Читать книгу Das Labyrinth jagt dich - Rainer Wekwerth - Страница 8

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León erwachte. Ein seltsamer Ton hatte ihn geweckt. Als die Wände sich bewegten, sprang er blitzschnell auf die Füße und stellte sich in der Mitte des Raumes auf. Er drehte sich um seine eigene Achse, mit den Augen suchte er instinktiv alle Richtungen nach Feinden oder Gefahren ab. Doch da war nur Leere, eine weiße Fläche. Er machte einen Schritt vorwärts, und als nichts geschah, ging er zu der Stelle, an der eine der Wände im Boden verschwunden war. Er bückte sich, fuhr mit den Fingern über den glatten, fast makellosen Fußboden. Es war nichts zu spüren. Es war, als hätten ihn nie Wände umgeben.

León richtete sich wieder auf und sah sich langsam und sorgfältig um.

Eine leere Fläche, die sich in alle Richtungen vor ihm ausbreitete. Es schien keinen Horizont zu geben oder eine Wand jenseits dieser Fläche. La nada. Nein, das hier war mehr als nichts. El infierno blanco.

Leóns Gedanken drehten sich im Kreis. Was hatte diese leere Fläche zu bedeuten? War sie schon immer da gewesen, hinter den Mauern seines Raumes? Oder gab es vielleicht sogar noch mehr Räume, die er jetzt nur nicht sehen konnte, weil ihre Wände fehlten?

Während er sich ratlos um die eigene Achse drehte, entdeckte er in der Ferne eine Bewegung. Eigentlich war es mehr ein Schatten, der ein winziges Stück von rechts nach links gewandert war, aber instinktiv wusste León, dass dort in der Ferne ein Mensch war. Vielleicht sogar jemand aus der Gruppe? León legte beide Hände um den Mund und rief, so laut er konnte. »Hallo!«

Keine Reaktion.

Er brüllte noch einmal aus vollem Hals.

Sinnlos, so würde er nicht weiterkommen. León rannte los. Er jagte auf den Schemen zu.

Woher willst du wissen, dass dieser Schatten kein Feind ist? León schüttelte den Gedanken ab, während er Meter um Meter zurücklegte. Einer ihrer Jäger, seiner Feinde. Wie hatte Mary sie einmal genannt, Seelentrinker? Nein, die Verfolger aus der Steppe waren ihnen nicht in die letzte Welt gefolgt, warum sollten sie plötzlich hier in dieser seltsamen Umgebung erscheinen?

Es musste jemand aus der Gruppe sein. León hoffte, dass es jemand aus der Gruppe war.

Es kam ihm so vor, als ob er schon hundert Meter und mehr zurückgelegt hatte, aber dem Schatten kam er nicht näher. Er warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob er überhaupt vorwärtskam. Doch er wusste nicht mehr, von wo aus er losgelaufen war. Er versuchte, Einzelheiten vor sich auszumachen, aber das Bild zitterte durch seine Bewegungen und wurde einfach nicht deutlich. Sein Atem kam inzwischen stoßweise und sein Puls raste vor Anstrengung. Schweiß lief ihm in die Augen und machte es noch schwieriger, etwas zu erkennen.

Aber dann …

… bewegte sich die Gestalt.

León brüllte, so laut er konnte, und der Schatten wandte sich um, schien ihm entgegenzusehen.

Diese verhuschte Art, diese sanfte Bewegung … das ist Mary. Es muss Mary sein.

Er rief ihren Namen, da ertönte erneut der seltsam klagende Laut, der das Verschwinden der Wände angekündigt hatte.

León ahnte, was das zu bedeuten hatte. Er rannte schneller. Wo würden die Wände diesmal entstehen? Wände ohne Fenster und Türen: sein Gefängnis. Aber er konnte nichts dagegen tun, wusste nicht, was er machen sollte, also blieb er keuchend stehen und schaute sich um. Tatsächlich, aus dem Boden erhoben sich neue Mauern, sie strebten unaufhaltsam nach oben, unzählige Mauern in unterschiedlichsten Abständen und Winkeln.

Keine Zeit für Überlegungen, nur Zeit zu reagieren. León sprang über eine Mauer, die ihm bereits bis zu den Knien reichte, und stellte sich in die Mitte des neu entstehenden Raumes. Fasziniert und gleichzeitig fassungslos sah er zu, wie sich zu allen Seiten die Wände erhoben und mit einer Raumdecke vereinigten, die plötzlich am oberen Ende einer Wand erschien, sich herausschob und kurz darauf mit allen Wänden einen abgeschlossenen, hellen Raum bildete. Sein Gefängnis.

