Читать книгу Königreich zu verschenken - Nicole Gozdek - Страница 6

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Etwa zur selben Zeit in einem anderen Hotel.

Peter unterdrückte ein Gähnen. Geschafft! Nach den scheinbar endlosen Verhandlungen der letzten Tage waren nun endlich alle zufrieden und er wurde nicht länger als Schlichter benötigt. Er konnte sich wieder auf die Heimreise machen.

Peter griff zum Telefonhörer. Nachdem er sich um einen Rückflug gekümmert und seine Rückkehr zu Hause angekündigt hatte, konnte er sich zum ersten Mal an diesem Tag etwas entspannen. Für heute war seine Arbeit erledigt und sein Flieger würde erst morgen gehen. Zeit genug also für eine erfrischende Dusche und ein gemütliches Abendessen.

Doch er war kaum wieder aus der Dusche heraus, als er es auch schon an der Tür klopfen hörte. Hätte er nicht die Badezimmertür offen gelassen, er hätte es nicht gehört. Einen flüchtigen Augenblick überlegte er, ob er das Klopfen nicht einfach ignorieren sollte. Doch andererseits, wenn es etwas Wichtiges war? Seufzend trottete er zur Tür.

„Ich komme ja schon!“, rief er und öffnete die Tür einen Spalt weit.

Sam MacBride strahlte ihn an. Wie konnte der Kerl bloß immer so gut gelaunt sein, fragte sich Peter. Sam MacBride war der einzige seiner Verhandlungspartner, der nie seine gute Laune verloren hatte, egal wie lange sich die Verhandlungen an dem Tag schon hingezogen hatten. Er war nachts um eins genauso gut gelaunt wie morgens um neun.

„Peter!“, begrüßte MacBride ihn donnernd. „Wie schön, dass Sie noch nicht abgereist sind! Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen.“

„Sam“, entgegnete Peter überrascht. „Ich hoffe, es sind keine unerwarteten Probleme aufgetreten?“

Sam lachte fröhlich und grinste. „Nein, mein Freund. Es ist alles in bester Ordnung. Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen. Kommen Sie näher!“ Er zeigte auf einen kleinen Karton, der neben ihm auf dem Flur stand.

Neugierig trat Peter etwas näher heran und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Was hatte MacBride sich nun ausgedacht? Peter bemerkte, dass der Karton nicht richtig verschlossen war. Erstens war er nicht zugeklebt und zweitens schien der Karton schon etwas älter zu sein, denn er hatte nicht unbeträchtliche Löcher.

MacBride bückte sich und öffnete den Karton von oben. Ein leises Winseln ertönte, als er den kleinen Racker aus seinem Gefängnis befreite.

Ein Welpe! Peter war entzückt. Nur zu bereitwillig nahm er MacBride seine Last ab, als er ihm den Welpen entgegenhielt. Der Welpe leckte an seinem Gesicht und wedelte freudig mit dem Schwanz.

„Ein entzückender Hund, Sam!“, erklärte Peter begeistert.

„Freut mich, dass Sie so denken, Peter“, entgegnete der Amerikaner. „Ich habe bemerkt, wie Sie meinen Hund heute bewundert haben, und da habe ich beschlossen, mich für die gute Zusammenarbeit mit Ihnen zu bedanken und Ihnen einen seiner Welpen zu schenken.“

Peter blickte überrascht auf. „Aber das kann ich unmöglich annehmen!“, protestierte er. „Ich habe schließlich nur meine Arbeit gemacht, dafür müssen Sie sich nicht bedanken! Und schon gar nicht mit einem so wunderbaren Geschenk!“

Sam strahlte. „Möchte ich aber. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie den Welpen annähmen.“

Peter konnte schlecht auf seinem Protest beharren, ohne MacBride zu kränken. Und abgesehen davon benutzte der Welpe in diesem Moment seine größte Waffe gegen ihn, seine treuherzigen, warmen Augen. Zwei gegen einen. Peter hatte keine Chance. Bereitwillig gab er nach. „Ich danke Ihnen. Ein schöneres Geschenk hätten Sie mir nicht machen können.“

