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9.

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Etwas stimmte nicht. Es war ihm nicht sofort klar und es dauerte eine Weile, bis er dahinterkam. Radek saß beim Frühstück am Fenster, so, dass er nach draußen auf den Hauptplatz blicken konnte. Er war der einzige Gast, zumindest war kein anderer Tisch gedeckt. Die Kellnerin brachte ihm ein üppiges Frühstück. Wurst, Käse, Butter, Marmelade, reichlich Gebäck und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Er bestellte ein weiches Ei. Er liebte es, ausgiebig und lange zu frühstücken. Er hatte sich von der Theke einige Tageszeitungen geholt und blätterte sie mit mäßigem Interesse durch. Manchmal warf er einen Blick aus dem Fenster nach draußen.

Und während er aß und ab und zu auf den Hauptplatz hinaussah, begann ihn etwas an dem Bild zu stören.

Es war ein schöner Morgen. Er hatte hervorragend geschlafen und es war kurz nach 9 Uhr. Die Herbstsonne schien mild auf den menschenleeren Platz vor der Kirche.

Das war es: keine Menschen vor der Kirche. Das störte ihn.

Radek war nicht religiös. Ein Arbeiterkind, seine Familie war sozialdemokratisch aus tiefster Seele, da gab es keinen Platz für die Kirche. Seine religiöse Erziehung beschränkte sich auf die katholischen Pflichtübungen: Taufe, Erstkommunion, Firmung. Gerade so viel, dass ein Kind in der Provinz überleben konnte, ohne ins soziale Aus gedrängt zu werden, in einem Land, das von Kirche nur so triefte und in dem sogar die Sozialisten katholisch waren, wie es sein Vater verächtlich ausdrückte. Aber auch keinen Fingerzeig mehr. So war es nur eine logische Konsequenz, dass Radeks erste eigenständige politische Handlung – als solche sah er es – nach Erreichen der Volljährigkeit darin bestanden hatte, aus der Kirche auszutreten.

Deshalb hatte er keine Erfahrung mit der Kirchenpraxis und war ein wenig verunsichert. Möglicherweise täuschte er sich. Aber er wusste, dass die Leute am Sonntagvormittag in die Messe gingen, davor und danach vor der Kirche standen, tratschten. Anschließend marschierten die Männer ins Wirtshaus, während die Frauen sich auf den Weg nach Hause machten, um das Mittagessen zu kochen. Doch vielleicht war das nur ein Klischee, alles nicht mehr wahr, längst überholt. Trotzdem fand am Sonntagvormittag der Gottesdienst statt. Daran hatte sich noch nichts geändert.

Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Er brauchte Gewissheit.

Er trank seine Tasse Kaffee aus und gab der Kellnerin Bescheid, dass er schnell etwas erledigen müsse, aber gleich wieder zurück sei und sie das Frühstück noch nicht abräumen solle. Dann eilte er über den Platz zur Kirche. Er trug nur einen Sweater, darunter ein T-Shirt, er hatte nicht vor, lange wegzubleiben, und in der milden Sonne war es ohnehin nicht kalt.

Neben dem Kirchenportal sah er eine Tafel mit der Aufschrift »Heilige Messe« und den Uhrzeiten, zu denen sie stattfand. Er blickte auf die Uhr. 9.30 Uhr, die Messe müsste vor 15 Minuten begonnen haben. Er hatte jedoch seit gut einer Stunde den Platz vor der Kirche im Blick. Möglicherweise gab es einen Seiteneingang, den er übersehen hatte.

Vorsichtig öffnete er die schwere Holztür, er wollte nicht stören. Er zog die Tür einen Spalt weit auf, schlüpfte hinein, schloss sie leise hinter sich und blickte sich überrascht um. Die Kirche war – leer. Oder – beinahe leer. Über die ersten beiden Bankreihen verstreut saßen drei alte Frauen und ein Paar, ebenfalls weit im Rentenalter. Vorne beim Altar stand ein einsamer Pfarrer, kein Messner, keine Ministranten, niemand. Außer diesen sechs Personen war kein Mensch in der Kirche. Radek hatte noch nie in seinem Leben eine so leere Kirche gesehen, nicht einmal jene, die er im Urlaub als Sehenswürdigkeiten besucht hatte.