Er fluchte. Die Scheiße, in der er steckte, war dabei, über seinen Kopf zu schwappen und er hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier ablief.

Aber er hatte Mary entdeckt und er wusste, die Wände seines Gefängnisses konnten verschwinden. Dieser Umstand beruhigte ihn ein wenig. Aber er hatte keinerlei Kontrolle über das, was mit ihm hier drin geschah. Und er hasste dieses Gefühl. Dieses Ausgeliefertsein. Das Gefangensein.

Was sollte er tun, wenn das nächste Mal die Wände verschwanden? Falls sie das überhaupt taten, würde er Mary wiederfinden? Wann würden diese verfluchten Mauern das nächste Mal im Boden versinken? Wo waren Jeb, Mischa und Jenna? Er hatte sie nicht gesehen, obwohl er weit in jede Richtung hatte sehen können.

León seufzte und sah sich zum ersten Mal richtig in dem neuen Raum um. Er unterschied sich kein bisschen von dem vorherigen. Es fühlte sich fast so an, als hätte er sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Schweiß tropfte von seiner Stirn, seine Lippen schmeckten salzig und erinnerten ihn daran, dass er schon lange nicht mehr getrunken hatte. Seine Oberschenkel zitterten. Er grinste. Ich war schon mal besser in Form.

León stellte sich in der Mitte des neuen Raumes auf. Beim nächsten Mal wäre er bereit, so viel war sicher. Sein Kampfgeist war ungebrochen.

Ich komme hier raus. Nichts und niemand wird mich aufhalten.

Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte seinen Zorn hinaus: »Wer immer mir das antut, ich werde dich finden, cabrón, das schwöre ich!«

Plötzlich spürte er eine Bewegung in seinem Rücken. León wirbelte herum. Kampfbereit hob er die Fäuste.

»Wen willst du finden, alter Rebell?«, lachte Mischa und betrat durch eine Öffnung den Raum. Eine Öffnung wie eine Tür. Eine Tür, die vorher noch nicht da gewesen war, das hätte León schwören können. Doch da war er, Mischa, und er kam durch diese Tür in seinen Raum.

León spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht glitt.

Zuerst wusste Mischa nicht, wie er reagieren sollte, aber dann ließ er sich Leóns Umarmung gefallen und genoss seine Nähe. Nicht in den kühnsten Träumen hatte er sich ausgemalt, diesen unnahbaren Jungen zu berühren, ihn fest im Arm zu halten.

Diese Umarmung kam so unerwartet und Mischa hielt den Atem an, um den Moment nicht zu stören, er spürte Leóns Arme, die fest und kraftvoll um seine Schultern lagen, während seine Hände einmal kurz über dessen Rücken strichen.

León trat einen Schritt zurück und strahlte. »Mann, tut das gut, dich zu sehen«

»Gleichfalls.«

Nur widerstrebend hatte Mischa ihn losgelassen. Obwohl er noch Leóns Berührung auf seinem Körper spürte, sehnte er sich bereits wieder nach seiner Nähe.

»Hast du die anderen gesehen?«, unterbrach León seine Gedanken.

Er schüttelte den Kopf. »Du? Hast du jemand entdeckt?«

»Ich glaube, ich habe Mary gesehen, als die Wände heruntergefahren sind. Ich bin auf sie zugerannt, habe ihren Namen gerufen, aber sie hat mich nicht bemerkt, glaube ich.«

»Die Wände sind was?!«, fragte Mischa erstaunt.

In Leóns Gesicht zeichnete sich Verblüffung ab. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen?« Sein Blick wanderte zu der Wand, durch die Mischa den Raum betreten hatte, aber die Tür darin war verschwunden. Perfekt und glatt widersetzte die Wand sich seiner Suche.

Er zuckte mit den Schultern. »Mathematik.«

»Hä?«

Mischa deutete auf die Wände um sie herum, über die immer noch pausenlos Zahlenkolonnen wanderten. »Das Rätsel ist in diesen Zahlen verborgen und die Lösung ganz einfach, wenn man weiß …«

»Da sind Rätsel?«, unterbrach ihn León verblüfft und zog seine Augenbrauen hoch. Seine tätowierte Stirn legte sich in ebenmäßige Falten, Schweißtropfen legten sich dazwischen. Gerne hätte Mischa die Hand ausgestreckt, um mit den Fingern über die blauschwarzen Linien zu fahren.