MacBride nickte zufrieden und warf einen Blick auf die Uhr. „Oh, schon so spät! Es tut mir leid, ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden. Meine Frau wartet darauf, dass ich sie zum Essen ausführe.“ Er machte ein paar Schritte in Richtung Fahrstuhl und drehte sich kurz um. „Sie müssen sich noch einen Namen für ihn ausdenken!“, erinnerte er ihn. „Ich wünsche Ihnen einen guten Heimflug!“

MacBride eilte zum Fahrstuhl, drehte sich noch einmal kurz um, um Mann und Hund zuzuwinken, und verschwand in der Kabine, während Peter gedankenverloren seinen Welpen betrachtete.

„Was soll ich jetzt mit dir machen? Hm?“, fragte er ihn. Er hatte zwar die Absicht, den kleinen Racker zu behalten, aber das stellte ihn vor ein paar Probleme, von denen das Finden eines geeigneten Namens noch das Geringste war.

„Wie bekomme ich dich bloß nach Hause? Ich kann dich ja schlecht mit ins Flugzeug nehmen, nicht wahr?“ Doch der Gedanke war verlockend. Er würde sich den ganzen Papierkram und dem armen, kleinen Burschen all die ärztlichen Untersuchungen ersparen.

Peter beschloss, später über dieses Problem nachzudenken. Erst einmal wollte er sich jetzt richtig anziehen, etwas essen und sich um Futter und eine Leine für seinen neuen, kleinen Freund kümmern. Er nahm den Karton und drehte sich um. Weil er keine Hand mehr frei hatte, lehnte er sich mit der Schulter gegen die Tür, um sie zu öffnen.

Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter. Statt die Tür hinter sich anzulehnen, hatte er sie ins Schloss gezogen, er musste wohl oder übel doch eine Hand zu Hilfe nehmen. Seufzend stellte er den Karton ab und drehte den Türknauf. Einmal, zweimal. Vergeblich.

„Oh nein!“, stöhnte er. Er hatte sich doch tatsächlich ausgesperrt! Und nun?

Peter dachte an das Bild, das er bieten musste, und betete, dass ihn niemand sah. Ein Mann von Ende zwanzig stand nur mit einem Handtuch bekleidet auf dem Hotelflur, die Haare noch leicht feucht und einen kleinen Hund auf dem Arm. Er hoffte, er sah nicht so verloren aus wie das Hündchen.

Was sollte er jetzt machen? Ohne seine Karte kam er nicht in sein Zimmer und auf dem Flur stehen bleiben konnte er schließlich auch nicht. Blieb ihm nur noch, jemanden vom Personal um Hilfe zu bitten.

Bei dem Gedanken verzog er das Gesicht. Das würde peinlich werden! Er konnte sich schon das wissende Grinsen vorstellen, mit dem der Hotelangestellte ihn betrachten würde. Er wäre zwar nicht der Erste oder der Letzte, der sich aussperrte oder ausgesperrt wurde. Doch sie irrten sich, wenn sie glaubten, dass seine Geliebte ihn nach einem Streit vor die Tür gesetzt hatte. Er hatte nämlich keine.

Seufzend sah er seinen Welpen an. Gerührt stellte er fest, dass der kleine Bursche in seinen Armen eingeschlafen war. Behutsam veränderte er seinen Griff, um ihn nicht aufzuwecken. Dann machte er sich auf die Suche. Wenn er Glück hatte, befand sich ein Hotelangestellter in diesem Moment auf seiner Etage.

Er hatte kein Glück. Kein Mensch weit und breit zu sehen.

„Wenigstens bin ich bisher keinem anderen Hotelgast begegnet!“, dachte er. Doch er wusste genau, dass er das nicht vermeiden konnte. Die einzige Möglichkeit, wieder in sein Zimmer zu kommen, bestand darin, einen Hotelangestellten zu finden, diesem sein Missgeschick zu erklären, um eine neue Karte für sein Zimmer zu bekommen. Doch um einen Hotelangestellten zu finden, musste er runter zur Rezeption und auf dem Weg dorthin niemandem zu begegnen, war unmöglich.

