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Lagerleben

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Scheumond

Roman von Gorderley saß in seinem Zelt und schrieb. Es gab plötzlich so viel zu entscheiden und zu ordnen und anzuweisen. Natürlich war er dafür erzogen und ausgebildet worden, aber selten hatte sich ein gordischer Fürstensohn unter so krassen Umständen in seine Rolle finden müssen. Gorderleys Stabilität beruhte auf auf der kontinuierlichen Thronfolge, die normalerweise geordnet vom Vater auf den Sohn übergeben wurde. Aber die Zeiten waren nicht mehr normal. Ebelonds Prophezeiung näherte sich ihrer Vollendung und er musste sein Volk durch die Wirrnis dieser Jahre führen. Roman setzte er die Feder ab und sah nachdenklich gegen die Wände aus Tuch. Es war alles so unwirklich. Die Entscheidung des Königs ließ Gorderley seine Würde in einem Maße, die er sich nie geträumt hatte. Höchstens als Provinz mit relativen Freiheiten hatte er sich die Zukunft des Fürstentums vorgestellt, doch Melgardon war weiter gegangen und hatte Gorderley als freien und unabhängigen Staat anerkannt. Wo er selbst nur den Untergang gesehen hatte, die Niederlage nach hunderten Jahren der Kämpfe um Freiheit, gab der König den Preis des Sieges aus der Hand um den Preis des Friedens. Obwohl er Melgardons Führungsqualitäten stets geachtet hatte, waren es diese schicksalhaften Worte, die ihm die unendliche Erleichterung schenkten, seinen Treueeid dem richtigen Mann geleistet zu haben. Romans Hand fuhr zu dem Amulett unter seinem Hemd. Die Göttin hatte nie mehr zu ihm gesprochen, aber diese Entwicklung musste sie zufrieden stellen. Wenn die unglaubliche Geschichte des gemeinsamen Kampfes angesichts der tausenden von Toten auf dem Schlachtfeld tatsächlich geglaubt wurde, und danach sah es aus, dann breiteten wahrhaftig die Götter ihren Segen über diese Lüge und vielleicht würde sie dadurch irgendwann wahr werden. Für sein Volk und für die Brandai. Für ihn niemals.

Er hörte die Wache vor dem Zelt sprechen, dann bauschte sich der Vorhang und ein Mann trat ein.

„Timbermeyn.“ Roman stand auf und trat seinem Heerführer entgegen. Ohne dessen Entscheidung, das Heer Brandais auf die Ebene ziehen zu lassen, und später sein überraschendes Eingreifen als die Kämpfe zu scheitern drohten, hätte Brandai nicht siegen können. So gesehen waren die Worte des Königs von dem gemeinsam errungenen Sieg nicht einmal falsch.

Timbermeyn blieb vor ihm stehen. „Mein Fürst“, grüßte er mit einem Kopfnicken. Dann zog er sein Schwert. Er rief es nicht, aber dennoch war die Bewegung schneller als ein Lidschlag. Roman rührte sich nicht. Ohne Zögern beugte sich Timbermeyn nieder und legte sein Schwert dem Fürsten zu Füßen, richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zurück.

„Nicht er“, dachte Roman, doch der Blick des Heerführer war eindeutig. Sie sahen sich eine Weile an. „Ich habe ein Recht darauf“, sagte Timbermeyn schließlich, „ein Verrat ist immer ein Verrat, Ihr habt es selbst gesagt.“

„Ich habe kein Urteil gefällt!“, widersprach Roman.

„Das ist nicht notwendig. Ich habe das Richtige getan, aber es war dennoch falsch. Ich bin ein Heerführer Gorderleys und fälle das Urteil selbst. Die Vollstreckung liegt bei Euch, es sei denn, Ihr verweigert mir die Ehre.“