Der Priester bemerkte ihn, zögerte einen kurzen Augenblick und fuhr dann mit seiner Messe fort.

Radek blieb noch einige Minuten neben der Tür stehen, ließ die Liturgie und ihre Rituale, die ihm vor den wenigen Besuchern völlig sinnentleert erschienen, auf sich wirken. Anschließend verließ er die Kirche so leise, wie er gekommen war, und kehrte zurück ins Gasthaus »Falk«.

Eine leere Kirche, ein Gottesdienst ohne Menschen. Das war ihm nicht geheuer.

Radek hatte sich vorgenommen, eine Wanderung auf den Schneekogel zu machen. In der Broschüre, die ihm Falk am Vortag gegeben hatte, war eine einfache Rundtour mit einer Dauer von vier Stunden beschrieben, das erschien ihm ein überschaubarer Ausflug zu sein. Der Berg selbst wurde mit einer Höhe von etwas weniger als 1.400 Metern ausgewiesen. Er nahm nicht viel Ausrüstung mit. Einen kleinen Rucksack mit einem Regenschutz, Wasser und einen Apfel.

Dann machte er sich auf den Weg, verließ das Dorf am Nordende, fand hinter der Kirche den markierten Wanderweg, der durch den Wald auf den Schneekogel führte, und folgte ihm in gemächlichem Schritt. Er hatte es nicht eilig. Es war halb elf, er rechnete damit, spätestens um 15 Uhr zurück zu sein.

Er war etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ihm ein Reiter in leichtem Trab entgegenkam. Das verwunderte Radek, da er nicht vermutet hätte, dass auf einem Wanderweg Reitausflüge unternommen wurden. Der Weg stieg sanft an, war nicht allzu breit und erschien ihm für einen Ausritt wenig geeignet.

Der Reiter trug hohe Stiefel, Breeches und einen kurzen Lodenmantel mit Halstuch. Auf dem Kopf hatte er eine Mütze fest in die Stirn gedrückt, unter der angegraute Haarlocken hervorlugten. Er hielt die Zügel in der rechten Hand, in seiner linken, die er auf die Hüfte stützte, trug er eine Reitgerte. Er verlangsamte sein Tempo nicht, machte auch keine Anstalten, das Pferd nur eine Handbreit auf die Seite zu führen. Radek musste in den Wald hinein flüchten, um den Reiter passieren zu lassen. Wäre er nicht ausgewichen, hätte der Typ ihn geradewegs umgeritten. Das Recht des Stärkeren, dachte der junge Polizist, und fragte sich, ob es nicht irgendeine Vorschrift gab, die das Reiten im Wald verbot.

»Aufpassen! Fußgänger!«, rief Radek dem Mann mit provokantem Ton hinterher, doch der schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er saß gerade aufgerichtet, aber entspannt im Sattel und sein Oberkörper wippte im Takt der Schritte des Pferdes. Den Blick starr nach vorne gerichtet, ritt er wie in Trance an Radek vorbei. Er verhielt sich, als hätte er den Wanderer gar nicht gesehen oder als würde der Weg ihm gehören und jeder Besucher ein lästiger, bestenfalls geduldeter Gast sein.

Arrogantes Arschloch, dachte Radek, du meinst wohl, der Wald ist für dich alleine da. Er wollte dem Mann eine entsprechende Bemerkung nachrufen, doch der trieb das Pferd durch einem schnellen Schlag mit der Gerte an und entfernte sich in scharfem Trab. Er hätte Radeks Unmut nicht mehr mitbekommen, deshalb schluckte dieser ihn hinunter und versuchte, den Zwischenfall zu vergessen. Er wollte sich den schönen Tag nicht durch einen blasierten Kavalleristen vermiesen lassen.

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