Читать книгу Das Labyrinth jagt dich - Rainer Wekwerth - Страница 12

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León hatte Mischa schnell in Sicherheit gebracht, als die Wände aus dem Boden kamen, um erneut einen abgeschlossenen Raum um sie herum zu bilden.

Nach den anderen zu suchen, dafür war keine Zeit geblieben, denn zuerst musste er das Blut stillen, das unaufhörlich aus Mischas Hinterkopf sickerte. León presste ein Stück Stoff von Mischas Hemd auf die Kopfwunde. Er hoffte, dass er so die Blutung würde stoppen können.

Nun saß er auf dem nackten Boden und Mischas Kopf ruhte in seinem Schoß. Der Atem des blonden Jungen war kräftiger geworden. Doch er war blasser denn je. Er atmete ruhig und gleichmäßig, aber er erwachte nicht.

León rief leise seinen Namen, bat ihn aufzuwachen, aber die Lider des anderen blieben geschlossen. Im Versuch, nicht den Mut zu verlieren, hob León den Kopf und betrachtete die Zahlen, die unablässig über die Wände huschten, ohne ihm zu verraten, wie er ihr Rätsel lösen konnte.

Warum habe ich Mischa nicht besser zugehört, als er mir die Sache erklärt hat?

Aber natürlich wusste León, dass diese Rätsel für ihn unlösbar waren, egal, wie oft er ihm das System erklärt hätte. Selbst Mischa hatte am Schluss mehrere Minuten gebraucht, um eine weitere Tür zu öffnen.

Was mache ich jetzt?

Es gab nichts, was er tun konnte. Nur warten, dass zwei Möglichkeiten eintraten: Entweder erwachte Mischa und brachte sie hier raus oder die Wände verschwanden wieder im Boden und er würde Mischa weiterschleppen, zu den Toren oder zu den anderen. Mischa zurückzulassen, kam für ihn nicht infrage. Zusammenhalt bedeutete alles, so viel hatte er hier inzwischen gelernt. Erst wenn alle Hoffnung verloren war, würde er sich allein durchschlagen, so wie er es noch vor wenigen Tagen in der Steppe verkündet hatte. Mischa war der Einzige, der von seiner Gang übrig war, und niemals ließ man jemanden aus der Gang im Stich.

Er seufzte. So oder so waren ihre Chancen schlechter geworden. Vermutlich verdiente er es nicht anders. Nein, er wusste, er verdiente genau das hier. Dies war seine Strafe, davon war León mittlerweile überzeugt. All das hier war seine Buße für den Tod des Jungen, den er erschossen hatte.

In einem anderen Leben, in einer anderen Zeit.

Da waren Bilder. Verzerrt. Undeutlich. Aber er sah sie vor sich, deutlich.

Und dann war er dort.

Er spürte die flimmernde Hitze über Asphalt, der niemals richtig abkühlte. Der Geruch der Straße. Teer, Benzin, Abfall und Urin. Den Geruch der Armut. Der Geruch von zu Hause.

Warum werde ich so müde?

León blickte mit schweren Lidern an sich herab. Seine Hände ruhten schlaff auf Mischas Brust, nicht einmal die Kraft, ihn zu stützen, hatte er.

Was ist mit mir? Erschöpfung allein ist das nicht. Es ist …

Die Augen fielen ihm zu.

Er riss sie wieder auf.

Aber irgendwann konnte er sich nicht mehr dagegen wehren. Warum sollte er Kraft aufwenden, sich dagegen zu sträuben? Nur einmal kurz die Augen schließen, der Alarm würde ihn ohnehin wecken, wenn die Wände wieder im Boden verschwanden. Falls die Wände noch einmal verschwanden. Falls sie überhaupt eine neue Chance bekämen weiterzukämpfen. Doch León wollte nicht mehr kämpfen, nur für einen kurzen Moment.

León gab den letzten Widerstand auf und nickte ein.

Als er erwachte, wusste Mischa nicht, was geschehen und wie viel Zeit vergangen war. Verwirrt richtete er sich auf. Sein Kopf pochte schmerzhaft, stechend, dumpf, wie nach einem schweren Fall. Noch ganz benommen nahm Mischa wahr, dass Leóns Hand von seiner Brust gerutscht war. Reflexartig drehte Mischa den Kopf und bereute es sofort wieder. Durch die Schmerzen wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Nachdem er sich gesammelt hatte, sah er zu León auf. Er schlief, das Kinn ruhte auf seiner breiten Brust.

