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11.

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Die Angaben in der Broschüre hatten genau gestimmt. Die letzte halbe Stunde, bevor er den Gipfel erreichte, war Radek aus dem Wald herausgekommen, und erst da hatte sich ihm ein wunderbarer Ausblick auf die Bergwelt der Umgebung geboten. Er war eine ganze Weile auf dem Gipfel geblieben und hatte die Sonne genossen, bevor er sich auf den Rückweg gemacht hatte.

Jetzt, am Nachmittag, saß er wieder mit einem kalten Bier auf der Terrasse des Gasthofs »Falk«. Er trank es mit dem Genuss des durstigen Wanderers.

Bis auf den Reiterrüpel hatte er niemanden getroffen, was ihn zunächst nicht gestört, dann auf dem Rückweg allerdings doch verwundert hatte. Eigentlich, dachte er, hätte er im Wald mehr Spaziergängern begegnen müssen.

Als er auf der Terrasse saß und über den leeren Hauptplatz blickte, wurde ihm bewusst, dass auch im Dorf niemand unterwegs war. Gut, mit 560 Einwohnern war Schandau keine Metropole, aber es gab eine funktionierende Infrastruktur, zwei Gasthäuser, eine Konditorei, einen idyllischen Hauptplatz, der zum Verweilen einlud, und trotzdem wirkte das Dorf wie ausgestorben.

Da sah er zwei Frauen, in ein Gespräch vertieft, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und über den kleinen Vorplatz der Kirche gehen. Zwei jugendliche Mädchen kamen ihnen entgegen und schienen sie nicht zu beachten. Sie blieben auf Kollisionskurs, die älteren Frauen traten zur Seite, obwohl auch die jungen hätten ausweichen können. Als Radek diese Szene beobachtete, fragte er sich, warum die Mädchen so frech waren und keine Anstalten gemacht hatten, aus dem Weg zu gehen. Ihm fiel die Szene vom Vortag ein, die ganz ähnlich gewesen war, und seine Begegnung mit dem Reiter im Wald, und er zog den Schluss, dass Höflichkeit und Rücksichtnahme offensichtlich nicht die am stärksten ausgeprägten Eigenschaften hier im Ort waren.

Nachdem sie die frechen Gören vorbeigehen lassen hatten, setzten die Frauen ihre unterbrochene Plauderei fort und blieben vor der Kirche stehen.

Karin und Gabi waren beste Freundinnen. Beide waren in Schandau aufgewachsen, gemeinsam in Göstling in die Volksschule und in die Hauptschule gegangen. Immer beste Freundinnen. Dann hatten sie eine Lehre als Verkäuferin absolviert. Karin im Bekleidungsgeschäft Klein, Gabi im Kaufhaus Kroner, beide auf dem Hauptplatz in Schandau. Und zwei von drei Mal waren sie gemeinsam in die Berufsschule nach Theresienfeld gekommen. Die eine in die Sparte Textil, die andere zu Lebensmittel.

Sie teilten sich zwar nicht dieselben Burschen, hatten allerdings immer ausreichend Gesprächsstoff, was dieses Thema betraf. Und weil sie in dieser Beziehung unterschiedliche Geschmäcker hatten, kamen sie sich nie in die Quere. Aber sie lernten voneinander, was die jungen Männer betraf. Wie man sie verführt, was man tun musste, um sie schnell ins Bett zu bekommen, wie man sie befriedigte und wie man sie dazu brachte, das zu tun, womit auch die Frauen auf ihre Kosten kamen. Es fing in der Berufsschule an, dann gingen sie in den benachbarten Dörfern auf Männerfang. Später, als sie selbst Führerschein und Auto besaßen, fuhren sie in die großen Orte, nach Amstetten, Linz oder nach Sankt Pölten und schließlich nach Wien. Immer beste Freundinnen. Eine frühe Krönung hatte ihre Freundschaft erlebt, als Gabi in einer Wiener Diskothek einen wirklich süßen Kerl aufgerissen und sie sich bei ihm in der Wohnung in einem flotten Dreier das halbe Wochenende die Seele aus dem Leib gevögelt hatten. Aber das war lange her.

Sie waren im Dorf geblieben. Später, nach diesen ausschweifenden Zeiten, hatten sie geheiratet, Häuser gebaut und Kinder bekommen. Ihren Männern verheimlichten sie die wilden Abenteuer ihrer Jugend. Sie wohnten nur wenige Gehminuten voneinander entfernt. Karin arbeitete mittlerweile im Personalbüro des Sägewerks, Gabi war immer noch im Kaufhaus Kroner beschäftigt und dort zur Leiterin der Feinkostabteilung aufgestiegen. Nun, Anfang 40, waren sie brave Mütter und Ehefrauen, aber nach wie vor beste Freundinnen. Gabis Tochter ging mit Karins jüngstem Sohn in die gleiche Klasse der Hauptschule in Göstling, wie es schon die Mütter getan hatten, und auch sie waren beste Freunde.