Es war keine Anklage in der Stimme, aber Roman fühlte den Schmerz trotzdem und beneidete zugleich seinen Heerführer. Timbermeyn konnte noch wählen, ihm selbst war diese Entscheidung verwehrt. Er hob das Schwert auf. Es lag fast perfekt in der Hand, ein ebenso stark gebundenes Schwert, wie sein eigenes. Etwas schmaler und leichter aber von genauso tödlicher Schärfe. Niemand wusste, woher es kam, der Gorderley hatte keine Familie, keinen Stammsitz. Seine Heimat war das Heer, seit Roman sich erinnern konnte. Elder von Gorderley hatte den jungen Mann einst gefördert und bereits zum Anführer erhoben, lange bevor Roman den Oberbefehl übernahm. „Ich brauche Euch lebend, Timbermeyn“, begann er, „ich muss dem König zurück nach Undidor folgen, sonst werden die brandaianischen Adligen niemals an einen Frieden glauben. Der Fürst darf noch nicht in Gorderley bleiben. Jemand muss an meiner Stelle das Fürstentum führen. Jemand, dem ich vertraue. Ich bitte Euch zu bleiben, ein oder zwei Jahre. Es gibt niemanden, dem ich diese Aufgabe im Augenblick übertragen könnte.“

Im Gesicht des hageren Gorderley zeigte sich keine Regung. „Ihr verlangt von einem Toten, weiter zu leben.“ Die schwarzen Augen bohrten sich in die des Fürsten.

„Ich weiß.“

Timbermeyn wirkte überrascht und der leere Ausdruck seiner Augen machte tiefer Trauer Platz. Er senkte kurz den Kopf bevor er den Fürsten wieder ansah. Roman reichte ihm das Schwert mit dem Knauf voran. „Ihr bekommt, was Ihr wollt, Timbermeyn, aber ich bitte Euch: Gebt mir zwei Jahre. Gebt Gorderley zwei Jahre, ist das zuviel?“

Wieder schwieg der Krieger so lange, dass es bei einem anderen ungehörig gewesen wäre. Roman wartete mit schwerem Herzen, bis sich die ohnehin gespannte Gestalt noch mehr straffte. „Es ist viel, Herr. Für niemanden außer Euch, würde ich das tun.“ Er ballte die Fäuste. „Zwei Jahre, ja?! Ihr gebt mir Euer Wort, dass Ihr dann kommt?“

„Ich verspreche es. In zwei Jahren komme ich nach Gorderley und Ihr könnt von mir fordern, was Ihr wollt.“ Timbermeyn nahm seine Waffe und schob sie zurück in die Scheide. „Ich werde warten, mein Fürst. Jeden Tag.“

Als er ging, setzte sich Roman auf seinen Stuhl und schloss die Augen. Auch diesen Mann hatte Fürst Elder auf dem Gewissen. Wie sollte das Unrecht, das sein Vater über Gorderley gebracht hatte, je getilgt werden? Wie sollte er nur mit der Last dieser Schuld weiterleben? Aber diese Frage war ihm verboten. Er war nun der amtierende Fürst und das Privileg seiner Geburt verpflichtete ihn, sein Volk zu führen. Nur das zählte. Er atmete tief durch, warf einen Blick auf die Papierrollen und Pergamente und entschied, dass diese Entscheidungen warten konnten. Jetzt brauchte er andere Gedanken.

Ein Teil des gordischen Heeres war in den letzten drei Tagen abgezogen, aber die Ebene von Mancafell glich immer noch einem riesigen Marktplatz. Krieger trainierten bereits wieder in Zweikämpfen, es fanden Pferderennen und Geschicklichkeitswettbewerbe statt. Schmiede reparierten Rüstungen und Waffen, Barbiere hatten reichlich Zulauf und am Rande hatten sich schon die Wagen der reisenden Huren eingefunden, die jedem Heer der Welt zuverlässig folgten. Dazwischen ragten die Lazarettzelte auf, in denen die Verletzten von Heilkundigen und Priestern versorgt wurden. In Gorderley verließ man sich weiterhin nicht auf Magie, sondern auf die praktische Kunst der Feldschere, unterstützt von der Gunst der Götter.

Der König war mit dem brandaianischen Heer in das Küstenland gezogen, um die Piraten zu vertreiben. Verletzte und Tote waren größtenteils schon auf dem Weg zurück in das Reich, nur wenige nicht transportfähige Brandai waren noch in der Obhut der Gorderley zurück geblieben.

Roman wurde auf seinem Weg durch das Lager nicht aufgehalten, aber überall wo er vorbei kam, hielten die Männer inne und grüßten. Manche grinsten ihn offen an und wenn sie seinen ermunternden Blick oder sein Nicken sahen, salutierten sie mit einer lässigen Handbewegung oder riefen fröhlich: „Eireana möge Euch schützen, Herr.“

Es war, als sei er nie fort gewesen.

