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Stella Maris

Einpacken

September 1958. Wieder hatte ich eingepackt und saß mit meinem Koffer und einem Beutel Bettwäsche im Zug. Auf dem Weg ins klösterliche Schülerheim Stella Maris, Kempten, Allgäu.

Die Ferien hatte ich bei Mutter verbracht. Sie war in ein eigenes Zimmer gezogen. Oskar wohnte weiter in dem Raum über der Bäckerei. Sie hatten sich nicht getrennt, nur auf das Wilde-Ehe-Gerede der Leute reagiert. Vielleicht brauchten sie auch mehr Distanz.

„Hier ist etwas Geld“, hatte Oskar beim Abschied gesagt und mir fünfzig Mark in die Hand gedrückt. „Nimm am Bahnhof ein Taxi. Es ist zu weit, um mit Gepäck zu laufen.“

Der Zug ruckelte durch die Landschaft. Ich öffnete ein Fenster und hielt meinen Kopf eine Weile in den lauen Spätsommerwind. Ich lümmelte mich in die Ecke der Holzbank und ließ mich auf die nächste Lebensstufe schieben. Spürte ich Angst? Nein. Freude? Nein. Neugier? Nein. Ich wurde mal wieder verschickt. Es war das Übliche. Es war normal.

Irgendwann erreichte der Zug die Station Kempten. Ich nahm den Koffer, schnappte das Bündel mit der Bettwäsche, stieg aus, passierte das Bahnhofsgebäude. Auf dem Vorplatz standen Taxis. Ich stieg in das erste der Reihe, sagte: „Ins Stella Maris bitte!“

Herr Schroeder fährt Taxi, dachte ich und dass es kein schlechtes Gefühl war.

Auspacken

Empfangen wurde ich vom Spätberufenen, einem Pater, der erst Mitte zwanzig seine Bestimmung gefunden hatte. Er führte mich durch den Haupteingang zu dem Zimmer, das ich in der nächsten Zeit bewohnen sollte. Es war ein Raum mit großen Fenstern und hoher Decke. Acht Betten, acht Spinde. „Hier kannst du dich einrichten“, sagte er und wies mir Bett und Spind zu. „Nachher zeige ich dir das Haus.“

Als er wiederkam, hatte ich mein Bett bezogen und meine Sachen in den Spind geräumt. Zu Beginn des Rundgangs deutete er auf den zweiten Eingang: „Der ist für die Heiligkeiten, ihr dürft nur das Hauptportal benutzen.“

Begeistert war ich vom Schwimmbecken und den Tischtennisplatten. Und von dem Raum mit den Spielen, vor allem Schach. Ein Fußballfeld gehörte ebenfalls zum Heim.

Es schien weniger streng zu sein als bei den Salesianerinnen. Auch dass hier keine große Kirche stand, gefiel mir. Nur ein Gebetsraum mit kleiner Orgel oben unterm dreistöckigen Gemäuer. Hier wird man nicht so viel beten müssen, hoffte ich im Stillen und dass die Hornhaut von meinen Knien verschwindet.

Das neue Schuljahr begann und ich gewöhnte mich an den Rhythmus. Vormittags Unterricht in der staatlichen Mittelschule, nachmittags Hausaufgaben unter Aufsicht eines Paters und anschließend viel, viel freie Zeit.

Im Schülerheim des Klosters lebten etwa 30 Jungen. Die meisten waren Waisen. Außer mir gingen alle aufs Gymnasium. Zurückgesetzt fühlte ich mich trotzdem nicht. Vielleicht, weil ich im Schach oft gewann. Vielleicht, weil ich im Tischtennis Allgäuer Meister wurde. Selbst auf dem ungeliebten Fußballfeld lernte ich, mich zu behaupten, und bolzte wie ein Macker. Besonders artig war ich nie, und die neuen Freiräume luden ein, ihre Grenzen zu testen.

Neben dem Spätberufenen erinnere ich mich besonders an Holzbein. Mit seinen Geheimratsecken sah er ein wenig aus wie Willy Brandt. Auch ohne ihn zu sehen, erkannte man ihn an dem Klack-klack-klack seines Stumpfes.

Dass wir den Benediktiner-Brüdern Spitznamen verpassten, bedeutete nicht, dass wir sie nicht mochten. Gerade Holzbein war beliebt – und er hatte Humor.

Als er uns wieder einmal beim Erledigen unserer Hausaufgaben beaufsichtigte, sagte er: „Wer fertig ist, darf gehen.“

Gehen bedeutete: Tischtennis, Schwimmen, Schach, freie Zeit. Ich zögerte kurz, packte meine Sachen zusammen und stand auf.

„So schnell fertig?“.

„Ja.“

„Zeig mal!“

Ich hatte nichts, nur eben keine Lust.