Da bemerkte Mischa, dass León ihn immer noch neugierig anschaute, und verdrängte den so unwillkürlich aufgekommenen Wunsch. »Ja, wenn man sie sehen kann. Mathematische Rätsel.«

»Und du kannst sie natürlich lösen, du verrückter Professor, und dadurch Türen öffnen, die sonst nicht da sind.«

»Richtig. Keine Ahnung, warum, aber irgendwie liegen mir Zahlen. Mathe scheint mein Ding zu sein. Als ich die Zahlen sah, waren die Erinnerungen und das Wissen plötzlich da.«

»Das ist gut, das ist …«, sagte León.

»… mehr als gut, denn ich kann uns hier rausbringen.«

»Wir werden hier irgendwo die Portale finden.«

»Ja, alles andere macht keinen Sinn. Das hat doch Jebs Botschaft deutlich gesagt. Sechs Welten, die es zu durchlaufen gilt, dies ist erst die dritte. Wenn die Botschaft lügt … wozu dann der Aufwand? Wer oder was immer auch hinter alldem steckt, es geht garantiert bis zum bitteren Ende. Jemand, etwas will sehen, wie wir leiden, uns umbringen, ums Überleben kämpfen.«

León schaute ihn bei diesen letzten Worten durchdringend an, dann wandte er sich ab. »Was machen wir jetzt?«

Mischa klopfte ihm betont locker auf die Schulter. »Was wohl, wir wandern von einem Scheißraum zum nächsten, bis wir die Tore finden.«

»Und die anderen?«

»Versuchen vermutlich wie du, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.«

»Warum habe ich dich nicht gesehen, eben, auf der Ebene?« Er beäugte Mischa kritisch.

»Weiß ich nicht, ich war ja mit dem Zahlencode beschäftigt.« Mischa versuchte sich an einem verhaltenen Lächeln, um Leóns jetzt wieder offenes Misstrauen zu durchbrechen.

Doch León hatte sich längst wieder einer der Wände zugewandt. »Wie sollen wir hier die anderen finden? Das ist unmöglich.«

»Wir finden sie, unterwegs.«

»Und wenn nicht?«

Mischa dachte darüber nach, wie es sein würde, wenn sie alle die Tore erreichten. Diesmal würde es zum Kampf kommen, wenn unterwegs nicht jemand … aufgab.

Jeb würde sich mit Jenna verbünden, León wahrscheinlich Mary beschützen, so wie er es schon die ganze Zeit tat, dachte Mischa bitter.

Und er? Für einen Moment hoffte er, mit León an seiner Seite weitermachen zu können – war diese innige Umarmung wirklich nur der Wiedersehensfreude geschuldet? Mischa wusste, sobald Mary auftauchte, wäre es damit wieder vorbei. Irgendwie war León ihr zugeneigt, und das, obwohl sie ihn ständig abblitzen ließ.

León hatte Mary aus einer furchtbaren Lage gerettet. Und ja, der Weg von Dankbarkeit zu Liebe war nicht weit. Aber war ein so verschlossener Kerl wie León zu echten Gefühlen überhaupt fähig? Würde er, Mischa, weiterhin bangen müssen, ob sich der tätowierte Junge im entscheidenden Moment gegen ihn wandte?

Mischa hoffte, die Tore zu finden, ohne vorher Jeb, Jenna oder Mary zu begegnen, aber das musste León nicht wissen.

»Wir werden sie schon irgendwo hier drin auftreiben«, sagte er stattdessen. »Diese Welt kann ja nicht endlos sein und wenn ich uns weiter Türen öffne, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder alle vereint sind.«

»Und du kannst wirklich diese Scheißtüren herbeizaubern?«

Mischa grinste. »Weißt du, was Fibonaccizahlen sind?«

»Keine Ahnung, wovon du da redest.«

»Schau her. Fibonaccizahlen beginnen bei 1, jede weitere Zahl ergibt sich aus der Summe der beiden Vorgängerzahlen. 1, 2, 3. 1 + 2 ergibt in der Summe 3. Also wäre der nächste Schritt, die Zahlen 2 und 3 zu addieren, um die nächste Fibonaccizahl zu erhalten.«

»Also 5, oder?«

»Richtig. Es hat eine Weile gedauert, bis ich darauf gekommen bin, aber eigentlich ist es ganz einfach.« Mischa deutete auf die Wand. »Das alles sind Fibonaccizahlen, und um hier rauszukommen, muss ich die Zahlenfolge nur um eine weitere Zahl fortführen.«

»So einfach ist das?«

»Wenn man es erst mal raushat, ja. Aber ich denke, so einfach wird es nicht bleiben, denn mit Fibonaccizahlen kann man Hunderte von Rätseln stellen. Eines ist komplizierter als das andere. Das hier ist wahrscheinlich nur zum Warmwerden.«