Er traf Esterhazy vor dem Küchenzelt, wo er über einen Blechteller gebeugt eine Mahlzeit in sich hinein schaufelte. Erst als der Fürst vor ihm stand, blickte er hoch und sprang mit einem schuldbewussten Grinsen auf. „Ich bitte um Vergebung, wenn ich esse, scheine ich alles um mich herum zu vergessen.“

So war es, seit der Baron vor vier Tagen aus seinem Verletzungsschlaf erwacht war. Anfangs konnte er vor Schwäche kaum die Augen öffnen und musste sich sogar beim trinken von Heinrich stützen lassen, aber bald gewann er genug Kraft, um eigenständig auf Nahrungssuche zu gehen. Und damit verbrachte er seine Tage und einen guten Teil der Nächte.

Ein Küchengeselle trat mit einem Topf aus dem Kochzelt. Er nickte kurz zum Fürsten und fragte an Esterhazy gewandt: „Noch Nachschlag, Herr Ritter?“ Esterhazy hielt ihm den Teller hin und seufzte: „Der dritte. Ein Lob der gordischen Feldküche.“

Der Gorderley füllte den Teller bis zum Rand. „Wird nich das letzte Mal gewesen sein, für heute, Herr Ritter. Noch ham wir genug auf'm Feuer.“ Verblüfft verfolgte der Fürst den Wortwechsel. „Seit wann sprecht Ihr gordisch?“, fragte er, als der Koch wieder im Zelt verschwunden war. Esterhazy stand mit dem Teller in der Hand und zuckte die Achseln. „Nur ein paar Worte, irgendwie muss ich ja etwas zwischen die Zähne bekommen.“ Er betrachtete hungrig die Portion auf seinem Teller. „Lasst Euch nicht abhalten“, ermunterte ihn der Fürst, und der Baron setzte sich mit einem entschuldigenden Blick und begann wieder zu essen, nur wenig bemüht, dabei nicht allzu gierig zu wirken. „Gibt es Neuigkeiten von der Küste?“, fragte er zwischen zwei Bissen.

„Es ist noch zu früh. Sie können frühestens heute das südliche Küstenland erreicht haben. Das Gelände ist unwegsam und die Seeberge sind schwer zu durchqueren. Ich rechne erst in einigen Tagen mit Nachrichten.“

„Gut für mich“, Esterhazy leckte den Teller ab und stellte ihn auf den Boden, „vielleicht kann ich dann einen Ritt durchhalten. Momentan schaffe ich nicht einmal, den Sattel aufzulegen.“ Von der Seite näherte sich Axel und wartete auf ein Zeichen des Fürsten, um dann schnell Esterhazys Essgeschirr aufzunehmen und damit im Küchenzelt zu verschwinden. Der Fürst sah ihm nachdenklich hinterher. Der Knappe war einfach im gordischen Lager zurück geblieben, als das brandaianische Heer und damit auch Graf Hochfels zur Küste aufbrachen, und seitdem verteidigte er zäh seine Stellung beim Fürsten. Roman brachte es nicht über das Herz, ihn fort zu schicken, auch wenn es hier keinen Mangel an jungen Gorderley gab, die sich um den Dienst rissen. Axel hatte schnell von den anderen gordischen Knappen gelernt, stets wie ein Schatten im Hintergrund zu verweilen, und aufmerksam abzuwarten, ob der Fürst nach ihm verlangte und dann zur Stelle zu sein.

Ganz anders als Esterhazys Knappe, der einmal mehr durch Abwesenheit glänzte. Der Baron war seinem Blick gefolgt. „Es ist nicht so leicht für einen brandaianischen Knappen in einem gordischen Lager, wo jeder Gleichaltrige ihm haushoch überlegen ist“, sagte er scheinbar zusammenhanglos, „Heinrich fällt wohl ein paar Tage aus.“ Roman schwieg erstaunt, denn wieder einmal schien der Baron seine Gedanken zu lesen.

Unter gordischen Rittern waren die Leistungen und das Auftreten ihrer Schützlinge ein Dauergesprächsthema, aber auch wenn Heinrichs Leistungen im gordischen Lager höchstens Hohn erregten, hatte er Esterhazy gegenüber kein Wort darüber verloren. Man mischte sich nicht in die Ausbildungsangelegenheiten eines fremden Ritters ein, das galt sogar für den Fürsten.

