Читать книгу Interkulturelle Philosophie - Niels Weidtmann - Страница 18

Die Einheit der Vernunft

Оглавление

Philosophisch sehr viel interessanter ist ein Universalismus, der sich auf die Einheit der Vernunft beruft und den Menschen als vernünftiges Wesen begreift. Demnach ist der Mensch seinem Wesen nach durch Vernünftigkeit ausgezeichnet. Das grenzt ihn einerseits gegenüber anderen Tieren ab und benennt andererseits zugleich die wesentliche Gleichheit aller Menschen. Schon PlatonPlaton (428–348 v. Chr.) versteht den Menschen als durch den vernünftigen Seelenteil (logistikón) ausgezeichnet, weil sich dieser auf die Ideen richten und sich ihrer erinnern kann (Anamnesis). AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) spricht vom Menschen als einem zoon logon echon, lateinisch animal rationale. Trotz mancher Anfechtung bleibt der Gedanke der allgemeinen Vernünftigkeit des Menschen über alle Epochen hinweg zentraler Bestandteil des philosophischen Verständnisses vom Menschen. In der Neuzeit ist es vor allem KantKant, Immanuel (1724–1804), der die Vernunftkonzeption zu einer Hochform bringt. Er spricht davon, dass der Mensch ein »mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile)« sei, das »aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann«.1

Das möchte ich kurz erläutern: KantKant, Immanuel zeigt, dass die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, grundsätzlich aus zwei ganz verschiedenen Komponenten zusammengesetzt ist. Da sind zum einen die Sinnesdaten, die von den Dingen ausgehen und auf unser Erkenntnisvermögen treffen; und da ist zweitens eben dieses Erkenntnisvermögen selbst, das mit den Sinnesdaten umgehen, sie ordnen und richtig aufeinander beziehen können muss, um in ihnen tatsächlich mehr als bloße Daten, nämlich konkrete Dinge erkennen zu können (schon AristotelesAristoteles verwendet den Begriff der Konkretion, um die aus Form und Material zusammengesetzte Einzelsubstanz zu bezeichnen2). Man kann sich das an einem ganz einfachen Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, wir blicken auf einen Tisch, dann erreichen uns zahlreiche Sinnesdaten, die, sobald sie auf das Erkenntnisvermögen treffen, nicht mehr räumlich voneinander unterschieden sind. Um in den Sinnesdaten einen Tisch erkennen zu können, müssen diese also zunächst räumlich getrennt und geordnet werden. Vom Raum selber aber gehen keinerlei Sinnesdaten aus, er ist für uns nicht unabhängig von der räumlichen Anordnung der Dinge erfahrbar. Kant schließt daraus, dass die räumliche Ordnung der Sinnesdaten eine Leistung des Erkenntnisvermögens ist. Der mögliche Einwand, die Sinnesdaten könnten indirekt etwas über ihre räumliche Anordnung verraten, beispielsweise durch die zeitliche Verzögerung ihres Auftreffens auf das Erkenntnisvermögen oder durch die Intensität ihres Signals, läuft ins Leere, weil die Interpretation solch versteckter Informationen eine Vorstellung von Raum schon voraussetzt. Raum und auf gleiche Weise auch Zeit sind Formen, Kant spricht von den Anschauungsformen, mit deren Hilfe das Erkenntnisvermögen die Flut von Sinnesdaten sortiert und ordnet. Aber auch auf einer höheren Verständnisebene ist das Erkenntnisvermögen gefordert. Die räumlich und zeitlich geordneten Sinnesdaten müssen zusammengefasst und aufeinander bezogen werden. Das Erkenntnisvermögen muss wissen, welche Daten zusammengehören, um Gegenstände erkennen zu können. Diese Synthesis leisten die Einbildungskraft und die Verstandesbegriffe, das sind die Kategorien. Zu ihnen gehören beispielsweise Begriffe der Quantität wie Einheit und Vielheit, aber auch Begriffe der Relation wie Substanz und Kausalität (außerdem Begriffe der Qualität und der Modalität).3 Die Kategorien lassen sich ebenso wenig wie die Anschauungsformen in der Erfahrung finden, und doch sind sie genau wie jene in aller Erfahrung vorausgesetzt. Kant spricht mit Blick auf die Anschauungsformen und die Kategorien deshalb von den »Bedingungen der Möglichkeit« aller Erfahrung. Solche Bedingungen nennt er transzendental. Sie sind Vermögen a priori im Unterschied zu den Sinnesdaten, die der Erfahrung entstammen und von Kant darum als a posteriori bezeichnet werden. Die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, ist also zusammengesetzt aus Sinnesdaten auf der einen und Leistungen des Erkenntnisvermögens (Anschauungsformen und Verstandsbegriffe/Kategorien) auf der anderen Seite. Ohne die Leistungen des Erkenntnisvermögens und speziell des Verstandes blieben wir blind, wie Kant sagt. Wir erkennen deshalb niemals, wie die Dinge »an sich« sind, sondern immer nur, wie sie uns bzw. unserem Erkenntnisvermögen gegeben sind und wie sie aufgrund der Leistungen des Erkenntnisvermögens zur Erscheinung kommen: »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüths ursprünglich hineingelegt.«4

