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Leben am Hang

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Das kleine Haus von Alice und Leopold lag an einem Berghang. Auf der einen Seite blickten wir nach unten zur Skipiste. Auf der anderen hörten wir von oben Tennisplatzgeräusche.

Klein war es eigentlich nicht, es hatte sechs Gäste-zimmer. Mir schien es trotzdem winzig, weil wenig Raum für mich war.

„Peng! Zurück! Netz! Aus! Wechsel!“

Da spielten sie wieder. Ich stieg hinauf und sah den Bällen zu.

„Na Kleiner, willst mitspielen?“, fragte jemand.

„Der muss noch wachsen“, meinte ein anderer.

„Kannst die Bälle für uns holen, lernst was und kriegst 30 Pfennig die Stunde, was sagst?“

Ich überlegte nicht lange. An den Breitseiten des Platzes standen hohe Zäune. Nach vorn und hinten konnten die Bälle weiter fliegen. Na und? Ich war gerne draußen, mochte Bewegung, hatte eine gute Kondition, und der Verdienst kam mir gelegen.

Wenn die Sonne besonders stark brannte, dachten die Spieler, der Balljunge würde mindestens so erschöpft sein wie sie und gaben mir oft ein Zehnerl mehr als vereinbart.

Vermögend wurde ich nicht. Im Winter gab ich das Ersparte groschenweise wieder aus. So viel kostete eine Fahrt mit dem Skilift. Stundenlang sauste ich immer wieder den Hang hinab. Unten klemmte ich mich an das Seil und ließ mich vom Lift wieder bergauf ziehen. Das Seil war nass und kalt. Wenn der Abstand zwischen den „Gelifteten“ groß war, hing es auf der Erde und schleifte durch den Schnee. Mit klammen Fingern hielt ich mich fest. Oben entschied ich: noch einmal. Und noch einmal. War mein Geld aufgebraucht, stellte ich mich neben den Liftbetreiber.

“Kummst ja scho wiada“, lachte er, hängte mich ans Seil und ließ mich gratis hinauf.

Mein Leben im Hause Bern spielte sich vor allem außerhalb des Hauses ab. Im Sommer auf dem Tennisplatz. Oft Anstrengend, doch das brachte Geld ein. Im Winter auf der Skipiste. Purer Spaß, für den ich die Groschen gern bezahlte.

So verging die Zeit.

Immer gleich?

Nein.

Tante Alice liebte das Einzigartige. Im Sommer schmückte sie die Gästezimmer gern mit Enzian. Sie legte die dunkelblauen Blüten in Dessertschalen und dekorierte damit Tische.

Die Bewunderung der Besucher war ihr sicher. Viele hatten auf ihren Wanderungen selbst nach der seltenen und berühmten Blume gesucht. Vergeblich. Die in 1500 Meter Höhe gelegene Enzianwiese war unser Geheimnis. Auch von der gelegentlichen Ernte sollte niemand wissen, denn die Pflanze stand unter Naturschutz.

Wieder einmal kraxelten Tante Alice, Fanny und ich mit einer Tischdecke ausgerüstet den Berg hinauf. Mittags waren wir losgegangen, am frühen Abend kehrten wir mit der Beute heim. Kaum hatten wir die blaue Blumenpracht aus der Tischdecke geschält, trat der Dorfgendarm Brodinger auf die Veranda. Er hatte hinter dem Haus auf uns gewartet. Er war bekannt für seinen Eifer und konnte äußerst ungemütlich werden. Ein Dienstmädchen, das beim Stehlen erwischt worden war, hatte er persönlich über die Berge ins Bezirksgefängnis gebracht.

„Was haben wir denn da, Frau Bern?“

Mit verschränkten Armen stand er vor uns.

„Wer hat uns verpfiffen, Herr Brodlfinger, äh Herr Brotfinger, hm … Brodinger?“

Auf den Mund gefallen war Tante Alice nie. Den Brodinger beeindruckte sie nicht.

„Alle Enziane zählen!“

Das Bußgeld wurde teuer. Hätten wir doch weniger gefunden! Immerhin, ins Gefängnis mussten wir nicht.

Wir erfuhren nie, wer uns verraten hatte. Wahrscheinlich ein Neider. Ein Gerechtigkeitsapostel. Als ob die anderen immer gut und ehrlich wären! Wie war denn das mit Bauer Birgel? Der verdünnte Milch. „Sauba muaß die Kannen sei, gell“, sagte er und hielt mein Gefäß unters Wasser.

Oder der Metzger, der „Jawoll, Frau Bürgermeister“ dienerte und uns in der Schlange warten ließ.

Im Wirtshaus spotteten sie: „Die Alice hat mal oins uffs Maul braucht.“ Onkel Leopold focht das nicht an. Er kümmerte sich nicht um Gerede. Er schlürfte seine Leberknödelsuppe und dachte an Fanny, die Magd.

Einmal im Jahr zog Tante Alice für sieben Tage in ein Kloster am Bodensee, wo Rogeria, ihre ältere Schwester, als Nonne lebte. Sie verabschiedete sich von Leopold meist mit den Worten: „Deanas künnt dir au a moal nötig sei!“ (Das wäre für dich auch mal nötig!) und stapfte beckenschwingend den Wiesenpfad hinunter zur Bushaltestelle vor der Post.

Onkel Leopold blickte ihr verschmitzt nach. Fanny stand wie ein Zinnsoldat hinter ihm. Artig hatte sie ihrer Herrin eine gute Einkehrwoche gewünscht. Diese Schwester, munkelte man, würde einmal selig gesprochen werden. An ihren Handinnenflächen seien die Wundmale des Herrn erschienen. Sie galt als zweite Theresa von Konnersreuth.

Kaum war die Tante fort, zog Lebensfreude in das Haus. Onkel Leopold holte für sich ein paar Biere aus dem Keller, Fanny bekam Rosé-Wein. Ich durfte daran nippen und vor allem: abends länger aufbleiben. Fanny und Leopold lachten und scherzten in der einen Woche mehr als im ganzen Jahr davor und danach. Leopold legte seine Pranke zärtlich auf Fannys Hände, zupfte an ihrer dicken, roten Nase.

Allabendlich kam der Augenblick, in dem die beiden einander in die Augen schauten und Fanny zu mir sagte: „Peterle, es ist spät, jetzt musst du ins Bett!“

Alljährlich verging diese Woche viel zu schnell und mit Tante Alice kehrte die gedrückte Stimmung in das Haus zurück.

„Warum hat mich keiner vom Bus abgeholt?“. Onkel Leopold grummelte nur: „Deanas woischt du schon als wia du hoimkummscht ...“ (Du weißt doch selbst, wie du heimkommst).

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