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Einleitung

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Die Welt war in Ordnung. Ich lebte mit meiner Schwester Theresia zusammen bei meinen Eltern in einem Bauernhaus bis meine Mutter Besuch von einer ihrer Freundinnen bekam, die mich küsste.

Ich habe hier meine Geschichte aufgeschrieben: Die realen Begebenheiten (so wie ich sie erinnere beziehungsweise wie sie durch medizinische Berichte „aktenkundig“ sind) und die Erlebensseite, d.h. das, was ich davon erinnere, und was sich mir nachträglich durch psychotherapeutisch unterstützte Selbsterforschung erschlossen hat.

Der Gedanke, meine Geschichte aufzuschreiben, tauchte zum ersten Mal 1995 auf, als ich im Krankenhaus lag und die dritte „Umstellung“ am rechten Knie erlebte. Ich hatte zunächst die Idee, meine Geschichte „Die Umstellung“ zu nennen: Ich musste mich so oft auf völlig neue Situationen einstellen, dass ich mein ganzes Leben so überschreiben könnte. „Umstellen“ im Sinne von Neuorientierung war immer mein Thema. Anderen Menschen geht es natürlich ebenso, auch sie müssen sich ihr Leben lang auf Neues einstellen. Aber zum Glück müssen sich nicht viele Menschen von frühester Kindheit an so existenziell umstellen, wie ich es tun musste.

Umstellung bedeutet auch Umlernen. Ich erkannte, dass ich mich nicht einfach darauf verlassen konnte, dass die Ärzte schon das Richtige tun würden. Auch den vielen anderen, die mich im Laufe meines Lebens behandelten - Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Masseure, Orthopädieschuhmacher, die meine Schuhe anfertigen konnte ich nicht einfach blind vertrauen. Ich habe gelernt, hartnäckig Erklärungen einzufordern und mir in schwierigen Situationen Unterstützung zu suchen.

In einer späteren Etappe gab ich meinem Buchprojekt den Titel „Kopf hoch, Mädel“ Das war eine Ermunterung, die ich von vielen Seiten immer wieder zu hören bekam und die ich mir dann oft genug auch selbst vorsagte. Je nach dem, der da sprach, hatte das unterschiedlichste Reaktionen meinerseits zur Folge. Manchmal half sie mir, und ich fühlte mich dadurch unterstützt und getragen. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass der, der mir das sagte, gar nicht wusste, was er damit von mir verlangte. Manchmal war mir eher danach zumute, den einfacheren Weg zu wählen und abzuwarten, bis alles Unangenehme vorbei war.

Ich glaube, dass ich beide Techniken beherrsche, und im Rückblick habe ich für beide Reaktionsweisen volles Verständnis. Beide Reaktionen können im Leben beim Überleben sehr hilfreich sein.

Als Nächstes drängte sich mir beim Schreiben der Titel „Ausgeliefert“ auf. Der Ausdruck traf lange auf meine subjektive Lage zu. Aber heute fühle ich mich nicht mehr so hilflos ausgeliefert wie damals als Kind. Und wenn ich mich heute (manchmal) ausgeliefert fühle, versuche ich mich nach Kräften dagegen zu wehren und nicht mehr darauf zu warten, dass sich das Gefühl von alleine regelt oder einfach nachlässt.

Ein weiterer Arbeitstitel war „Der Fluch der frühen Geburt“ und hatte damit zu tun, dass mir viele Unannehmlichkeiten erspart geblieben wären, wenn ich 20 Jahre später auf die Welt gekommen wäre. Dann sollte mein Buch „Die fast unbändige Wut ...“ heißen. Aber dieser Titel stimmt deshalb nicht, weil er nur einen – zwar wichtigen – Aspekt hervorhebt. Damit würde ein falsches Licht auf meine Geschichte fallen. Die Erfahrungen, die ich – und in ähnlicher Form viele andere Behinderte und Kranke – mit den im Gesundheitssystem Tätigen gemacht habe, lassen auf partielle Unwissenheit schließen, die heute (hoffentlich) nicht mehr so weit verbreitet ist. Aber letztendlich sehe ich in dem, was mir passiert ist, keinen Fluch! Ich habe wichtige Erfahrungen gemacht, die ich anderen mitteilen kann. Zeitweise bin ich allerdings recht traurig, weil manche Erlebnisse, die ihre Narben bei mir hinterlassen haben, auch nach dem damaligen Stand des ärztlichen Wissens nicht hätten sein müssen. Vielleicht ist es mir möglich, andere zu ermutigen, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen, um sich böse Überraschungen zu ersparen und ihre Situation zu verbessern.