Widerwillig machte er sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Je eher er es hinter sich brachte, desto besser. Den Welpen immer noch auf dem Arm, wartete er darauf, dass der Fahrstuhl kam. Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, den Kleinen wieder in den Karton zu sperren und sich alleine auf den Weg zur Rezeption zu machen.

Ein leises Klingen machte ihn darauf aufmerksam, dass der Fahrstuhl endlich da war. Ungeduldig wartete er darauf, dass die Türen aufglitten. Wenn er Glück hatte, war der Fahrstuhl leer und er musste sich keine dummen Bemerkungen oder gut gemeinte Ratschläge anhören.

Er hatte ausnahmsweise Glück. Erleichtert betrat er den Fahrstuhl und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Peter wartete. Dann hielt der Fahrstuhl. Er blickte auf. Konnte es sein, dass sie schon im Erdgeschoss waren? Dauerte die Fahrt sonst nicht länger?

Sechster Stock. Oh, oh!

Die Türen glitten langsam auf und gaben den Blick auf eine Frau in den Dreißigern frei. Die Frau betrat den Fahrstuhl und musterte Peter neugierig. Ihr Blick glitt vom Kopf bis zu seinen nackten Füßen und verharrte kurz verblüfft auf dem Welpen.

„Aber hallo!“, säuselte sie und lächelte ihn an.

„Hallo“, erwiderte Peter kurzangebunden.

„Sie Ärmster! Ausgesperrt?“ Sie sah ihn wissend an.

Das war eigentlich keine Frage, sondern mehr eine Einladung zu einem Gespräch. Wenn er nicht völlig unhöflich sein wollte, dann musste er antworten. Notgedrungen rang er sich ein „Ja“ ab und hoffte, dass die Frau danach Ruhe geben würde.

Aber sie ließ ihn nicht in Ruhe. Im Gegenteil, sie rückte sogar noch näher an ihn heran, obwohl in der Kabine weiß Gott genug Platz für zehn weitere Personen war. Ohne Scham legte sie ihm eine sorgfältig manikürte Hand auf die Schulter.

„Welche Frau ist denn so herzlos und sperrt zwei so entzückende Wesen aus?“, hauchte sie und rückte noch ein Stückchen näher an ihn heran, während sie ihre Hand von seiner Schulter langsam zu seiner Brust wandern ließ.

Hilfe! Er wurde sexuell belästigt!

Schockiert überlegte er, wie er sie bloß wieder loswerden konnte. Möglichst unauffällig rückte er ein Stückchen von ihr weg, doch so schnell ließ sie ihn nicht entkommen. Sie folgte ihm. Er ging noch einen Schritt zur Seite, sie machte ebenfalls einen Schritt. Er geriet in Gefahr, in die Ecke gedrängt zu werden. Gezwungenermaßen blieb er stehen. Peter betete, dass der Fahrstuhl endlich im Erdgeschoss ankam.

„Sie sollten ihr das nicht einfach so durchgehen lassen, finde ich“, fuhr sie beschwörend fort und ließ ihren rechten Zeigefinger über sein Schlüsselbein gleiten. „Wahrscheinlich wartet sie darauf, dass Sie vor ihrer Tür warten und sie anflehen zu öffnen, nicht? Warum lassen Sie sie nicht ruhig noch etwas länger zappeln? So behandelt man doch nicht einen so stattlichen Mann wie Sie. Ich wüsste, wie man einen Mann verwöhnt.“ Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.

Erdgeschoss! Peter verspürte eine immense Erleichterung, als die Türen endlich aufglitten und ihn von seiner Begleiterin befreiten. Widerwillig rückte diese ein Stückchen von ihm ab. Doch aufgegeben hatte sie noch nicht.

„Denken Sie darüber nach!“ Sie schenkte ihm ein letztes verführerisches Lächeln und machte einen Schritt zum Ausgang. „Zimmer 612“, hauchte sie und verließ hüftwackelnd den Fahrstuhl.