Nun entspringen die Leistungen von Anschauung und Verstand wie gesagt gerade nicht der Erfahrung, vielmehr liegen sie dieser als ihre Bedingungen zugrunde. Das ist der für unser Anliegen, einen Universalismus der Vernunft zu rechtfertigen, entscheidende Punkt. Das Erkenntnisvermögen geht der Erfahrung voraus und ermöglicht sie, es kann also nicht selbst erfahren werden. Das bedeutet auch, dass das Erkenntnisvermögen nicht selbst wieder den Bedingungen aller Erfahrung und Erkenntnis unterliegt. Es ist ein unbedingtes Vermögen (im Unterschied etwa zum Vermögen, Auto zu fahren, das grundsätzlich auf Erfahrung angewiesen ist). Als unbedingtes Vermögen ist das Erkenntnisvermögen aber auch unabhängig von inter-individuellen Unterschieden, es ist ein universales Vermögen. Zwar gibt es zwischen einzelnen Menschen erhebliche Unterschiede in der Fähigkeit zu Erkenntnis, diese gehen aber nicht auf prinzipielle Unterschiede des Erkenntnisvermögens zurück (vielmehr ist das Erkenntnisvermögen in der Feststellung solcher Unterschiede ja selbst wiederum vorausgesetzt), sondern beruhen zum einen auf der unterschiedlich großen Neigung, das Erkenntnisvermögen einzusetzen, zum anderen auf der unterschiedlich großen Einsicht in die Struktur der Erkenntnis. Das ist der Grund dafür, dass Erziehung und Aufklärung möglich und nötig sind. Und noch ein zweiter Punkt ist wichtig, um die Einheit der Vernunft richtig zu verstehen: Die Synthesisleistungen des Verstandes werden ihrerseits zusammengefasst vom »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muss.5 Nur wenn die verschiedenen Erkenntnisse auf das »Ich denke« hin bezogen werden können, lassen sie sich als zusammengehörig erkennen. Dieser Zusammengehörigkeit aller Erkenntnis auf der Seite des Subjekts entspricht auf der Seite der Erkenntnisobjekte die Zusammengehörigkeit alles Erkannten in der Welt. Die Welt freilich kann nicht selbst erkannt werden, aber sie ist eine Idee, die die Vernunft notwendigerweise haben muss, soll sinnvolle Erkenntnis überhaupt möglich sein. So wie die Vernunft auf Seite des Subjekts einheitlich ist, so richtet sie sich auf Seite des Objekts auf die Einheit der Welt. Darin erst ist sie eigentlich universal.