Und ich habe ein weiteres Anliegen. Sowohl Gesundheitspolitiker als auch die Lernenden in den verschiedenen Zweigen medizinischer Berufe hören immer noch wenig oder nichts vom Erleben der Patienten. Sie haben deshalb kaum Gelegenheit, Verständnis zu entwickeln und ihre eigene Haltung zu überprüfen. Nur so konnten die letzten Gesundheitsreformen entstehen – fernab jeder Praxis! Ärzte können mit dem vorgesehenen Budget chronisch Kranke nicht versorgen – und oft sind wirklich hilfreiche Maßnahmen damit unmöglich. Ich würde mich freuen, wenn ich einen Beitrag dazu leisten könnte, die Patientenseite deutlich zu machen.

Beim Aufschreiben meiner Erlebnisse ist es mir sehr unterschiedlich ergangen. Einerseits stiegen alte Erfahrungen wie Ängste und die für meine Entwicklung so wichtige Wut empor, andererseits kamen Überlegungen auf, wie meine Schilderungen auf Ärzte, Schwestern und andere Menschen im Gesundheitswesen wirken könnten und wie sie danach mit mir umgehen würden. Aber bei der Suche nach einem Sinn in all dem, was, locker umschrieben, „dumm gelaufen“ ist, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht umsonst gewesen sein soll, was ich ausgehalten habe. Ich hatte Gelegenheit, meine Erlebnisse zu reflektieren und unangenehme Erfahrungen mit medizinischem Fachpersonal nachträglich so differenziert wahrzunehmen, dass ich meine „Abenteuer“ in Worte fassen kann. Durch mein Schreiben hoffe ich andere Patienten darin zu bestärken, ihre eigene Wahrnehmung ernst zu nehmen, anzusprechen und sich nicht alles gefallen zu lassen, sondern Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Außerdem soll meine Geschichte anderen Mut machen, ihre eigenen Traumata zu bearbeiten, damit diese nicht unkontrolliert in aktuelle Lebenssituationen hineinwirken. Denn Traumata haben sehr umfangreiche Nachwirkungen. Je früher (lebensgeschichtlich gesehen) sie entstanden sind, umso weniger ist ein Individuum in der Lage, damit alleine fertig zu werden, sie zu verarbeiten.

Der Ausdruck Trauma (1) bezeichnet in der Medizin eine Wunde, Verletzung oder Schädigung des Körpers, in der Psychologie eine von außen einwirkende Verletzung der seelisch-psychischen Integrität. Die Traumaforschung ist noch eine vergleichsweise „junge“ Forschungsrichtung, hat aber für das Krankheitserleben gerade sehr kleiner Kinder ganz neue Einsichten und ein ganz anderes Verständnis ermöglicht.

Ich hatte als zweijähriges Kind Polio (Kinderlähmung) (2) und im Anschluss daran drei lange Krankenhausaufenthalte vor meinem dritten Geburtstag. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts bedeutete jeder Krankenhausaufenthalt für ein Kind die radikale Trennung von allem Vertrauten. Die Notwendigkeit dafür ist einem zweijährigen Kind noch nicht plausibel zu machen. Die Trennung von meinen Bezugspersonen, das Krankheitserleben und das Damit-allein-gelassen-Werden traumatisierten mich. Weitere innere und äußere Verletzungen kamen hinzu. Das Ergebnis waren Trauer, Hilflosigkeit – und eine fast unbändige Wut.