Peter hatte nicht die Absicht, auf ihr Angebot einzugehen. Frauen wie sie verursachten ihm Unbehagen, aber das würde er niemals zugeben. Besonders nicht vor seinem jüngeren Bruder. Dieser hätte die Gelegenheit niemals ungenutzt verstreichen lassen.

Erleichtert darüber, dass er sie los war, wartete er einen Augenblick, bevor er den Fahrstuhl verließ. Vorsichtig sah er um die Ecke. Abgesehen von dem jungen Hotelangestellten, der an der Rezeption arbeitete, war niemand zu sehen. Erleichtert huschte er, den Hund in den Armen, zur Rezeption.

Der junge Mann spürte, dass sich jemand näherte, und sah erwartungsvoll auf. Als er Peter sah, fiel ihm vor Überraschung die Kinnlade herunter. Er musterte den Gast von Kopf bis Fuß und schenkte dem Welpen einen zweiten Blick. Es bedurfte sichtlich einiger Anstrengung, bis er sich wieder gefasst hatte.

„Ja, bitte?“, fragte er unsicher und räusperte sich.

„Ist es möglich, dass ich eine zweite Karte für mein Zimmer bekomme?“, erkundigte sich Peter und streichelte dem Welpen kurz über den Kopf, während der andere Mann ihn beobachtete.

„Ihre Freundin hat Sie wohl ausgesperrt?“, fragte der junge Mann mitfühlend.

Peter war genervt, aber er versuchte, sich das nicht ansehen zu lassen. „Ich habe keine Freundin“, erwiderte er. „Ich habe mich selbst ausgesperrt, als ich vor wenigen Minuten von einem Geschäftspartner diesen Welpen geschenkt bekommen habe“, erklärte er bemüht geduldig. „Meine Karte liegt immer noch auf dem Wohnzimmertisch. Also, besteht die Möglichkeit, dass ich eine zweite Karte bekomme oder dass mich jemand wieder hereinlässt?“

Das Telefon klingelte. „Selbstverständlich“, erwiderte sein Gegenüber lächelnd. „Wie ist denn Ihre Zimmernummer?“

„904“, antwortete Peter erleichtert.

Das Telefon klingelte ein zweites Mal. Der junge Mann lächelte entschuldigend und griff zum Hörer. „Gehen Sie schon mal vor!“, forderte er ihn auf. „Ich komme gleich nach, sobald ich dieses Gespräch beendet habe.“

Peter nickte dankbar. Wenigstens musste er nicht hier in der Eingangshalle warten, wo jeden Moment jemand hereinkommen konnte, um ihn anzustarren. Er würde lieber vor seiner Zimmertür warten.

Langsam kehrte er zum Fahrstuhl zurück. Der Fahrstuhl war noch da, doch die Türen schlossen sich in diesem Moment langsam. Er musste sich zwar etwas beeilen, aber er schaffte es ohne große Mühe, den Fahrstuhl noch zu erreichen.

Die Türen hatten sich bereits hinter ihm geschlossen, als er bemerkte, dass er nicht alleine war. Eine ältere Dame, Peter schätze sie auf Ende sechzig, in einem konservativen Kostüm stand auf der anderen Seite der Kabine, in einer Hand eine altmodische Handtasche, in der anderen ein großer Regenschirm mit einer Metallspitze. Sie erinnerte Peter an das typische Großmütterchen aus den Fernsehwerbungen, die ihre Enkel mit traditionellem Kuchen und ihre Töchter beziehungsweise Schwiegertöchter mit Haushaltstipps versorgte.

Peter war erleichtert. Von dieser alten Dame ging keine Gefahr aus. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie auf die Idee kommen könnte, ihn sexuell zu belästigen.

