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6. Zu Rezeption, Einflussnahme und Würdigung der Allgemeinen Psychologie. Natorps Kampf gegen die Naturalisierung des Bewusstseins

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Natorps AP kann mit Fug und Recht als eine der originellsten Schriften angesehen werden, die aus dem Neukantianismus im Allgemeinen, der Marburger Schule im Besonderen hervorgegangen ist. Ihre Bedeutung sowohl für den Aufstieg, die Entwicklung (bzw., mit Sieg zu reden, des Niedergangs) der Marburger Schule, wie auch des Natorp’schen Denkweges steht außer Zweifel, und ihr Einfluss auf anderweitige Philosophen und philosophische Schulen, vor allem die Phänomenologie, war – wie aus dem Vorigen deutlich werden sollte – weit reichend, obgleich die Einschätzung zumeist negativ war. In Wahrheit haben sich viele philosophische Zeitgenossen Natorps an der AP gerieben und im Anschluss daran, oder in kritischer Ablehnung gegen sie, ihre eigenen philosophischen Positionen entwickelt. Wenn man eine Liste der bedeutendsten philosophischen bzw. psychologischen Werke der Zeit von 1900 bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 aufstellen wollte – hierzu zählen zweifellos Edmund Husserls Logische Untersuchungen und die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Buch I, Max Schelers Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Martin Heideggers Sein und Zeit, Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie, Nicolai Hartmanns Ethik, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen –, dann gehört die AP auch in diese Reihe. Für seine Zeitgenossen bestand kein Zweifel, dass Natorp zu den bedeutendsten Philosophen seiner Zeit gehörte, und angesichts seines weitverzweigten Schrifttums war die AP zweifellos für ihren Autor von herausragender Bedeutung und in jedem Falle sein bekanntestes Werk.

Auch wenn Natorp keine Nachfolger hatte, die das Projekt einer rekonstruktiven Psychologie weitergeführt hätten – wie Natorp selbst keine Schüler im echten Sinne des Wortes hatte26 –, und auch wenn Natorp selbst das Projekt einer solchen transzendentalen Psychologie zugunsten einer oben besprochenen, der Methoden von Subjektivierung und Objektivierenden noch vorausliegenden „Einheitsmethode“ aufgegeben hat, bleibt der Wert der AP doch bestehen, der in erster Linie in ihrem Einfluss auf andere Denker liegt. Weiterhin besteht ihre Originalität in ihrem transzendentalphilosophischen Ansatz im Rahmen der Marburger Schule, d.h. im kühnen Versuch einer Disziplin, die im Rahmen der Kant’schen Transzendentalphilosophie als problematisch, wenn nicht sogar unmöglich galt. Dennoch war Natorp gerade am wenigsten Kantianer in den philosophischen Instinkten, die ihn antrieben, ein solches Projekt zu unternehmen. Wie gezeigt, inspirierten ihn hierbei phänomenologische und lebensphilosophische Motive, die ihn, wie er meinte, dennoch nicht das Flussbett kantischer und neukantianischer Provenienz verlassen ließen. In Wahrheit jedoch ist bereits die AP dem Neukantianismus in seiner orthodoxen (wissenschaftstheoretischen) Marburger Variante längst entwachsen, und Natorp bahnt mit dem Entwurf einer eigenständigen, ihrem Untersuchungsgegenstand angemessenen „Wissenschaft vom Subjektiven“ allem voran der Phänomenologie den Weg. So bleibt die AP unterm Strich ein Hybridwesen zwischen Kantianismus und Kant-fremden Einflüssen und ist gerade deswegen so interessant. Die AP besticht also nicht in erster Linie durch einen schlüssigen Systementwurf – bei allen hiermit einhergehenden Schwächen –, sondern ist insbesondere aufgrund ihrer leidenschaftlichen Denkanstrengung, also nicht allein wegen ihrer Wirkungsgeschichte, noch heute aktuell.

Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode

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