Seine Gesichtszüge wirkten entspannt, das ließ die Tätowierungen auf seiner Haut weicher und weniger bedrohlich erscheinen.

Lange saß er León gegenüber und betrachtete ihn. In seinem Inneren breitete sich eine wohlige Wärme aus, trotz der Schmerzen fühlte er Ruhe in sich. Als er sich mit den Händen über den Kopf fahren wollte, entdeckte er den provisorischen Verband. Zaghaft tastete er darüber, spürte das verkrustete Blut auf dem Stoff.

Ich muss ohnmächtig geworden und auf den Hinterkopf gefallen sein. Aber jetzt scheint alles okay zu sein.

Vorsichtig nahm Mischa den notdürftigen Verband ab. Der karierte Stoff war von Blut durchtränkt, aber wenigstens gab es keine feuchten Stellen mehr. Mischa befühlte noch mal seinen Hinterkopf. Das getrocknete Blut machte es ihm unmöglich abzuschätzen, wie groß seine Wunde war. Dankbar sah er zu León.

Du hast mich versorgt. Dich um mich gekümmert. Du empfindest mehr für mich, als du zugibst.

Mischa strich mit seiner Hand vorsichtig über Leóns Wange, ohne dass dieser erwachte. Seine Haut fühlte sich rau an, aber zugleich war sie nachgiebig und geschmeidig. Er ließ seine Finger über die Zeichnungen am Hals wandern.

Mischa hatte so viele Bilder von León im Kopf.

León, der sich elegant erhob, sich streckte. Das Muskelspiel unter seiner Haut, die Geschmeidigkeit eines heranschleichenden Raubtiers, mit der er sich bewegte.

Und dieses wilde Grinsen. Dieses Grinsen, das nur so vor Kraft strotzte und der Welt zeigte, dass er, León, sich jedem in den Weg stellte.

Mischa sah ihn im Lichtschein des Feuers sitzen, das Flackern des Feuers auf seiner olivfarbenen Haut. Die Schatten auf seinem Gesicht, als sie die Steppe in Brand gesetzt hatten. Sein entschlossener Gesichtsausdruck in der Eisstadt.

Mischa imponierte Leóns Stärke, seine Verbissenheit und sein scheinbar grenzenloser Überlebenswille. Und Mischa wusste auch, dass er noch mehr für León empfand.

Mischas Gesicht glühte bei der Gewissheit, sein Herz schlug wie wild, noch bevor er seine Gefühle hätte in Worte fassen können.

Noch einmal strich er über Leóns Gesicht, seinen kahl rasierten Kopf, fester noch als gerade.

Ohne den Blick von León zu wenden, beugte er sich vor.

León träumte. Er ging mit Mary durch einen nächtlichen Park. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen und ein Windhauch vom Meer brachte angenehme Kühlung. Marys Sommerkleid bewegte sich im Luftzug wie ein Schmetterlingsflügel. Das schwarze Haar umwehte sie und ihre Augen waren so groß und so dunkel, dass man sich darin verlieren konnte.

León beobachtete, wie sie sich im Licht einer Laterne bückte und etwas aufhob. Mit einer kleinen Blume, die sie gepflückt hatte, kam sie zu ihm. Sie streckte ihre Hand aus.

»Für dich«, sagte sie leise.

»Für mich?«, fragte er und lächelte. »Sollte es nicht anders herum sein und ich den Kavalier spielen?«

Sie lachte. »Das stimmt, du bist das nächste Mal dran. Wir haben alle Zeit der Welt.«

Er nickte und lächelte sie an. »Ja, die haben wir.« León konnte sich selbst nicht erklären, woher er diese Gewissheit nahm. Aber hier und jetzt wusste er: Mit Mary spielte Zeit keine Rolle. Nur dass sie zusammen waren.

Er nahm eine Haarsträhne in die Hand und spielte damit. Ihr Haar roch nach Sommer, nach Unbeschwertheit, nach Freiheit. Nach allem, wonach er sich sehnte.

Sie hatte die Augen geschlossen, lächelte, ihre Lippen waren leicht geöffnet.