„Ich bitte um Entschuldigung. Es geht mich nichts an“, entgegnete er, „wollt Ihr mich ein Stück begleiten?“

Esterhazy schritt an der Seite des Fürsten durch das Lager. „Heinrich ist ein guter Junge. Er wird irgendwann das Gut seines Vaters übernehmen, ein Mädchen aus der Umgebung heiraten, Schafe züchten und im schlimmsten Fall ein paar Wegelagerer vertreiben müssen. Gorderley wird eine Jugenderinnerung für ihn bleiben.“ Er seufzte. „Keine angenehme, fürchte ich. Er hat ein paar Prügel eingesteckt. Bis morgen schaffe ich es durchaus ohne einen Knappen, dann wird er wieder laufen können.“

Roman runzelte die Stirn. „Ich wusste nicht... ich werde verbieten, dass...“ „Mit Verlaub, Fürst Gorderley“, unterbrach ihn Esterhazy, „die Jungen werden das unter sich ausmachen. Heinrich schafft das schon. Wir sollten uns da nicht einmischen.“

„Wie Ihr wünscht.“ Roman lächelte versonnen, denn eigentlich handelte Esterhazy nicht anders, als ein gordischer Ritter.

„Ich nehme aber nicht an, dass Ihr mir Eure geschätzte Aufmerksamkeit schenkt, um über meinen Knappen zu sprechen?“, unterbrach Esterhazy munter seine Gedanken, „kann ich mich irgendwie nützlich machen?“

„In der Tat“, nickte der Fürst, „ich werde in einigen Tagen aufbrechen und Gorderley besuchen. Fürst Elder ist tot und ich werde einige Zeit dort bleiben müssen, um die Nachfolge zu regeln.“

Aufmerksam hörte Esterhazy zu und verzog jetzt erstaunt das Gesicht. „Ich dachte, die Thronfolge in Gorderley sei klar? Gibt es Zweifel an Eurer Stellung?“

„Das nicht.“ Der Fürst blieb stehen, um einen strohbeladenen Karren vorbei zu lassen. Die beiden Krieger, die an der Deichsel zogen, grüßten mit einem Kopfnicken, machten aber keine Anstalten, ihre Arbeit zu unterbrechen.

„Der Anspruch auf den Fürstenthron wird nicht hinterfragt. Ich bin der Erbe und Nachfolger von Fürst Elder.“ Roman brach ab, setzte sich schweigend wieder in Bewegung und erklärte nach einigen Schritten: „Ich muss mich zumindest einmal dem Volk zeigen. Timbermeyn kann von Witstein aus regieren, aber mein Volk muss sehen, dass er es in meinem Namen tut. Außerdem muss ich die Lehnseide abnehmen.“

„Eure Gefolgsleute kommen dazu nicht zu Euch?“, fragte der Baron neugierig.

„Nicht immer. Die Umstände verlangen, dass ich selbst nach dem Rechten sehe. Wollt Ihr mich begleiten?“

Esterhazy nutzte die Gelegenheit und blieb stehen, die rechte Hand in die Seite gepresst. „Das ist eine Ehre für mich. Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht jemanden mit...mehr Bedeutung mitnehmen wollt?“ Er versuchte unauffällig, tief Luft zu holen, „außerdem bin ich noch nicht so reisefähig, glaube ich.“

Roman musterte ihn freundlich. „Der König ist mit seinen Beratern an der Küste, Ihr seid der einzige Ritter Brandais hier, soweit ich das sehe. Davon abgesehen, wäre es mir ein persönliches Anliegen, Euch einen Eindruck von meinem Land zu geben. Aber wenn Ihr zurück auf Eure eigenen Güter wollt, habe ich dafür Verständnis. Nach diesem Krieg ist dort vieles zu regeln.“

„Ich müsste wirklich ein kompletter dumpfer Idiot sein, wenn ich dieses Angebot ablehnte“, platzte Esterhazy heraus, „und ich wüsste nichts, was ich lieber täte. Ganz bestimmt nicht, nach Sturmingen gehen.“ Ein Schatten zog über sein Gesicht.