Sie bemerkte ihn zum ersten Mal, als er sich vorbeugte, um auf die Neun zu drücken. Er lächelte sie an. Sie kniff die Augen zusammen, nahm ihre Brille ab, holte ein besticktes Spitzentaschentuch aus ihrer Handtasche und putzte sie. Danach setzte sie ihre Brille wieder auf. Und als sie begriff, dass sie zuvor keine Halluzination gehabt hatte, sondern dass dieser unverschämte Kerl tatsächlich nackt vor ihr stand und sie frech angrinste, verwandelte sich ihre sprachlose Verblüffung in maßlose Empörung.

„Sie ... Sie Unhold!“, schimpfte sie empört. Vor Wut fehlten ihr die Worte und das Atmen fiel schwer vor lauter Aufregung.

Peter war völlig überrumpelt. Wie bitte? Fassungslos stellte er fest, dass sich das harmlose Großmütterchen in eine tobende Furie verwandelt hatte, die ihn entrüstet anstarrte. Er hatte ihr doch gar nichts getan!

Die alte Dame hatte in der Zwischenzeit ihre Sprache wiedergefunden und setzte zu einer wahren Schimpftirade der Empörung an. „Unhold! Sittenstrolch! So etwas wie Sie sollte man einsperren! Schämen Sie sich denn gar nicht, so unzüchtig herumzustolzieren und ehrbare Frauen zu belästigen?“

Peter versuchte, sich von diesem unerwarteten Angriff wieder zu erholen. Wäre das Ganze nicht so absurd gewesen, so irreal, er hätte lachen können, aber so fehlten ihm erst einmal die Worte. Regungslos ließ er die Moralpredigt über sich ergehen.

Als die alte Dame innehalten musste, um erschöpft Luft zu holen, hatte er sich vom ersten Schreck wieder erholt. Er würde versuchen, sie wieder zu beruhigen, er war schließlich kein Exhibitionist, der Spaß daran hatte, nackt über Fußball- oder Polofelder zu laufen! Er hatte sich doch nicht freiwillig in diese unangenehme Lage gebracht und außerdem hatte er doch noch immer ein Handtuch züchtig um die Hüften gewickelt!

Beschwichtigend hob er die Hand und rang sich mühsam ein Lächeln ab. „So hören Sie doch, ich ...“

Entsetzt kreischte sie auf. Er würde sich doch nicht tatsächlich an ihr vergreifen wollen, oder? Zitternd wich sie einen Schritt zurück. Sie war völlig hilflos! Und wenn sie daran dachte, dass sie gestern noch über ihren Sohn gelacht hatte, der ihr ein Pfefferspray gekauft hatte, damit sie sich gegen Diebe wehren konnte, falls sie mal abends in der Stadt war! Hätte sie es doch nur angenommen! Nun hatte sie keine Waffe, um sich gegen diesen Verbrecher zu wehren!

Zitternd packte sie ihre Handtasche und ihren Regenschirm fester. Der Regenschirm! Natürlich! Damit konnte sie sich verteidigen! Erleichtert blieb sie stehen und schwang ihre improvisierte Waffe drohend gegen ihren Angreifer.

„Halten Sie sich fern von mir!“, befahl sie. „Sonst, sonst ...“

Peter fühlte sich zusehends von allen guten Geistern verlassen. War er denn im falschen Film? Erst wurde er sexuell belästigt und dann im Gegenzug für einen abnormen Flitzer gehalten, der Spaß daran hatte, alte Damen einzuschüchtern. Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Situation zu entschärfen und das Missverständnis aufzuklären!

„So hören Sie mir doch zu!“, flehte er. „Ich bin kein ...“

„Stopp!“, befahl sie panisch und schwang ihren Regenschirm. Er würde sich davon nicht aufhalten lassen, wurde ihr plötzlich klar. Er war viel stärker als sie! Wenn sie zuließ, dass er sich ihr näherte, dann hatte sie keine Chance gegen ihn! Sie musste sich jetzt wehren! Entschlossen packte sie ihren Schirm fester. Jetzt oder nie! Sie ließ den Schirm mit all ihrer Kraft auf den Fuß ihres Gegners sausen.

„Aaargh!“

Wimmernd vor Schmerzen hüpfte er auf einem Fuß. War sie denn verrückt geworden? Er hatte ihr doch nichts getan!