Sein Atem schien sie zu kitzeln, denn sie kicherte. Dann flüsterte sie: »In uns liegt die Kraft, weißt du? Wir müssen sie nur finden.«

León nickte, ohne zu verstehen, was sie meinte. Denn sein Blick hing an ihren Lippen, während sie die rätselhaften Worte formten, die in diesem Moment so viel Sinn zu ergeben schienen.

León schloss die Augen und seine Lippen fanden Marys. Dann versank die Welt um ihn herum in ihrem Kuss.

Plötzlich war der Moment vorüber. Etwas hatte alles zerstört und schlagartig kam er wieder zu sich. Mischas Gesicht war ganz nah, direkt vor seinem Gesicht. Zuerst verstand er nicht, aber dann wurde ihm bewusst, was geschehen war. Mit einem wilden Aufschrei stieß León den anderen weg.

Mischa fiel nach hinten, war aber sofort wieder auf den Beinen. León sprang ebenfalls auf, nun hellwach. Kein Traum war so real, dass man ihn auf seinen Lippen schmecken konnte. Vor seinen Augen tanzten rote Lichter und Wut erfüllte ihn. Wut, die nur mit Blut gestillt werden konnte. Stumm stürzte sich León auf Mischa. Seine Faust traf mit dem ersten Schlag. Mischa wurde gegen die Wand geschleudert und blieb für einen Augenblick dort liegen.

In León tobte ein Sturm. Den Schmerz in seiner Faust nahm er kaum wahr und er ließ seine Knöchel knacken, während Mischa sich wieder aufrichtete. Verletzt und verwirrt schaute er León an. Aus seiner Nase floss hellrotes Blut. Er machte einen Schritt auf León zu.

»Komm mir nicht zu nahe«, knurrte León.

Mischa hob die Hand, beschwichtigend vielleicht, vielleicht um ihn erneut zu berühren. León stürmte mit gesenktem Kopf auf Mischa zu, doch dieser parierte seinen Angriff, indem er sich zur Seite drehte und Leóns Oberkörper umklammerte. Fast erstaunt über Mischas Verteidigung versuchte León, sich von ihm wegzustoßen. Mischa sollte nicht glauben, dass er ihn einfach berühren durfte. Keiner durfte das, keiner.

Doch er hatte keine Chance. León versuchte, sich aus Mischas Griff um seinen Oberkörper zu befreien. Die beiden wanden sich stumm, aber keiner der beiden bekam die Oberhand. Da holte León mit seinem Kopf aus. Mit aufeinandergebissenen Zähnen rammte er Mischa seinen Schädel an die Schläfe. Eine Methode, die immer funktionierte und seine Gegner meist völlig unvorbereitet traf.

Und tatsächlich. Keuchend warf sich Mischa nach hinten und stieß im selben Moment León von sich. Leóns Rücken krachte auf den Boden und der Schmerz presste ihm für einen kurzen Moment die Luft aus den Lungen.

Grimmig schaute er zum anderen. Seine Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft. Sein ganzer Körper zitterte. Er hatte sich auf die Zunge gebissen, wütend spuckte er auf den Boden zwischen ihnen aus.

Er wollte sich aufrappeln, aber da war Mischa schon über ihm. Mit jedem Schlag wurde das Rauschen in seinen Ohren lauter.

Schlag um Schlag donnerte auf ihn herab und León war voll damit beschäftigt, Mischas Schläge gegen seinen Kopf abzuwehren. Doch die Schläge wurden schwächer und León wusste, der Zorn, der in ihm tobte, gab ihm Kraft. Nicht nur, um die Schläge zu ertragen, denen er nicht ausweichen konnte. Sondern auch, um im richtigen Moment den einen, letzten Schlag zu landen.

Sich nicht mehr auf den Beinen haltend, lag Mischa nun in voller Länge auf ihm. Ekel und Zorn schwappten über León zusammen und mit einer fast übermenschlichen Anstrengung stieß er Mischa zur Seite. Keuchend, aber ohne einen Ton, lagen die beiden nebeneinander.

Doch die Pause währte nur kurz.

