidene Decke entgegen. Hauchdünn und duftend.

Unter der Decke war eine weiße Papierschicht und darunter endlich die Schokoladentrüffel, die mit Haselnusscreme gefüllten Waffeln, zwei Kokospralinen, an der rechten Seite eine Auswahl an Pralinen mit sämtlichen Nüssen, links das gesamte, wünschenswerte Nougatbuffet und in der Mitte eine einzige Rumpraline aus weißer Schokolade und dunkler Verzierung oben auf.

Insgesamt waren es 32 Pralinen.

Doch es gab Regeln. Dieses Geschenk war die Art meiner Großmutter mir das Genießen beizubringen. Ich durfte immer nur eine Praline am Tag essen.

Das sagt sich jetzt, da ich weiß wie es funktioniert so leicht, aber mit sechs Jahren hätte ich gerne mein heutiges Wissen besessen.

Von solchen Abreibungen auf den blanken Hosenboden kann ich heute nur noch träumen.

Als meiner Mutter damals auffiel, dass ich an einem Tag drei anstatt einer gegessen hatte, legte sie mich auf ihr schönes Sommer-Blumenkleid über die Knie und verpasste mir Schläge, die ihr wohl einst zustanden.

Wenn meine Großmutter mich sonst schon nichts gelehrt hatte, dann zumindest den Genuss und den Verzicht, mit meiner Mutter als ihrem Helfer.

Das Jahr in dem ich sechs wurde, war das einzige in dem ich Prügel bezog wegen Verstoß gegen die Regeln. Später stellte ich es geschickt an.

Mein Geburtstag lag und liegt immer noch im Dezember und die Neujahrsnacht war eine der wenigen Ausnahmen im Jahr, an denen es kleinen Kindern wie mir damals erlaubt war bis nach Mitternacht auf zu bleiben.

Ein jeder wahrer Genießer wie ich es war, kann sich schon längst denken, was mein Plan war.

Ich aß also um kurz vor Mitternacht eine und eine Minute später, als sich meine Familie in den Armen lag, um das neue Jahr zu feiern, die zweite Praline. Damit hatte ich keine Regel gebrochen und trotzdem mehr als sonst.

Meine Großmutter hätte mir sicherlich auch zu späteren Geburtstagen als dem achtzehnten weiterhin Pralinen geschenkt, aber kurz nach Neujahrsbeginn erlag sie ihrem Brustkrebs, wie er allen Frauen der Familie bisher früher oder später zuteil wurde. Ich hatte bis dorthin schon zehn der Pralinen gegessen, also waren noch zweiundzwanzig übrig und ich schwor mir von nun an mir jedes Jahr nur eine einzige zu gönnen. Sie waren so süß, dass ich mir um ihre Haltbarkeit keine Gedanken machen musste, sie würden, wenn sie müssten, meine Person selbst überleben und einem kleinen Kind noch den Genuss eintrichtern.

Sie würden also bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr anhalten.

Zurück aus meiner Erinnerung, in die sehr verwirrende Wirklichkeit geschmissen, versuche ich den Grund für mein Abschweifen wiederzufinden. Genau. Der Tee.

Ebenso wie die dünne Decke, unter der die Pralinen sanft gebettet waren roch, schmeckt der Tee den mir die beiden mir höchst suspekten, aber doch freundlichen Männer einschenkten.

Als kleinen Genuss zum Tee gibt es etwas Süßes. Der Mann mit der Brille und dem Bart hält mir eine große, weiße Porzellanschüssel vor und ich wusste, weil auch sie es so getan hatten, dass ich nur eine Kleinigkeit daraus entnehmen sollte, wenn ich mir einen peinlichen Moment ersparen will.

Schokotropfen, mit Schokolade umhüllte Kaffeebohnen, Blätterkrokant und anderes Gutes birgt das Innere der Schüssel, aber rasch entscheide ich mich für etwas in Silberpapier gepacktes. Ausgepackt und zerteilt mit meinen Zähnen, stelle ich fest, dass es eine Nougat Pistazien Praline ist. Sie ist gut und zerfließt mir auf der Zunge bis in die Wangen.

Das Weg ist das Ziel

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