„Graf Leanders Tod trifft Euch sehr.“

„Er...war ein guter Mann, ein Ritter, wie er sein sollte und ich wünschte, ich hätte ihn besser geschützt.“ „Ihr habt getan, was Ihr konntet und es hat Euch beinahe das Leben gekostet“, entgegnete der Fürst und Esterhazy schloss einen Moment die Augen. „Ja, ich werfe mir nichts vor. Aber Brandai wäre besser dran, wenn er noch lebte. Und ich wohl auch. Jetzt bin ich Dankwarts Lehnsmann und heilfroh, wenn ich ihm nicht so bald begegne.“

Sie kamen an den Rand des Lagers und er blieb wieder stehen. „Wohin gehen wir eigentlich?“

Der Fürst wies auf die Ebene: „Es wird höchste Zeit, das Schlachtfeld zu bereinigen.“ Der Baron sah ihn fragend an und er erklärte: „Die letzten Toten müssen verbrannt werden. Es sind zu viele, um sie alle zu bestatten. Die meisten unserer Gefallenen wurden von Angehörigen weggeschafft, aber die toten Brandai beginnen zu verwesen. Wenn das warme Wetter anhält, wächst die Seuchengefahr. Falls Ihr Euch die Mühe machen wollt, könntet Ihr vielleicht noch einige brandaianische Ritter identifizieren und die Familien benachrichtigen.“

Esterhazy ließ den Blick über die Steppe schweifen. Überall kreisten Raben und Geier und tatsächlich lag bereits süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft. „Natürlich, ich werde sehen, was ich tun kann.“ Roman winkte Axel, der ihnen mit einigem Abstand gefolgt war. Jetzt eilte er wie ein Blitz heran. „Sattle ein Pferd für den Baron und hilf ihm“, befahl der Fürst und ergänzte dann an Esterhazy: „Ihr habt bis zum Abend Zeit. Morgen werden wir mit der Verbrennung beginnen.“

Es war später Nachmittag, als Axel zum Zelt des Fürsten zurückkehrte. Der Vorhang am Eingang war geöffnet und er sah Roman von Gorderley mit einem eleganten Ritter im Gespräch. Ritter Ferdinand Erkandar, rekapitulierte er und war froh, dass ihm der Name so schnell einfiel. Obwohl er gar keinen Titel inne hatte, war der Ritter ein wichtiger Mann im Fürstentum. Die beiden Gorderley blickten ihm entgegen, als er das Zelt betrat und er spürte sein Herz schneller schlagen. Wenn er mit dem Fürsten allein war, fühlte er sich einigermaßen sicher, aber er hatte immer Angst, sich vor den gordischen Rittern zu blamieren. Die gordische Etikette war so anders, als das Leben an Brandais Höfen – so kompliziert und voller ungeschriebener Gesetze.

Er verbeugte sich sicherheitshalber in Richtung Erkandars, bevor er den Fürsten ansah: „Herr, Baron Esterhazy bittet Euch um Eure Anwesenheit, wenn es möglich ist.“

Der Fürst und der Ritter wechselten einige Worte auf gordisch, bevor Ritter Erkandar mit einer angedeuteten Verbeugung zum Fürsten, Axel fand, dass es eher ein Kopfnicken war, das Zelt verließ.

Ein wortloser Wink bedeutete Axel voranzugehen. Die Gorderley schienen ihren Knappen nie Anweisungen zu geben und trotzdem zu erwarten, dass diese wussten, was verlangt wurde. Anfangs hatten sich die anderen Knappen des öfteren vorgedrängt, wenn Axel nicht schnell genug reagierte, aber inzwischen wurde er besser darin, die Wünsche des Fürsten zu erahnen und diesmal war er vorbereitet und hatte das Pferd des Fürsten bereits gesattelt.

Baron Esterhazy saß auf einer kleinen Anhöhe und stand ein wenig mühsam auf, als der Fürst sich näherte. Axel blieb am Fuße des Hügels mit den Pferden zurück und versuchte, nicht allzu offensichtlich zu den beiden Rittern hinauf zu starren.