Als sie ihn vor Schmerzen zusammenzucken sah, durchflutete sie eine Welle des Triumphs. Diesem Kerl würde sie es zeigen! Er würde nicht noch mal hilflose, ältere Frauen belästigen! Sie ergriff ihren Knüppel und schlug wieder zu.

Er krümmte sich vor Schmerzen, als die Hiebe unbarmherzig auf ihn niederprasselten. Sein einziger bewusster Gedanke galt dem Welpen. Er musste seinen Welpen vor dieser Irren beschützen! Schützend hielt er die Arme vor ihn und drehte sich zur Seite, damit sie ihn nicht erreichen konnte.

Der Fahrstuhl kam endlich zum Stehen. Sie versetzte ihm einen letzten Hieb und mit einem geschnauften, aber hörbar zufriedenen „Mistkerl!“ verließ die alte Dame die Kabine. Ihrem Opfer schenkte sie keinen Blick mehr.

Wimmernd vor Schmerzen ließ er sich auf die Knie sinken. Sein Welpe winselte leise. Er war unverletzt. Peter war es gelungen, die Hiebe von dem Kleinen fernzuhalten.

Die Türen glitten zu und der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung. Nach einigen Augenblicken hielt er endlich im neunten Stock. Peter sah auf. Mühsam bewegte er sich und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Langsam krabbelte er Richtung Ausgang, den Welpen auf dem Arm. Jede Bewegung verursachte ihm Qualen. Meter um Meter kämpfte er sich in Richtung seines Zimmers vor.

„Oh, mein Gott!“

Entsetzt eilte der junge Hotelangestellte herbei, die Ersatzkarte in der Hand. Peter ließ es zu, dass der Mann ihm hilfreich unter die Arme griff und ihn zu einem der Stühle geleitete, die auf dem Flur standen. Wimmernd ließ er sich auf den Stuhl fallen.

„Was ist denn bloß passiert?“, erkundigte sich der junge Mann fassungslos. „Sie sehen aus, als wären Sie einer Schlägerbande in die Hände gefallen.“

Peter lachte auf und bereute es augenblicklich, als die Schmerzen ihm den Atem zu nehmen drohten. Langsam und vorsichtig atmete er ein und aus.

„Wenn es doch nur eine Schlägerbande gewesen wäre!“, seufzte er. „Dann könnte ich zu meiner Ehrenrettung sagen, dass sie in der Überzahl gewesen sind. Wenn ich zu Hause erzähle, dass ich von einer rasenden Irren verprügelt worden bin, die meine Großmutter sein könnte, dann lachen sie mich mit Sicherheit aus.“

„Eine alte Frau?“, fragte der junge Mann verblüfft.

Peter nickte und blickte auf seinen Welpen, der den Blick aus treuherzigen Augen erwiderte. Er lächelte kurz, als der Welpe ihm die Hand leckte und erfreut winselte. „Wenigstens ist ihm nichts passiert!“, stieß er erleichtert hervor.

„Aber warum macht jemand so etwas?“

Peter zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich war kaum im Fahrstuhl, da ist sie wie eine Furie auf mich losgegangen und hat mich beschimpft. Einen Unhold hat sie mich genannt und bevor ich ihr erklären konnte, wie ich in diese missliche Lage gekommen bin, hat sie mich auch schon mit ihrem Regenschirm attackiert, als ginge es um Leben und Tod.“

„Sie hat gedacht, Sie wollten sie vergewaltigen?“, erkundigte sich der junge Mann.

„Absurd, nicht?“ Peter lachte verbittert. „Dabei bin ich wahrscheinlich der Letzte in dieser Stadt, vor dem sie Angst haben sollte.“

Der Hotelangestellte nickte mitfühlend und tätschelte ihm vorsichtig den Arm. „Ich werde einen Verbandskasten holen“, bot er an.

Peter lächelte dankbar. Er musste nicht lange warten, bis sein freundlicher Helfer wieder zurückkam. Anscheinend gab es in diesem Hotel in jedem Stockwerk einen Erste-Hilfe-Kasten.