Aktueller Anlass, mein Buch der Öffentlichkeit vorzustellen, waren wiederholte Presseberichte über Gewalttaten und Amokläufe Jugendlicher. Es geht mir nicht darum, ihre Taten zu bagatellisieren oder zu entschuldigen. Aber von meinem eigenen Erleben, meiner eigenen Wut her kann ich zumindest einen Teil der Wut und der Verzweiflung dieser jugendlichen Gewalttäter nachvollziehen. Sie hatten anscheinend nicht wie ich die notwendigen Hilfen, mit ihrer Wut konstruktiv umzugehen.

Wut ist mir noch heute ein sehr vertrautes Gefühl, was mich einerseits sehr erschreckt, andererseits mich auch die Kraft spüren lässt, über die ich verfüge. Ich reagiere sehr sensibel auf Ungerechtigkeit, Brutalität, Gedankenlosigkeit, Diskriminierung, Machtmissbrauch, Herzlosigkeit und Rücksichtslosigkeit. Besonders deutlich wird mir das, wenn ich im Fernsehen einen Krimi sehe. Ich merke, dass ich mich nur schwer von dem Geschehen distanzieren kann. Ich lebe mit: Wenn die Kommissare den Bösewicht festnehmen, bin ich fast jedes Mal verwundert bis enttäuscht, dass sie diesen Verbrecher nicht erst mal verprügeln oder ihm „in die Fresse treten“. Wer anderen so übel mitspielt, der hat nichts anderes verdient! Das ist der erste Gedanke – und der zweite Gedanke ist dann mein Entsetzen über meine erste Reaktion: Wie kann ich so blutrünstig sein! Außerdem weiß ich von meiner Ausbildung und Erkenntnis her, dass brutale Gewalt immer nur neue brutale Gewalt hervorbringt.

Inzwischen ist mir natürlich klar, was bei solchen Gelegenheiten in mir passiert: Wird durch äußere Reize, wie zum Beispiel durch einen Krimi, meine „alte Wut“ angerührt, verbindet sich diese mit dem neuen Anlass und bricht dann heraus. Es hat damit zu tun, dass die alte Wut noch nicht ganz verarbeitet ist. Wie sich diese „alte Wut“ gesammelt hat und die Kräfte, die mir halfen, damit besser zurechtzukommen beziehungsweise das Erlebte zu bearbeiten und teilweise zu verarbeiten, ist im Folgenden zu lesen.

Mein Bericht legt auch Zeugnis ab über ein Stück Medizin- und Nachkriegsgeschichte. Vieles hat sich inzwischen positiv verändert. Andererseits ist die Situation in den Krankenhäusern wegen der massiven Einsparungserwartungen gerade gegenwärtig wieder sehr kritisch zu betrachten. Überlastete Krankenschwestern und unter Druck stehende Ärzte können sich noch weniger auf die Bedürfnisse von Patienten einstellen.

Es gibt Behinderte, die behaupten: „Ich bin nicht behindert, sondern meine Umwelt behindert mich!“ Diese Aussage kann ich nicht unterschreiben, da sich mir eine andere Wirklichkeit darstellt. Auch aus diesem Grunde habe ich dieses Buch geschrieben. Ich möchte die Dimensionen aufzeigen, die bestimmte Einschränkungen haben können. Ich bin in mehreren Bereichen behindert, nicht nur in meiner Gehfähigkeit. Meine Kindheitserlebnisse haben mich geprägt und damit auch meine Wahrnehmung beeinflusst. Jedes Mal wenn ich einen Arzt aufsuchen muss, bringe ich einen Berg von Erfahrungen, Ängsten, Enttäuschungen und vor allem mangelndes Vertrauen mit, was Ärzte oft unangenehm berührt wahrnehmen.

Ich will mit diesem Buch nicht, beziehungsweise nur sehr punktuell anklagen, aber an meinem Beispiel zeigen, wie das Verhalten der medizinischen Berufe von Betroffenen verstanden werden und bei ihnen wirken kann. Vielleicht kann diese Schilderung Ärzten, Schwestern und anderen im Gesundheitsbereich Tätigen dabei helfen, die andere Seite kennenzulernen, zu verstehen, warum manche Patienten so schwierig sind und sich so unverständlich verhalten, obwohl sie sich alle Mühe geben und tun, was in ihren Kräften steht.

Der schicksalhafte Kuss

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