León schwieg einen Augenblick. »Ohne dich wäre ich allein und hier drin gefangen.«

»Nicht ganz. Du meintest doch, dass die Wände verschwinden können. Was hast du da gesehen?«

»Wenig. Die Wände versanken im Boden und vor mir lag eine endlos wirkende, weiße, leere Ebene. Weit und breit keine Gegenstände, keine Orientierungspunkte oder sonst was. Nichts.«

»Aber du hast Mary gesehen.«

»Ich glaube es zumindest. Sie hat sich nicht bewegt und nicht auf meine Rufe reagiert.«

»Und Jenna und Jeb?«

»Keine Spur von ihnen. Ich verstehe nicht, warum du nicht gesehen hast, wie die Wände verschwanden. Wo warst du?«, wollte León wissen.

Mischa machte eine Handbewegung. »In einem Raum wie diesem. Seit ich hier aufgetaucht bin und das Rätsel mit den Zahlen geknackt habe, wandere ich von Raum zu Raum. Alle Räume waren leer. Ich bin immer weitergezogen, denn ehrlich gesagt, ich habe einen Wahnsinnshunger und Durst habe ich auch.«

León sah ihn eindringlich an. »Frag mich mal. Das ist der nächste Punkt, der mich misstrauisch macht. Bisher haben wir immer Ausrüstung, Kleidung, Nahrung und Wasser gefunden, aber hier – nichts. Nicht mal Waffen gibt es. Das Messer, das ich hatte, ist weg. Wir sind vollkommen wehrlos.«

Mischa nickte. Aber zum Glück gab es bisher auch noch keine tödliche Gefahr. Wir sind uns selbst ausgeliefert, einander. Er verdrängte jeden weiteren Gedanken daran, was war, wenn sie sich gegeneinander wenden mussten, um zu überleben. Auch wenn Mischa keinen Zweifel daran hatte, dass es dazu kommen würde.

Stattdessen versuchte er, hoffnungsvoll zu klingen, als er sagte: »Vielleicht finden wir in den anderen Räumen etwas. Mir kommt die ganze Sache wie eine Versuchsanordnung aus dem Labor vor, bei dem man Ratten durch ein Labyrinth jagt, die den Ausgang oder Futter suchen sollen.«

»Mann, Mann, Mann, compañero, du hast echt eine perverse Fantasie.« Leóns linker Mundwinkel zog sich nach oben, dann hielt er inne. »Aber du könntest recht haben, ein bisschen erinnert mich das hier an ein Straßenviertel zu Hause, angeordnet wie ein Schachbrett. Nur wer sich dort auskennt, wird so schnell nicht gefunden.«

»Na ja, so ähnlich. Und wieder eine Erinnerung mehr. Also?«

»Was also?«

»Gehen wir die Sache an?«

León nickte und Mischa wandte sich einer Wand zu. Sein Blick huschte über die Zahlen. Dann drehte er sich um die eigene Achse und betrachtete die anderen drei Wände.

»Das hier ist einfach«, sagte er schließlich. »Die beiden höchsten Fibonaccizahlen sind 89 und die 144, was in der Summe die neue Zahl 233 ergibt.«

Er trat vor und berührte die Stelle an der Wand, über die gerade eine Zwei wanderte. Die Zahl schien aufzuglühen, blieb abrupt stehen und verharrte auf der Stelle. Das Gleiche vollführte Mischa mit zwei Dreien. Nun blinkte die ganze Zahl und geräuschlos öffnete sich ein Durchgang an dieser Wand.

»Sag ich doch«, meinte Mischa achselzuckend. »Ganz einfach.«

León grinste. »Du bist ein verdammtes Genie.«

Sie betraten einen Raum, der dem vorherigen bis auf ein einziges Detail glich.

Der Unterschied lag vor ihnen, in der Mitte des Raumes. Ein brauner Rucksack.

»Was meinst du? Essen?«, fragte Mischa und hätte sich am liebsten sofort daraufgestürzt.

León hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. »Pass auf, das könnte eine Falle sein. Besser, wir sind auf alles gefasst.«

Dann trat er auf den Rucksack zu, hob ihn auf und untersuchte ihn. Als er aufblickte, erschauerte Mischa vor dem entsetzten Ausdruck in seinem Gesicht.

»Weißt du, was das ist?«, fragte León, seine Stimme klang rau.

»Was denn?«

»Das ist der beschissene Rucksack, den ich am ersten Tag auf der Ebene verloren habe. Und jetzt verrat mir verdammt noch mal, wie der hierherkommt.«

Das Labyrinth jagt dich

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