Langsam erhoben sich beide vom Boden. León sah sein Blut auf den weißen Wänden, auf dem Boden. Die hellroten Schlieren waren überall. Die Blutlache, in der Mischa noch vor wenigen Stunden nach seinem Fall gelegen hatte, hatte dagegen eine dunkle Färbung angenommen. León bemerkte, dass sich Mischas Wunde am Hinterkopf wieder geöffnet zu haben schien. Seine rot unterlaufene Nase stand schief in seinem Gesicht.

Mit zitternden Beinen lehnte sich Mischa gegen eine der Wände. León spürte das Adrenalin in seinem Inneren toben. Mit der Zunge fuhr er über seine brennenden Lippen. Er schmeckte Blut. Doch er spürte keinen Schmerz. Nur Zorn. Er war noch lange nicht fertig mit Mischa. Er bleckte die Zähne.

Mary vermutete, dass Kathy in der Nähe war, daher musste sie ganz besonders vorsichtig sein. Sie zog ihre Stiefel aus, band sie an den Schnürsenkeln zusammen und hängte sie sich um den Hals. Lautlos schlich sie auf Socken weiter, das Messer in der rechten Faust.

Du entkommst mir nicht.

Mary ging weiter, langsam. Vor ihr machte der Gang eine Biegung und sie linste vorsichtig um die Ecke, doch bevor sie etwas erkennen konnte, wurde sie von einer Hand an der Kehle gepackt. Eine zweite Hand schloss sich um ihr rechtes Handgelenk, das mit dem Messer, und ihr Angreifer presste sie gegen die Wand. Sie zerrte und schüttelte sich, aber der Griff lockerte sich nicht. Mary hielt inne, riss den Kopf herum, um ihren Angreifer zu sehen.

Kathy.

Hasserfüllt starrten sich die beiden an, wenn auch in Kathys funkelnden Augen fast so etwas wie Erstaunen lag. Oder war es Kampflust?

»Warum schleichst du mir hinterher?«, zischte Kathy. »Und du hast dir ja sogar deine Stiefel ausgezogen. Spielst du etwa Detektivin? Du weißt doch, kleine Mädchen sollten nicht mit Messern in der Hand herumrennen. Das ist gefährlich.« Kathys Mundwinkel zogen sich nach oben. Spöttisch, herablassend.

»Du kannst mir keine Angst einjagen«, keuchte Mary. »Nicht mehr.«

»Ich werde dir nichts tun, wenn du mir nichts tust. So einfach ist das«, sagte Kathy ruhig.

»Spar dir den Scheiß, ich glaube dir kein Wort.«

Kathy schüttelte den Kopf und lächelte Mary an. Fast freundlich, fast ehrlich sah dieses Lächeln aus. Aber Mary wusste nur zu gut: Alles an Kathy war falsch.

»Lass das Messer fallen, bitte, Mary, dann können wir reden.«

Mary hätte am liebsten laut aufgelacht. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?

Sie versuchte, ihr Handgelenk zu befreien, aber Kathys Griff wurde noch fester. Dieses Mädchen hatte eine Kraft, die man ihr nicht ansah.

»Hör auf mit dem Gezappel und lass endlich das Messer los«, sagte Kathy jetzt. »Ich weiß, was du denkst. Tians Tod, ja, das war meine Schuld. Das kann ich nicht ungeschehen machen, aber habe ich nicht dein Leben gerettet? Wir sind quitt, okay?«

Mary wusste nicht, ob sie Kathy trauen konnte. Wahrscheinlich nicht. Aber wenn Kathy sie hatte umbringen wollen, hätte sie das auch schon in der letzten Welt tun können. Sie hätte Mary sogar jetzt und hier schon längst das Messer abnehmen können, wenn sie nur das im Sinn gehabt hätte. Mary traute Kathy ohne Weiteres noch einen kaltblütigen Mord zu – aber es war ohne Zweifel, dass sie es jetzt nicht darauf anlegte.

»Mary, ich will nur eines der Tore erreichen, genau wie du. Was du machst, was die anderen machen, ist mir egal.«

»Klar, Kathy.« Mary schnaubte verächtlich und versuchte, Kathys Überzeugungskraft etwas entgegenzusetzen. »Aber Schlange bleibt Schlange. Du bist skrupellos, du hast Tian umgebracht und mich wolltest du auch töten. Ich glaube kaum, dass wir jemals quitt sein können.«

»Du hast recht, okay. Aber brauchen wir nicht alle eine zweite Chance?«, sagte Kathy. »Du nutzt deine, ich meine. Lass du mich in Ruhe und ich lass dich in Ruhe.«

»Ich glaube dir kein einziges, beschissenes Wort.« Die Ruhe, die Kathy ausstrahlte, machte Mary Angst. Sie erinnerte sich, wie kaltblütig Kathy den Strick durchgeschnitten hatte, an dem Tian hing. Sie durfte Kathy nicht trauen. Niemals.