„Du dachtest, bei mir kommst du damit durch, was?“

„Ich, ich ...“

„Ich hab ein Holzbein, ich bin kein Holzkopf, Bürschchen! Setz dich hin und melde dich, wenn deine Hausaufgaben wirklich fertig sind!“

Er blinzelte schelmisch.

Es war ein Spiel.

Er hatte gewonnen.

Anpacken

Es war heiß im Juli 1960 und bei den Jungen in kurzen Hosen. Mir war heiß.

Phantasien im Schlafsaal, den ich mit sieben anderen Jungen teilte. Angst, zu laut zu träumen. Mein Traum hieß Heiner. Drei Jahre älter als ich. Dichtes blondes Haar, sinnlicher Mund, wohlgeformte Muskeln überall, wie ich sie gern gehabt hätte. Und klug wie er wollte ich werden und...

Eigentlich wollte ich ihn.

Was tat ich nicht alles, um ihm näher zu kommen. Stellte unsinnige Fragen, bat um Sachen, die ich nicht brauchte und merkte nicht, dass auch er sich für mich interessierte. Anders als wir „Kleinen“ wohnte er in einem Zweimannzimmer.

Einmal, als ich wusste, dass er alleine war, klopfte ich an seine Tür. Ich trat ein, bevor er „herein“ sagen konnte. „Na, bist du fleißig?“

„Ich muss dies Kapitel fertig lesen. Geschichte. Interessiert es dich? Komm her!“

Über seine Schulter schaute ich ins Buch. Mein linkes Ohr an seinem rechten, mein Bauch an seinem Rücken. Er lehnte sich zurück. „Willst du mich massieren?“

Meine Hände auf seiner Brust. Meine Hände unter seinem Hemd.

Er griff nach hinten, drückte meinen Kopf an seinen Nacken. Nein, dort wollte ich ihn nicht küssen. Was, wenn jemand käme?

Schritte auf dem Flur. Jemand kam.

„Gehen wir morgen schwimmen?

„Ja“

Er vertiefte sich wieder in sein Buch. Ich küsste ihn in Gedanken.

Am nächsten Tag spielte ich mit anderen Tischtennis. Abseits stand Heiner. Beobachtete er mich? Jedenfalls schien er zu bemerken, dass ich mehr bei ihm war als bei dem Spiel.

„Ich geh zum Staufer See. Kommst mit baden?“, fragte er beiläufig. Ich verlor absichtlich, damit ich schneller frei war, und wir liefen los.

Bis zum See kamen wir nicht. Im Schutz eines Gebüsches breitete Heiner seine Decke aus. Ließ die Lederhose fallen, das Hemd und alles, was darunter war. Legte die Sachen als Stapel zusammen und sich bäuchlings auf die Decke. Als ob ich nicht hier wäre. Interessierte ich ihn doch nicht?

Was war das? Unter seinem Bauch lugte die Eichel seines steifen Schwanzes hervor. Er hatte sich so hingelegt, dass auf der Decke genug Platz für mich blieb. Ich zog mich aus. Fast. Bei der Unterhose verließ mich der Mut. Ich legte mich rücklings neben ihn. Betrachtete ihn, hörte seinen Atem. Heiner bewegte sich nicht. Ich bewege mich. Langsam schob ich mein linkes Bein unter seins. Meine linke Hand unter seinen Hals. Die rechte streichelte seinen Arsch. Er ließ es sich gefallen, half behutsam, bis ich unter ihm lag. Plötzlich sprang er auf.

Bevor ich mich erschrecken konnte, wippte er in den Schneidersitz und legte mich über seinen Schoß. Eine Stellung wie die Pietà. Er wurde aktiv und ich still. Ich sah den Himmel und seine krausen Brusthaare. Roch die Wiese und den Schweiß aus seinen Achseln. Er streichelte über meine Badehose, zuerst sanft, dann heftiger. Ich war wie hypnotisiert. Nur nicht bewegen. Schwindel. Ohnmacht.

Als ich wieder zu mir kam, saßen wir einander gegen-über. In meiner Hose war es nass und glibberig. Mein erster Orgasmus, und ich habe ihn verpasst.

„Wollen wir …“

„Wir müssen zurück“, unterbrach mich Heiner. Zog sich an, packte die Decke ein.

„Wollen wir morgen …“

„Bitte erzähl das keinem!“

Die Backpfeife

Meine Schule lag am anderen Ende von Kempten. Dort war ich der Einzige aus dem Kloster. Die anderen Schüler lebten in der Stadt. Wir waren zwölf in der Klasse, vielleicht auch fünfzehn. Nicht weit vom Kloster wohnte Manuel. Wir gingen den Schulweg oft gemeinsam hin und zurück. Er pfiff Mädchen hinterher und prahlte mit seinen Abenteuern. Tatsächlich war er nicht über den Versuch hinausgekommen, einer Klassenkameradin an den Busen zu fassen.