„Tschech“, sagte Esterhazy nur und wies auf den Toten zu seinen Füßen. Um den toten Ritter war der Boden zertrampelt und blutgetränkt. Tschechs Brustharnisch wies ein gezacktes Loch auf, wo der Todesstreich ihn getroffen hatte. Der Baron deutete auf die Schleifspuren im Gras. „Eure Leute haben ihre Toten bereits geholt. Ich glaube, sie mussten ihren Mann von Tschechs Schwert freischneiden. Er hat bis zum letzten Atemzug gekämpft.“

Der Fürst betrachtete betroffen den Toten. Schließlich räusperte sich und fragte: „Gibt es noch Angehörige?“

„Er hat im letzten Sommer geheiratet. Seine Frau trägt ein Kind, soweit ich weiß“, Esterhazy überlegte, „Tschech war der letzte Erbe von zwei ziemlich reichen Familien. Seine Gattin wird sich sicher erkenntlich zeigen, wenn Ihr die sterblichen Reste nach Brandai schaffen lasst. Er wollte immer neben seinem Onkel die letzte Ruhe finden.“

„Ja, Terweg“, sinnierte der Fürst gedankenvoll, „er hat mir seinen Tod nie verziehen, glaube ich.“

Er bückte sich und hob Tschechs Schwert auf, das seltsam deplaziert hinter seinem Kopf lag - von den Gorderley dort zurückgelassen, als Zeichen der Achtung vor einem ehrenhaften Gegner. Hoffentlich verstanden seine Erben diese Geste. Sonst würde ein weiterer Tschech heranwachsen, der einen Hass auf Gorderley in seinem Herzen hegte.

„Sorgt dafür, dass er nach Brandai kommt. Ihr habt freie Hand, regelt das in meinem Namen“, wies er Esterhazy an, winkte Axel herbei und gab ihm Tschechs Schwert. „Säubere das“, befahl er und setzte an Baron Esterhazy gewandt fort: „Ich danke Euch, dass Ihr mich gerufen habt.“ Als er sich abwenden wollte, hörte er Esterhazy sagen: „Ich habe auch Aue gefunden.“

Roman von Gorderley blieb stehen. „Das ist...keine gute Nachricht.“ Er schloss einen Moment die Augen. Es war seltsam, dass die toten Brandai ihn mehr schmerzten, als die Gefallenen unter seinen eigenen Landsleuten. Oder fühlte er sich nur schuldig, weil er den jungen Ritter nicht besser geschützt hatte? „Wo liegt er?“

Esterhazy führte ihn über das Schlachtfeld. Ein paar Male stolperte er und seine Schritte wurden immer langsamer, aber schließlich erreichten sie den Toten. „Den Helm...habe ich ihm abgenommen“, keuchte der Baron und stützte die Hände vorgebeugt auf den Knien ab, während er nach Luft rang. „Ich bitte um ..Vergebung.“

Aue lag auf dem Rücken, sein Gesicht war unverletzt und sah friedlich aus.

„Das war wohl zu erwarten, nachdem er Herbegen nicht retten konnte“, murmelte Roman mehr zu sich, als zu seinen Begleitern, „was für eine sinnlose Verschwendung.“ Ohne den Blick von dem Toten abzuwenden, fragte er: „Was ist mit seiner Familie?“ Esterhazy richtete sich auf und holte tief Luft: „Ich weiß nicht genau. Er ist ja mit Herbegens Schwester verheiratet. Herbegen wurde von seinem Vater schon geholt und heim gesandt. Ich glaube, Aue haben sie einfach vergessen.“

Der Fürst beugte sich zu dem Toten und legte ihm die Hand auf den Kopf. „Herrin Eireana, nimm diesen Mann in deine Obhut und geleite ihn sicher ins Totenreich“, betete er still. Dann stand er auf und musterte die Umgebung. Aues Schwert war fort, aber sein Schild lag blutverschmiert im Schlamm an seiner Seite. „Nimm das auch mit“, wies er Axel an, der ihnen mit den Pferden gefolgt war, „ich werde einen Priester anweisen, dass der Körper einbalsamiert wird. Wenn niemand in Brandai seiner gedenkt, wird er hier bestattet. Er hat ein Heldengrab verdient!“

Als er sich in den Sattel der Stute schwang und davon trabte, wollte Axel ihm folgen, aber Baron Esterhazy rief ihn zurück: „Kümmere dich um die Waffen, der Fürst braucht dich jetzt nicht.“ Etwas unsicher sah Axel dem Fürsten hinterher, denn von den gordischen Knappen hatte er sich abgeschaut, immer in der Nähe seines Schwertherrn zu bleiben. Aber er konnte ja auch schlecht gegen den Befehl eines Ritters handeln.