Kathys Gesicht kam näher, ihre Stimme bekam etwas Flehendes. »Ach, Mary, glaub mir doch endlich. Ich erzähl dir das doch nicht alles, weil ich so ein großes Mitteilungsbedürfnis habe. Also wirst du jetzt endlich das Messer loslassen?«

Mary spuckte Kathy ins Gesicht. »Fuck you!«

Kathy erstarrte. Wut blitzte in ihren grünen Augen auf. Alles in Kathy drückte Verachtung aus und die kannte Mary nur allzu gut. Sie schauderte. Ihre rechte Hand kribbelte, so fest hatte sie Kathy in ihre Faust gezwängt.

Doch Kathy lächelte sie an. »Dann eben nicht, kleine Mary.«

Mary begann zu schreien.

Jenna folgte noch immer dem Gang auf der Suche nach Jeb und den anderen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie wusste, dass sie sich besser beeilen sollte.

Wo bist du, Jeb?

Sie hatte schon viel zu viel Zeit in diesen endlos langen Gängen verloren. Ohne Anfang, ohne Ende. Und dazwischen Jeb, immer wieder Jeb. Die Bilder von ihm ließ Jenna noch schneller gehen. Was, wenn ihm etwas passiert war? Sie musste ihn finden.

Ihre Zunge klebte inzwischen am Gaumen und ihre Lippen blieben trocken, egal wie oft sie auch darüberleckte. Ihre ganze Kehle brannte inzwischen wie Feuer vor Trockenheit. Jenna drängte Durst und Schmerzen zur Seite und lief weiter.

Wo ist der Ausgang aus diesem Labyrinth? Wo die Tore? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, hier herauszukommen?

Zweifel nagten an ihr und sie war kurz davor, die Hoffnung aufzugeben, denn nichts in ihrer Umgebung ließ darauf schließen, dass sie vorankam, irgendwo ein Ziel war, das sie erreichen musste. Alles sah gleich aus, es war, als ob nicht sie, sondern die Wände sich bewegten – und sie dabei stets auf der Stelle lief. Aber das war Blödsinn, redete sie sich ein, und die Aussicht, Jeb zu finden, trieb sie an. Sie musste durchhalten.

Wieder einmal rief sie nach ihm, aber wie immer kam keine Antwort, nur das Echo ihrer Worte hallte durch den Gang, als wolle es vor ihr fliehen. Dann war es plötzlich wieder still – wie in einem luftleeren Raum. Wie in einem Vakuum.

Doch sie gab die Hoffnung nicht auf, dass er sie hören würde. Während sie nach Jeb rief, fiel ihr Blick immer wieder nach unten auf ihr Handgelenk, auf die Innenseite.

Da war sie wieder.

Diese merkwürdige, sternenförmige Tätowierung, die auftauchte, dann wieder verblasste und verschwand, als hätte es sie nie gegeben.

Warum verschwindet diese Tätowierung immer wieder? Mal ist sie da und nur wenig später ist meine Haut glatt und unversehrt, die Tätowierung verschwunden.

Das war auch der Grund, warum sie bisher mit niemandem darüber gesprochen hatte. Was sollte sie auch sagen? Sollte sie ihr nacktes, unberührtes Handgelenk zeigen und etwas von einem Stern faseln, der dort tätowiert war?

Sie hatte ja zuerst selbst ihren eigenen Augen nicht getraut. Und jetzt war niemand da, dem sie es erzählen konnte.

Wann und wo habe ich mir diese Tätowierung stechen lassen? Was soll sie bedeuten?

Sie versuchte, sich zu erinnern, aber die Bilder blieben verschwommen. Da waren nur leise Worte. Es war ihre Stimme, die sagte: »Dieser Stern ist ein Zeichen unserer Liebe, er wird mich zu dir führen, wo immer du auch bist.«

Zu wem hatte sie diese Worte gesagt? Und warum? Sie wusste keine Antwort.