Auf dem Schulhof gaben wir den Mädchenschreck. Wir zerrten an ihren Haaren und amüsierten uns über ihr Gekreisch. Scheinbar empfanden sie dabei eben so viel Lust wie wir.

Der Unterricht bereitete mir wenig Mühe. Ich wollte nicht der Beste sein. Meine Mitschüler mochte ich, bis auf einen. Matthias. Er war ein Streber, und wo er konnte, ließ er mich seine Überlegenheit spüren. Wenn ihm das nicht gelang, versuchte er, mich zu ärgern. Viele seiner Attacken ignorierte ich, doch einmal verlor ich die Beherrschung.

Im Religionsunterricht saß er schräg hinter mir und schnipste eine mit Spucke zusammengeklebte Löschpapierkugel in meinen Nacken. Ich drehte mich um und zischte: „Hör auf!“

Er grinste nur und nach kurzer Zeit flog das nächste Geschoss an mein Ohr.

„Du bist vielleicht frecher, aber ich bin stärker!“, warnte ich ihn noch einmal. Als mich die dritte Kugel traf, sagte ich nichts mehr. Ich drehte mich langsam um, holte aus und schlug meine Hand mit voller Wucht in sein Gesicht.

Er schrie, warf den Kopf in die verschränkten Arme und heulte.

„Was ist hier los?“, rief der Lehrer.

„Der hat mich geschlagen!“, jammerte Matthias.

„Weil du mich die ganze Zeit geärgert hast!“, sagte ich, noch immer wütend. Dass ich mir den Zeigefinger verstaucht hatte, nahm ich in dem Moment nicht wahr. Der Schmerz kam später.

„Du gehst sofort zum Direktor!“, befahl der Lehrer und schickte mich hinaus.

Ich klopfte an der Tür des Direktorenzimmers.

„Herein!“

Ich öffnete.

„Guten Tag, Herr Direktor.“

„Guten Tag Peter. Habt ihr keinen Unterricht? Was willst du, warum kommst du?“

„Weiß ich nicht.“

„Weißt du nicht? Geh zurück in deine Klasse und komm wieder, wenn du es weißt!“

Am nächsten Tag stand ich wieder vor dem Direktor. Besser gesagt, er stand vor mir. Matthias war mit seinem Vater gekommen, und der forderte Bestrafung des Bösewichts, der seinen Sohn zu zugerichtet hatte. Matthias’ Wange war ein wenig geschwollen. Der Direktor fragte hin und her, wollte auch genau wissen, was vor der Backpfeife geschehen war. Er ermahnte uns beide, doch den Verweis bekam nur ich.

Meinem Ansehen schadete das nicht. Im Gegenteil. Ich hatte mich gewehrt. Ich war eine Respektsperson geworden. Sogar die Lehrer schienen das zu honorieren.

„Peter, pass auf, dass hier Ruhe herrscht“, sagten sie, bevor sie den Raum verließen oder wenn sie selbst nicht Acht geben konnten. Ich nahm das ernst, aber nicht zu ernst. Wenn jemand petzte: „Mario macht Faxen!“, ging ich zu Mario und gab ihm einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. Dabei zwinkerte ich mit einem Auge. Er spielte den reuigen Sünder, sah mich zerknirscht an, um gleich darauf zu grinsen.

Nach dem Unterricht gingen wir nicht immer geradewegs nach Hause bzw. ins Kloster. Oft saßen wir in einer kleinen Kneipe, tranken Cola und verjubelten unser Taschengeld in der Musikbox.

Morgen …

Schöner fremder Mann …

Heißer Sand und ein verlorenes Land

Vor allem: Mit 17 fängt das Leben erst an: denn du weißt noch nicht, was Liebe ist, weil dein Leben erst begann. Später sieht das alles anders aus, liebst du erst einen Mann ...“

Keiner ahnte, weshalb ich diese Zeilen liebte.

Mit 14 war ich in Stella Maris angekommen, mit 17 ging ich fort. Damals empfand ich drei Jahre als lange Zeit. Heute erscheinen sie mir wie ein kurzes Zwischenspiel. Die Realschule beendete ich mit mäßigem Erfolg.

Dunkel erinnere ich mich an die Abschlussfeier. Die anderen waren mit ihren Eltern gekommen. Ich war allein. Die anderen trugen Anzüge mit langen Hosen, ich Knickerbocker. Ich ging zurück ins Heim und borgte mir von Heiner eine grünkarierte Hose.

Die anderen wussten, was sie werden wollten. Das, was ihre Väter waren, nur ein bisschen besser. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte keinen Vater.

Hinausgeboren

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