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Der Mutant

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Das Menschenkind aus dem Ei verbrachte seine kurze Kindheit in den Wäldern am Fuße der Berge. Niemand bekam es in jener Zeit zu Gesicht. Es wuchs unter primitivsten Bedingungen auf, wo die Natur ihm Nahrung, wie Fleisch, Beeren und Früchte, lieferte. Der Junge reinigte sich an kristallklaren Bächen und trank das erfrischende Wasser. Er erreichte das Alter eines Teenagers und näherte sich langsam der Zivilisation. Aus dem Wald heraus beobachtete er unbemerkt die Menschen in einem anliegenden Dorf. Eines Nachts stahl er von einer Wäscheleine passende Kleidung. Sie fühlte sich auf seiner Haut an wie ein Fremdkörper. Diese Vermummung löste Unbehagen in ihm aus, weil sie seine unschätzbare Freiheit einengte. Nur langsam konnte er sich damit abfinden, sein Körper verhüllen zu müssen, wenn er sich unter das Menschenvolk mischen wollte. Wenige Tage später fasste er all seinen Mut zusammen, trat aus dem Wald heraus, und ging unbehelligt durch das Dorf. Er bemerkte die neugierigen Blicke der Menschen, die ihn wie einen Außerirdischen ansahen. Im Grunde kam er auch nicht von dieser Welt, was man ihm aber nicht anmerken konnte. Er sah ausschließlich weiße Menschen. Vielleicht beruhte die Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbrachte, auf seine Hautfarbe. Niemand sprach ihn an, worüber er froh war. Er durchquerte das Dorf schnellen Fußes. Am Ende des kleinen Ortes spielten Kinder im Vorgarten eines schmucken Fachwerkhauses. Sie sangen dabei ein fröhliches Kinderlied. Der junge Mann stoppte und lauschte dem Lied der Kinder. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und verließ das Dorf über eine schmale Landstraße. Obwohl er zuvor noch nie ein Wort gesprochen hatte, sang er leise das Kinderlied vor sich hin.

Er durchstreifte auf seinen weiteren Weg immer wieder Wälder, um nach Nahrung zu suchen. Wenn er jagte, nahm er seine wirkliche Gestalt an. Er konnte mutieren, wann immer er wollte. Noch war seine Mutation nicht vollkommen, aber zum Jagen von Wildtieren reichten die ihm angeborenen Fähigkeiten völlig aus. Blitzschnell fing der junge Mutant seine Beute und tötete sie, indem er seinen scharfen Schnabel in den Leib des Tieres rammte. Mit dem leicht nach unten gebogenen Schnabel riss er das rohe Fleisch aus dem leblosen Körper und verschlang es in großen Stücken. Nach der Rückwandlung wusch er sein blutverschmiertes Gesicht an der nächsten Wasserstelle.

Die Orte, durch die er kam, wurden größer, er begegnete mehr Menschen, von denen er lernte, indem er ihre Verhaltensweise beobachtete. Instinktiv nahm er alles auf und sein ausgeprägtes Gehirn verarbeitete all seine Wahrnehmungen. Es dauerte nicht lange, bis er die Sprache der Menschen beherrschte. Er lernte lesen, wobei aus Buchstaben Worte wurden, die er zuordnen konnte. Er führte erste Unterhaltungen, mit Leuten, die er ansprach, dafür hatte er Hemmschwellen überschritten, die ihn zuvor davon abhielten. Nun aber gliederte er sich Schritt für Schritt ein, wurde Teil der menschlichen Gesellschaft, und passte sich deren Gepflogenheiten an. Sein Weg führte weiter, immer weiter in die Zivilisation hinein. In einer Kleinstadt traf er auf die ersten farbige Menschen, was er mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Immer wieder musste er sich neue Kleidung besorgen, da sein Körper kräftiger und größer wurde. Als der menschliche Mutant die erste Großstadt erreichte, war er ein ausgewachsener Mann, er hatte seine Geschlechtsreife erlangt, und somit war auch sein Alterungsprozess abgeschlossen.

Er stellte schnell fest, was es benötigte, um in der Gesellschaft Fuß fassen zu können. Geld und eine Identität. Er blieb in der großen Stadt, hier fiel er nicht auf, hier konnte er weiter lernen, und mit Menschen in Kontakt treten. Er stellte sich in die Fußgängerzone und sang Lieder, die er irgendwo einmal gehört hatte. Er hatte eine schöne sanfte Stimme, die er gekonnt einsetzte. Als Lohn erhielt er von Passanten sein erstes Geld. Er nahm Jobs an, wo er nicht nach seiner Herkunft gefragt wurde. Von seinem ersparten Geld kaufte er neue Kleidung und Lebensmittel, an die er sich langsam gewöhnen musste. Rohes Fleisch verzehrte er nach wie vor. Im Schutze der Nacht schlich er sich in die Stallungen eines Mastbetriebes und stillte seinen Hunger mit Fleisch von Schweineferkel. Die blutige Nahrung spendete ihm mehr Energie als alles andere. In der Nähe des Mastbetriebs befand sich ein verfallenes Gemäuer, wo er nachts ruhte. Schlaf benötigte der Mutant kaum, ihm genügten Phasen des Ruhens.

Tagsüber verweilte er in der Stadt. Manchmal stand er stundenlang vor Elektronikgeschäften und sah sich im Schaufenster laufende Fernsehprogramme an. Die bunte Welt der digitalen Medien faszinierte ihn. Oft ging er auch hinein und informierte sich über Computer. Als er genügend Geld angespart hatte, kaufte er sich einen Laptop inklusive Internetnutzung. Er unterschrieb den Vertrag mit einem falschen Namen, da er immer noch keine Identität besaß. In dem alten Gemäuer tauchte er in die vielfältigen Dimensionen des Internets ein. Er sog so viele Informationen auf, wie nie zuvor in seinem kurzen Dasein. Er fand Wege, um an Geld zu kommen, und Möglichkeiten, wie er sich Papiere beschaffen konnte. Sein Verstand wurde von seinem angeborenen Instinkt gelenkt, so fand er immer die richtigen Mittel, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen. Wofür der Mensch Jahre brauchte, schaffte der dunkelhäutige Mann aus dem Ei in wenigen Stunden. Er beschäftigte sich mit afrikanischen Immigranten und erschuf für sich eine Legende. Um an die nötigen Papiere zu kommen, benötigte er professionelle Hilfe. Er recherchierte so lange, bis er die geeignete Person gefunden hatte. Wenige Tage später war er im Besitz von blitzsauber gefälschten Dokumenten. Nach der Übergabe tötete er den Fälscher und kostete ein Stück von dessen Fleisch. Es schmeckte widerlich.

Nun konnte er auf legale Weise ein unauffälliges Leben führen. Nach zweitägiger Probezeit fand er eine Anstellung als Programmierer und entwickelte fortan Software für Onlinespiele. Die Betriebsleitung kam aufgrund seiner Fähigkeiten aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Er überzeugte mit Wissen und Leistung, die Anerkennung hervorrief.

Er mietete eine kleine Wohnung im Zentrum der Stadt an, die er modern einrichtete. Dank seiner übernatürlichen Begabungen, und schneller als erwartet, intrigierte er sich innerhalb kürzester Zeit im bürgerlichen Leben der Menschen. Er hatte sein erstes Ziel erreicht. Als Sohn südafrikanischer Einwanderer hatte er in einer Welt Fuß gefasst, die er verändern wollte. Sein einziges Bestreben galt nun der Fortpflanzung seiner einzigartigen Rasse.


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