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12.

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Als Radek sein Bier ausgetrunken hatte, ging er ins Zimmer hinauf, duschte, legte sich ins Bett und las in einem Roman, bis ihm die Augen zufielen. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war er nach der fünfstündigen Wanderung rechtschaffen müde. Er schlief über eine Stunde und fühlte sich danach wieder einigermaßen frisch und unternehmungslustig. Es war halb sechs und er überlegte, was er an diesem Abend machen sollte. Er wollte nicht wieder in der Stube vom »Falk« sitzen und entschied, sich das zweite Lokal in Schandau anzusehen. Das Gasthaus »Zur Linde« am anderen Ende des Hauptplatzes.

Er zog sich um und ging hinaus, es war immer noch mild und angenehm. Trotz des lauen Abends war niemand auf der Straße unterwegs. Als Radek auffiel, dass er ganz allein auf dem leeren Hauptplatz stand, fühlte er sich mit einem Mal sehr unbehaglich und dieser Ort erschien ihm nicht mehr so idyllisch, so klein und beschaulich wie am Tag seiner Ankunft.

Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Als er auf der Höhe des Rathauses angekommen war, fiel ihm in der Mitte des Platzes, dort, wo eine Grünfläche mit Bäumen und Bänken zum Sitzen einlud, eine bescheiden wirkende Säule auf. Er überquerte die Straße und ging zu der Säule, die auf einem quadratischen Steinsockel in einem fünf Meter großen, gepflasterten Kreis stand. Sie war aus Stein, etwa dreieinhalb Meter hoch und hatte einen Eisenreifen und zwei große eiserne Ringe am oberen Ende. »Dieser original erhaltene Pranger wurde um das Jahr 1300 errichtet und diente bis Anfang des 19. Jahrhunderts zum Vollzug von Ehr- und Schandstrafen«, las Radek auf einer kleinen Tafel, die am Fuße des Prangers in die Pflastersteine eingelassen war. Der Historiker in ihm erwachte. Das also war die Sehenswürdigkeit, von der er gelesen hatte. Es war das erste Mal, dass Radek einen mittelalterlichen Pranger sah, zumindest bewusst. Er umrundete ihn, stellte fest, dass er ein sehr unspektakuläres, deshalb aber nicht weniger beeindruckendes Zeugnis der Vergangenheit darstellte, und setzte seinen Weg fort.

Das Gasthaus »Zur Linde« lag dem Gasthaus »Falk« genau gegenüber. Das Haus musste älter sein, es wirkte mittelalterlich. Der Eingang war gedrungen, eine massive Holztür schien die Gäste eher aussperren als einlassen zu wollen. Das Gastzimmer war ein alter niedriger Raum mit einem Kreuzgewölbe, wie Radek es nur aus sehr alten Häusern kannte. Die Einrichtung schien ihm ebenso antiquiert wie das gesamte Gasthaus.

Es saßen wenig Gäste an den Tischen, einige Männer standen an der Theke. Als Radek das Lokal betrat, verstummten die meisten Gespräche und die Blicke der Anwesenden wandten sich ihm zu. Eine Sekunde lang herrschte eisiges Schweigen, eine Stimmung, die Radek so intensiv empfand, dass er in der Tür stehen blieb und einen Augenblick lang überlegte, ob er nicht doch zurück ins Gasthaus »Falk« gehen sollte. Er überwand aber diesen Moment des Zögerns, verwarf ihn als lächerlich, sagte laut »Guten Tag«, als wollte er böse Geister vertreiben, und suchte sich einen leeren Tisch.

Niemand erwiderte seinen Gruß. Radek konnte regelrecht spüren, wie ihm die Blicke der Gäste folgten. Er wählte einen Patz, von dem aus er beinahe das ganze Lokal überblicken konnte. Als er nun seinerseits die Gäste betrachtete, sahen sie schnell weg und setzten ihre unterbrochenen Gespräche fort. Allerdings leiser und gedämpfter, und ihm entging nicht, dass sie ihn immer wieder misstrauisch beobachteten.

Radek hatte kein Buch dabei, da er nur etwas essen und dann zurückgehen wollte. Die Wanderung steckte ihm in den Knochen, er musste morgen arbeiten und hatte nicht vor, sich die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen.

Ein Mann um die 50 mit weißer Schürze, Radek vermutete, dass es der Wirt war, brachte ihm eine Speisekarte. Radek bestellte zunächst ein Bier und, als der Wirt ihm das Glas brachte, ein deftiges Abendessen. Er hatte Hunger.

»Sind Sie auf der Durchreise?«, fragte der Wirt, während er Radeks Bestellung entgegennahm und für die Küche notierte.

»Nein, eigentlich nicht.«

Der Wirt nickte verstehend. »Das heißt, Sie bleiben länger?«

»Mindestens bis Dienstag, so ist es geplant.«

»Haben Sie ein Zimmer im Ort?«

»Ja, drüben im Gasthaus ›Falk‹«, antwortete Radek, und einen Augenblick lang glaubte er, alle Ohren wären nur auf sein Gespräch mit dem Wirt gerichtet.