„Wir machen hier Schluss, es dämmert bald“, hörte er den Baron sagen und fuhr herum. „Soll ich Euch behilflich sein?“

Baron Esterhazy winkte ab: „Einmal aufsteigen sollte gehen….“ Er schwankte und setzte er sich direkt neben dem Leichnam auf den Boden. „Ich nehme dein Angebot an. Und dann brauche ich dringend etwas zu essen, sonst kann ich mich gleich dazu legen.“

Zurück im Lager begleitete Axel den Baron bis zum Küchenzelt, bevor er sich um dessen Pferd kümmerte. Danach besuchte er Heinrich, der zusammen mit dem Baron ein kleines Zelt bewohnte und setzte sich zu ihm auf die Kante der Lagerstatt, als er vom heutigen Tag erzählte. Heinrich richtete sich mühsam auf. „Warum machen sie das? Der Gestank wird furchtbar sein, wenn sie all die Toten verbrennen. Warum lassen sie sie nicht einfach liegen?“

Axel schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Der Fürst hat es angeordnet. Vielleicht kommt es daher, dass die Gorderley immer alles aufräumen müssen.“

„Verdammte Gorderley! Ich bin froh, wenn wir von hier wegkommen. Dem Baron geht es schon viel besser.“ Heinrich stellte die Füße auf den Boden und verzog das Gesicht, als er aufstand. „Ich sollte mich um sein Abendessen kümmern.“

„Nicht nötig, Baron Esterhazy hat sich selbst etwas geholt, und sein Pferd habe ich auch schon versorgt“, hielt Axel seinen Kameraden zurück und musterte mitleidig dessen verschwollenes Gesicht. Heinrich blieb stehen und sah ihn unglücklich an. „Jetzt machst du auch noch meine Arbeit. Ich bin hier zu nichts nütze.“

„Sie würden mich genauso verprügeln, wenn ich nicht dem Fürsten dienen würde“, versuchte Axel ihn zu trösten, aber Heinrich schnaubte wütend: „Mit dir reden sie wenigstens, mich lachen sie nur aus.“

Axel schwieg, denn es stimmte. Er selbst verlor jeden einzelnen Kampf gegen die gordischen Knappen, aber trotz allem respektierten ihn die anderen. Er lernte jeden Tag dazu, und das nicht nur im Training mit dem Fürsten. Er bemühte sich redlich, die fremden Bräuche und Gepflogenheiten zu verstehen, beherrschte immerhin schon genug Gordisch, um auf den Spott der Knappen hin und wieder antworten zu können, aber vor allem glaubte er im Gegensatz zu Heinrich nicht, dass sie ihn besonders schikanierten, denn auch die jüngeren gordischen Knappen mussten von ihren älteren Kameraden eine Menge einstecken.

Heinrichs Problem war, dass er nicht nur alles gordische aus tiefem Herzen verachtete, sondern dem Knappendasein selbst nichts abgewinnen konnte. Er sehnte sich nach seinen Eltern und Geschwistern und dem kleinen Gut im Samland, wo die größte Unsicherheit vom Wetter ausging und das Leben ruhig und beständig war. Einzig seinen Schwertherrn liebte er, absurderweise gerade weil dieser ihn in den Dienst genommen hatte, nachdem sein Vater bei mehreren anderen Rittern vergeblich für ihn vorgesprochen hatte. Damals war er sogar ein bisschen stolz gewesen, aber inzwischen wünschte er sich, der Baron hätte ihn abgelehnt und sein Widerwillen war bei allem was er tat, deutlich zu erkennen. Er setzte sich wieder neben Axel und zog sein Hemd hoch, um die blauen Flecken auf seinem Oberkörper zu betrachten. „Das tut echt weh.“

Axel dachte an seine blauen Flecken und schenkte dem Jüngeren ein aufmunterndes Lächeln. „Wenn sie braun werden, wird es besser.“

„Toll“, brummte Heinrich, „hoffentlich sind wir dann nicht mehr hier.“

„Darauf würde ich nicht wetten“, entfuhr es Axel, bevor er verlegen die Hand vor den Mund schlug, „sag es bitte niemandem, der Fürst hat heute morgen gefragt, ob ich ihn begleiten will, wenn er nach Gorderley reist.“

Er hatte vor Aufregung fast nicht antworten können, aber der Fürst hatte sein Gestammel als Zustimmung angenommen und befohlen, dass er sich ein Pferd aussuchen und Reisekleidung besorgen solle.