Karin und Gabi sprachen leise und gedämpft miteinander, vorsichtig, als tauschten sie Geheimnisse aus. Tatsächlich redeten sie nur über ihre Kinder. Das bot genug Gesprächsstoff. Doch selbst dabei waren sie achtsam. Man konnte nie wissen. Sie hatten es sich angewöhnt, ihre Angelegenheiten nicht hinauszuposaunen. Das war im Dorf nicht üblich. Nur nicht zu viel erzählen. Nur nicht auffallen. Nur nicht bei den anderen anecken.

Wenn man sich schön ruhig verhielt, gab es keine Probleme. Das wussten sie, das hatten sie gelernt, damit waren sie aufgewachsen. Das akzeptierten sie, und deshalb waren sie in ihren jungen Jahren immer wieder in die größeren Städte abgedampft, um sich dort zu vergnügen.

Sie sprachen zunächst nur über Belangloses. Aber dann musste Karin doch etwas loswerden, was nicht ihre Kinder oder ihre Arbeit betraf, etwas, das wichtiger war. Es gab Gerüchte, schlimme Gerüchte, und darüber wollte sie mit ihrer Freundin reden.

»Hast du gehört, was mit dem Höger Klaus passiert ist?«, fragte sie kryptisch und blickte sich verstohlen um. Sie waren allein, weit und breit war niemand zu sehen, nur auf der Terrasse vom »Falk« saß der Fremde, wie schon gestern Nachmittag.

»Nein.« Die Freundin schenkte ihr sofort die volle Aufmerksamkeit.

»Er hat sich die Hand gebrochen«, erklärte Karin.

»Echt?« Gabi war erstaunt. »Schon wieder einer.«

»Ja«, bestätigte Karin. »Alle Finger und die Knöchel.« Sie zeigte an ihrer rechten Hand, von welchen Bereichen sie sprach.

»Der arme Kerl. Wie ist das passiert?« Gabis Bedauern war aufrichtig. Beide kannten Klaus Höger sehr gut. Er war einer von Gabis Verehrern gewesen, die ihr im Dorf den Hof gemacht hatten. Einmal war sie mit ihm im Bett gewesen, aber dann hatte sie sich für einen anderen entschieden. Klaus hatte ihr das nie nachgetragen und sie waren immer noch gute Freunde. Die Affäre war ihr Geheimnis geblieben, nicht einmal mit Karin hatte sie darüber gesprochen.

»Er hat nicht aufgepasst. Angeblich ist er auf der Terrasse gestürzt und ein großer Keramiktopf mit einer Hortensie ist ihm auf die Hand gefallen.«

»Angeblich.«

»Ja, angeblich.«

Beide wussten, dass etwas ganz anderes geschehen sein musste.

Gabi ahnte, was passiert war. Es war nicht das erste Mal. Die Leute im Dorf verletzten sich häufig, brachen sich den Arm oder die Hände oder die Finger. Es gab Gerüchte darüber. Das kam davon, dass sie unachtsam waren, sagte man, und es stimmte, im übertragenen Sinn. Es war nicht gut, im Dorf leichtsinnig zu sein.

»Man muss aufpassen hier im Ort«, sagte Gabi und blickte sich wachsam um.

»Nur nicht viel fragen«, bekräftigte Karin.

»Und sich nirgends einmischen.«

»Dann stolpert man nicht und bleibt gesund.«

»Ja, dann kann einem nicht so schnell etwas passieren.«

Karin beobachte den Fremden gegenüber auf der Terrasse des Gasthofs »Falk«. »Kennst du den dort?«, fragte sie ihre Freundin und deutete unmerklich mit dem Kopf in die Richtung des Gasthauses. Gabi folgte ihrem Blick. Dort saß der Unbekannte auf der Terrasse und beobachtete sie. Als er merkte, dass die Frauen zu ihm hinübersahen, wandte er sich ab und trank von seinem Bier.

»Nein, das ist wahrscheinlich ein Gast beim Falk.«

»Der ist gestern schon da gesessen«, stellte Karin mit leichtem Unbehagen in der Stimme fest.

»Der wird ein verspäteter Sommerfrischler sein.«

»Hoffentlich. Möglicherweise ist er auch aus einem anderen Grund hier.«

»Möglicherweise.«

»Ein komischer Typ, sitzt auf der Terrasse vorm ›Falk‹ und beobachtet die Leute.«

Jetzt fühlte sich auch Gabi zusehends unbehaglich und sie blickte sich misstrauisch um. »Hast du Lust, mit zu mir auf einen Kaffee zu kommen?«, lud sie ihre Freundin ein. »Karl ist nicht zu Hause«, fügte sie rasch hinzu, obwohl sie wusste, dass ihr Mann und Karin sich gut verstanden.

»Ja, gehen wir zu dir. Da sind wir ungestört.«

Sie bummelten betont gelassen davon. Sie hatten Zeit. Es waren nur wenige Minuten bis zu Gabis Haus.

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