»Ah, beim Falk. Gefällt es Ihnen dort?«

»Es geht. Ein nettes Landgasthaus.« Radek wurde vorsichtig. Er wusste nicht, welche Beziehung zwischen den beiden Gasthäusern bestand. Lobte er die Konkurrenz zu laut, mochte der Wirt beleidigt sein. Vielleicht aber waren die Wirtsleute Freunde, und wenn er sich herablassend äußerte, war es gut möglich, dass Falk von Radeks Kritik wusste, bevor er zurück war.

»Haben Sie versucht, woanders ein Zimmer zu bekommen?«

»Im Internet habe ich nur das Gasthaus ›Falk‹ gefunden«, erwiderte Radek, obwohl er nicht wusste, worauf der Wirt mit seiner Frage hinauswollte.

»Es gibt auch einige schöne kleine Pensionen hier im Ort«, bemerkte der Wirt.

»Gut zu wissen. Wo bekommt man dazu nähere Information?«

»Im Tourismusbüro wahrscheinlich.«

»Das ist wo?«

»Im Rathaus.«

»Gut, das muss ich mir fürs nächste Mal merken.« Radek wollte unverbindlich bleiben, obwohl er wusste, dass es kein nächstes Mal geben würde.

»Na dann«, beendete der Wirt unvermittelt das Gespräch. »Das Essen kommt gleich.«

»Danke für die Auskunft.« Radek wollte nicht unhöflich erscheinen.

»Keine Ursache.« Der Wirt drehte sich um und ging.

Während Radek seiner untersetzten Figur nachblickte, die im Durchgang zur Küche verschwand, beschlichen ihn Zweifel und Misstrauen. War das eines der üblichen Gespräche, wie sie zwischen Wirt und Gast geführt wurden? Oder wollte ihn der Wirt aushorchen? Steckte da Konkurrenzneid dahinter? Aber der Gasthof »Zur Linde« schien keine Zimmer anzubieten, also warum sollte der Wirt neidisch sein? Oder war es eine alte Rivalität, die auf ganz anderen Ursachen beruhte? Ein alter Familienstreit, der Generationen zurückreichte und von dem Radek nichts wusste. Oder ging ihm einfach die Fantasie durch und es war nichts weiter als Small Talk im Wirtshaus, damit der Gast sich beachtet und nicht nur als zahlender Konsument fühlte? Radek kam auf keine Lösung. Allerdings wurde er das Gefühl nicht los, dass die übrigen Gäste ihn immer noch verstohlen beobachteten. Auch das erschien ihm, bei näherem Überlegen, nicht ungewöhnlich. Immerhin war er ein Fremder in einer allen anderen vertrauen Umgebung. Ein bisschen fühlte er sich wie ein Eindringling.

Als der Wirt die Suppe brachte, verdrängte er alle diese Gedanken und bemühte sich, sein Abendessen zu genießen.

Sie wussten es. Als der Fremde zur Tür hereingekommen war, hatten ihn alle angestarrt. Das war dem Fotografen sofort aufgefallen, auch wenn er versuchte, uninteressiert zu wirken. Sofort schlugen bei ihm die Alarmglocken an. Was wollte der Fremde hier? Er hatte im Gasthaus »Falk« ein Zimmer. Das war ihm nicht entgangen. Er hatte ihn auf der Terrasse sitzen gesehen. Und eben war ihm das im Gespräch mit dem Stadelmaier bestätigt worden.

Also, was wollte er hier? Warum blieb er nicht im »Falk«? Jeder im Dorf wusste, dass man entweder zum »Falk« ging oder in die »Linde«, aber nicht in beide Wirtshäuser. Was machte der Fremde hier? Die Gäste ausspionieren?

Er hatte den Unbekannten im Auge behalten. Die ganze Zeit war er wie ziellos herumgestreunt, hatte offensichtlich keinen Plan. Er verhielt sich wie ein Wanderer, einer der üblichen Sommerurlauber. Aber er war kein Wanderer, das hatte er sofort gesehen. Der Fremde hatte nichts gemeinsam mit den Leuten, die im Sommer oder im Herbst kamen, um in die Berge zu gehen. Dieser Typ war aus einem anderen Grund im Dorf, und das machte ihn verdächtig.

Heimlich musterte er den Gast am Tisch. Der saß zufrieden da und aß seine Suppe. Dabei wirkte er ein bisschen müde, aber sonst ganz harmlos. Doch oft täuschte ein solcher Eindruck. Unauffällig behielt er den Fremden im Blick, während des Essens und so lange, bis er bezahlte und ging. Kurz dachte er darüber nach, ihm zu folgen, das erschien ihm jedoch unnötig. Wohin sollte er schon gehen? Es gab nur ein mögliches Ziel für den Fremden, das Gasthaus »Falk«.

Der Fotograf bestellte beim Stadelmaier noch ein Bier und nahm sich vor, wachsam zu sein.

Finsterdorf

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