„Du hast ja gesagt“, fragte Heinrich entgeistert, „du bist verrückt. Sie werden dich zu Hackfleisch machen und zum Frühstück verspeisen. Die warten doch nur darauf, dass du verschwindest und sie sich beim ihrem wunderbaren Fürsten einschleimen können.“

„Bitte rede nicht so“, widersprach Axel und seufzte. „Es ist eine Ehre, dem Fürsten zu dienen. Und klar, sie finden, ein Brandai sei nicht der Richtige. Aber wenn der Fürst das entscheidet, werden sie es akzeptieren. Ich muss mich eben noch mehr anstrengen. Das solltest du auch. Du wirst nämlich mitkommen müssen.“

Heinrich stöhnte. „Du hast recht. Der Baron wird den Fürsten bestimmt begleiten. Womit habe ich das nur verdient.“ Kopfschüttelnd stand Axel auf. Manchmal fühlte er sich den gordischen Knappen näher als seinem Kameraden, auch wenn er das nicht aussprechen würde. Sie waren die einzigen jungen Brandai im ganzen Lager und ohne Heinrich würde er sich sehr einsam fühlen. „Du schaffst das schon“, sagte er aufmunternd und verließ das Zelt. Es war schon dunkel, aber im Mondlicht fand er sicher den Weg zum Zelt des Fürsten. Dort waren mehrere Ritter versammelt und Kevin, der Knappe von Ritter Erkandar stand vor dem Eingang. „Hey, Brandai, willst du nicht ins Bettchen gehen?“, spottete er.

Axel tat, als hätte er die Beleidigung nicht verstanden, stellte sich ungerührt neben ihn und suchte im Kopf die gordischen Worte zusammen, die er brauchte. „Mein Platz. Du gehen. Danke für stehen hier.“ Er sah Kevin mit mehr Festigkeit an, als er fühlte, aber der gordische Knappe grinste. „Mein Herr ist dort drinnen“, sagte er auf Brando, „und er wollen, dass ich dir sprechen. Damit ich deine verdammte Sprache besser lerne und deine Zunge das Glück genießen kann, sich im Gordischen zu versuchen.“ Den letzten Satz sagte er auf Gordisch und Axel verstand nur die Hälfte, aber das war ausreichend. Er grinste ebenfalls. „Ich wette, dass schneller lerne ich, denn du.“

Kevins Augen leuchteten. „Wetten, um was?“

„Was du willst.“

Kevin sprach so schnell, dass Axel ihn kopfschüttelnd unterbrach und langsam auf Gordisch formulierte: „Du sagst. Wir machen. Ehre. Ja?“

Kevin schwieg erstaunlich lange, bevor er wortlos seine Hand ausstreckte. Axel schlug ein und hoffte, dass er jetzt keine Dummheit begangen hatte, denn von Kevins Bedingungen hatte er kein Wort verstanden, und das war diesem sicher nicht entgangen. Er holte tief Luft, „Ich Gordisch. Du Brando. Nein anders.“ Grinsen schien ein Dauerzustand bei dem gordischen Knappen zu sein, aber jetzt lachte er leise. „Nichts anderes“, verbesserte er und wiederholte die Worte korrekt auf Brando. „Richtig?“ Axel nickte und zeigte mit dem Finger auf Kevins Brust „1:0.“ Sie sagten nicht mehr viel, bis Kevin mit seinem Herrn abzog, aber trotzdem hatte Axel das Gefühl, zum ersten Mal ernst genommen worden zu sein. Da der Fürst keine Aufgaben für ihn hatte, machte er es sich in einer Ecke im Vorzelt zwischen zwei Decken so bequem, wie es auf dem Boden möglich war und lauschte noch eine Weile in die Dunkelheit, um ganz sicher keinen späten Befehl zu überhören. Schließlich ließ er sich von der Müdigkeit überwältigen, nicht ohne sich fest vorzunehmen, noch vor Sonnenaufgang wieder wach zu sein, und vor allem, bevor der Fürst nach ihm rief. Wenn die gordischen Knappen das konnten, würde er es auch lernen. Und notfalls musste er Kevin fragen oder…..Axel schlief ein.

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