Der andere öffnete den Kasten und holte ein Desinfektionsmittel, Wattebäuschchen und ein paar Pflaster heraus. Er öffnete die Flasche und schüttete etwas von dem Mittel auf ein Wattebäuschchen. „Das wird jetzt weh tun“, warnte er und begann einen Kratzer auf seinem Oberarm zu behandeln.

Trotz der Warnung zuckte Peter vor Schmerzen zusammen. Es brannte höllisch. Er hatte den Eindruck, als stünde sein Arm in Flammen. Vorsichtig nahm sich der junge Mann einen Kratzer nach dem anderen vor. Nach den Armen behandelte er den Rücken und danach kümmerte er sich um seinen lädierten Fuß, den sie zuerst attackiert hatte. Behutsam tastete er ihn ab. Peter musste ein Wimmern unterdrücken, aber er sagte kein Wort. Er wusste, dass der andere schon so vorsichtig wie möglich war.

„Gebrochen scheint er nicht zu sein“, beruhigte er ihn.

„Na, wenigstens etwas!“, seufzte Peter und überließ sich der sanften Pflege des anderen Mannes, der seinen Fuß behutsam bandagierte und sich dann langsam die Unterschenkel hocharbeitete. Er ging sehr sanft zu Werke.

Zu sanft.

Peter wurde klar, dass etwas nicht stimmte. Die Finger des jungen Mannes glitten langsam, aber beharrlich immer höher und näherten sich dem Handtuch, also Regionen, die die Furie verschont hatte und die nun wirklich keiner Behandlung bedurften. Er starrte ihn an, während der junge Mann sich aufrichtete, ihn zärtlich anguckte, mit einer Hand vorsichtig unter das Handtuch glitt und sich nach vorne neigte, um ihn sanft zu küssen.

Peter spürte, wie er rot anlief. Völlig durcheinander wusste er im ersten Augenblick nicht, was er tun sollte. Der Welpe rettete ihn, indem er kläffte.

Der junge Mann zuckte erschrocken zusammen und richtete sich auf. Schuldbewusst wurde ihm klar, was er getan hatte, und sein Gesicht wurde noch ein bisschen dunkler als Peters. „Es tut mir leid“, stammelte er. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Mein Verhalten ist unverzeihlich.“ Er nahm die Hände weg und packte rasch das Verbandszeug weg, das Gesicht immer noch glühend rot.

Währenddessen überlegte Peter, was er nun tun sollte. Sollte er sich beschweren oder den Vorfall einfach ignorieren? Hatte er den jungen Mann vielleicht, ohne es zu wissen, durch irgendetwas ermutigt? Er rief sich die letzten Minuten ins Gedächtnis. Aus den mitfühlenden Blicken des jungen Mannes hatte nicht nur Sorge um das Wohlergehen eines Gastes gesprochen, wurde ihm plötzlich klar. Und statt die Schwärmerei des anderen Mannes von Anfang an zu unterbinden, hatte er ihn angelächelt und damit die völlig falschen Signale gesendet!

Nein, beschweren könnte er sich höchstens über seine eigene Blindheit. Verlegen beschloss er, den peinlichen Zwischenfall einfach zu ignorieren. Er konnte nur hoffen, dass der andere genauso dachte.

Der junge Hotelangestellte hatte das Verbandszeug verstaut und traute sich nicht, Peter anzusehen. Als das Schweigen unerträglich wurde, bot er ihm den Arm und räusperte sich unsicher. „Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Zimmer.“

Peter nickte. Schweigend legten sie die restlichen Meter zurück. Der junge Mann öffnete die Tür, nahm den Karton, der glücklicherweise immer noch vor der Tür stand, stellte ihn ins Zimmer und geleitete Peter zum nächstgelegenen Sessel. Schüchtern riskierte er noch einen kurzen Blick auf seinen Patienten, errötete und verschwand.

Peter beobachtete mit vor Verlegenheit brennenden Wangen, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Klick.

„Scheiße!“, fluchte er leise.

Königreich zu verschenken

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