Gab es jemanden in ihrem Leben, den sie vergessen hatte? Jemanden aus der Zeit vor dem Labyrinth, den sie liebte und der sie vielleicht auch liebte? Aber wenn er so wichtig war, wie konnte sie ihn vergessen?

Der Gedanke machte Jenna Angst. Falls sie jemals wieder hier herauskam, wer wusste schon, ob die, die sie liebten, ihre Familie, wer auch immer, auf sie warten würde. Vielleicht wäre sie zwar zu Hause, aber allein, so wie hier. Sie spürte, wie sie für einen kurzen Moment alle Kraft verließ, und musste sich an der Wand abstützen.

Nein, ich darf nicht aufgeben. Ich bin nicht allein – da ist Jeb und da ist eine Geborgenheit, an die ich mich erinnere. Was immer danach kommt, es ist besser als das hier.

Den Gedanken an Jeb und an die Entscheidung des Labyrinths, dass nur einer von ihnen überleben würde, schob Jenna weit von sich. Und setzte erneut einen Schritt vor den anderen. Nicht aufgeben, weitermachen.

Jennas Gedanken kreisten ununterbrochen weiter. Wie konnte man sich nicht an einen Menschen erinnern, für den man so viel empfand, dass man sich tätowieren ließ, um dieser Liebe ein Bild zu geben.

Und warum habe ich mich in Jeb verliebt, wenn es irgendwo einen anderen Jungen gibt, der auf mich wartet?

Dieser Stern war schlichtweg die Dummheit eines Mädchens, das glaubte, mit so einem Symbol würde ihre Liebe noch stärker. Vielleicht war diese Liebe schon längst vorbei und das Tattoo ein Überbleibsel davon. Es war reine Zeitverschwendung, darüber nachzudenken – das alles lag hinter ihr. Und hinter einem Vorhang des Vergessens.

Hier und jetzt gab es nur diese verfluchten Gänge und sie musste Jeb und die anderen finden. Jenna machte größere Schritte und fiel dann in einen leichten Trab. So bewegte sie sich ziemlich lange vorwärts. Eine ganze Weile fühlte sie sich gut. Der Puls pochte in ihrer Kehle, sie lief mit kräftigen Schritten voran und Schübe von Energie jagten durch ihren Körper. Sie würden hier rauskommen. Seit Tagen hatte Jenna nicht mehr so viel Zuversicht gespürt. Alles würde gut werden, das musste es einfach.

Sie lief weiter, so lange und so schnell sie konnte. Als sie schließlich das Tempo nicht mehr halten konnte, hatte sich die Umgebung immer noch nicht geändert. In die Hüfte hatte sich ein stechender Schmerz gebohrt, der sie zwang anzuhalten.

Sie keuchte. Jenna beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf den Knien ab. Seitenstechen. Ihr Brustkorb pumpte bei jedem Atemzug. Als sie sich aufrichtete, wurde der Schmerz in ihrer Seite schlimmer und sie musste sich wieder vorbeugen.

Sie dachte an Mischa, der mit gebrochenen Rippen eine Felswand bestiegen hatte, um danach durch eine feindliche, im tiefen Schnee liegende Welt zu stapfen. Nun erfuhr sie am eigenen Leib, was er durchgemacht haben musste. Zumindest fast.

Schließlich habe ich nur Seitenstechen und bin noch nicht einmal verletzt.

Wie es Mischa wohl erging? Ob er gerade auch diesen endlosen Gängen auf der Suche nach einem Weg hinaus folgte? Und die anderen? León? Der würde wahrscheinlich die Wände einreißen, auf der Suche nach einem Ausgang.

Mary? Sie traute sich selbst nichts zu, war aber ganz schön zäh. In allen Welten hatte sie am meisten unter den Strapazen gelitten, sich aber dennoch tapfer vorangekämpft. Nein, Mary durfte man nicht unterschätzen.

In diesem Moment erklang ein Schrei. Ein wilder, langer Schrei.

Jenna erkannte die Stimme sofort.

Mary.

Sie war in Gefahr, das war Jenna sofort klar. Mary kämpfte um ihr Leben.

Jenna vergaß all ihre Schmerzen und ihre Erschöpfung und rannte los.

Das Labyrinth jagt dich

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