Aufgrund ihrer Universalität verleihen die Leistungen des Erkenntnisvermögens der Erfahrung Objektivität. Darin besteht die Kantische »Revolution der Denkungsart«.6 Zugleich steht das Erkenntnisvermögen für die prinzipielle Gleichheit der Menschen. Diese Gleichheit kann aber nur deswegen so bedeutsam sein, weil der Mensch seinem Wesen nach vernünftig ist. Das Wesen des Menschen erschöpft sich nun aber nicht in seiner Erkenntnisfähigkeit. Vielmehr ist der Mensch darum seinem Wesen nach vernünftig, weil er sich qua Vernunft über alle Bedingtheit der Erfahrungswelt, also auch über seine eigene Bedingtheit als in der Erfahrungswelt Lebender hinwegzusetzen vermag. Qua Vernunft unterliegt der Mensch keinen Bedingungen, sondern ist frei. Über alle Bedingtheit hinwegsetzen kann sich der Mensch nun aber nicht in der Erkenntnis (wegen deren Zusammengesetztheit); die Unbedingtheit äußert sich darum vornehmlich im freien Willen. Der freie Wille wiederum zeigt sich dann, wenn sich der Mensch in dem, was er tut, nicht durch Neigungen und Wünsche, sondern allein von der Vernunft leiten lässt. Das Handlungsgesetz der »reinen praktischen« Vernunft bestimmt KantKant, Immanuel bekanntlich im kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«7 Die Universalität der Vernunft wird gerade an der Pflicht, die Kant im kategorischen Imperativ formuliert, deutlich: Unbedingt und frei ist der menschliche Wille nur dann, wenn seine Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung taugt.

Wenn wir einmal beiseite lassen, dass KantKant, Immanuel die Ausbildung der Vernunftfähigkeit zur tatsächlichen Vernünftigkeit abhängig von geographischen und klimatischen Bedingungen v.a. bei den Europäern realisiert sah (s. Anm. 16), dann vermag die Vernunftkonzeption Kants in der Tat einen Universalismus zu begründen. Aufgrund ihrer Teilhabe an der einen universalen Vernunft sind die Menschen ihrem Wesen nach alle gleich, sie unterliegen denselben Pflichten und haben dieselben Rechte, nämlich niemals instrumentalisiert, sondern immer als Zweck an sich behandelt zu werden. Auf dieser Grundlage entwirft Kant denn auch das Ideal des »Weltbürgertums«, dessen Ausbildung zum »ewigen Frieden« zwischen den Völkern führen würde.8 Gemessen an der Einheit der »reinen praktischen« Vernunft sind kulturelle Differenzen zwischen den Völkern zweitrangig. Kulturelle Differenzen sind geographisch, klimatisch und historisch bedingt. Sie können der Ausbildung der tatsächlichen Vernünftigkeit des Menschen, dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« wie Kant sagt,9 mehr oder weniger förderlich, ja sogar hinderlich sein, an der Einheit der Vernunft und der prinzipiellen Vernunftfähigkeit des Menschen ändern sie nichts.

Die kantische Begründung der Vernunft ist bis heute extrem wirkmächtig geblieben. Das Denken KantsKant, Immanuel steht auch heute noch bei vielen Vertretern universalistischer Ansätze im Hintergrund. Tatsächlich ist durch Kants Kritik der Vernunft, die eine Trennung von auf Erkenntnis gerichtetem Verstand und reiner theoretischer ebenso wie praktischer Vernunft vornimmt, viel gewonnen. Vor allem die Einsicht in die Freiheit des Menschen, die sich gerade darin verwirklicht, dass er sich unter das sittliche Gesetz stellt. Freiheit und Verantwortung des Menschen gehören unmittelbar zusammen. Dennoch ist die kantische Position heute allenfalls noch in angepasster Form haltbar. Das liegt zum einen an der historischen Erfahrung des Schreckens, wie wir sie im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Diese Erfahrung hat zu grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber der Annahme einer grundsätzlich sittlich orientierten Vernünftigkeit des Menschen geführt. Zum anderen aber ist Kant schon von seinen Zeitgenossen dafür kritisiert worden, die Vernunft des Menschen gleichsam von der Welt entkoppelt zu haben. Die Universalität der Vernunft ist weltlos und folglich auch a-historisch, und sie verkennt die Notwendigkeit einer sprachlichen Vermittlung. Ich werde darauf in Kapitel 3 näher eingehen; im Folgenden stelle ich kurz einen Ansatz vor, der versucht, die Einheit der Vernunft zu retten und doch zugleich die genannte Kritik aufzunehmen.

Interkulturelle Philosophie

Подняться наверх