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Die Behinderung und die Familie

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Für meine Eltern war meine Erkrankung ein weiterer schwerer Schicksalsschlag, nachdem sie und ihre Familien durch die Vertreibung Heimat und Hab und Gut verloren hatten. 1950 bestand noch große Unsicherheit, wie sich die politische Lage entwickeln würde. Zu diesem Zeitpunkt hofften noch viele Flüchtlinge und Vertriebene, wieder in ihre Heimat in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen zurückkehren zu können. Sie waren in den Dörfern fremden Familien zugewiesen worden. Das bedeutete für alle, zusammenrücken zu müssen. Die Flüchtlinge, die nichts hatten außer dem, was sie auf dem Leibe trugen, und die Familien, die durch die Bombenangriffe einen großen Teil ihrer Habe verloren hatten, mussten miteinander zurechtkommen. „Flüchtling“ war damals ein Schimpfwort. Das war für alle unbequem und für manche Einheimische auch beängstigend, weil sie Fremde in ihren Häusern aufzunehmen hatten, die größtenteils andere Mundarten sprachen als sie. In Schlesien war die schlesische Mundart gepflegt worden, hier in Niedersachsen wurde viel Plattdeutsch gesprochen – das bedeutete, dass nur mit viel gutem Willen Verständigung möglich war.

In der Hitlerzeit waren Behinderungen ein schlimmer Makel und oft geradezu gefährlich. Denn nicht nur geistig Behinderte wurden aufgrund des Euthanasie-Programms umgebracht und so aus der Gesellschaft beseitigt. Der Satz „Mens sana in corpore sano“ (gesunder Geist in gesundem Körper) war noch allen bekannt. Die Ursache einer Behinderung ist selten zu sehen. Meine Eltern lebten in einer Umgebung, in der sie sich nicht geliebt oder getragen fühlten und die ihnen zeitweise sogar deutlich machte, dass sie lästig waren. Sie waren noch damit beschäftigt, ihren Hausrat und die notwendigen Möbel anzuschaffen, und jetzt hatte ein Kind eine lebensbedrohliche Krankheit, die zusätzliche finanzielle Belastungen mit sich brachte. Die Spätfolgen waren nicht absehbar.

Im Alten Testament ist zu lesen, dass die Schuld der Väter – vermutlich sind die Mütter in diesem Falle mit einbezogen – bis in die dritte und vierte Generation verfolgt wird (Ex 34,7). Aber was hatten sie verbrochen? Andererseits wird im Neuen Testament berichtet, dass Jesus auf die Frage: Wer hat gesündigt, dass (...) dieser Mensch krank wurde? geantwortet: „Weder er noch seine Eltern!“ (Joh. 9,2 f.)

Meine Eltern waren sehr religiös und fanden durch ihren Glauben auch die Kraft, mit meiner Krankheit umzugehen. Aber für meine Mutter war es ihr ganzes Leben lang schwer, den Schicksalsschlag durch meiner Behinderung zu akzeptieren. Und völlig überfordert waren sie und mein Vater mit meinen Fragen, warum ich nicht schnell laufen durfte und die „blöde“ Schiene tragen oder zur Krankengymnastik gehen musste.

In unserem Dorf gab es einen Kindergarten. Nachdem ich sechs Monate vor meiner Einschulung auf der Wiese vor dem Kindergarten böse gefallen war, brauchte ich nicht mehr dorthin zu gehen. Ich ging nicht gern in den Kindergarten, dabei spielte ich mit Vergnügen mit anderen Kindern, aber die „Tanten“ (= Erzieherinnen) mochte ich nicht. Ich hatte damals am linken Bein einen Stützapparat, an dessen Seiten herausstehende Nieten angebracht waren, um Gurte in unterschiedlichen Positionen anbringen zu können. Eine solche Niete war beim Sturz in mein rechtes Schienbein gestoßen, was eine starke Blutung auslöste und den Erzieherinnen Angst machte. Inzwischen war mein linkes Bein im Wachstum noch mehr zurückgeblieben. Es war deutlich dünner als das rechte Bein, und der linke Fuß war kleiner als der rechte.

Irgendwie hatte ich selbst schuld an dem Sturz. Mir war immer wieder gesagt worden: „Lauf nicht so schnell!“ Ich wollte aber manchmal schnell laufen – wie die anderen Kinder auch. Von da an durfte ich zu Hause bleiben, worüber ich sehr froh war. Denn zu Hause waren meine kleineren Geschwister und meine Mutter. Die hatte zwar immer etwas zu tun, Kochen, Wäsche waschen oder aufhängen, oder Windeln zusammenlegen oder Wohnung putzen, aber sie war da. Und ich durfte ihr helfen. Ich konnte meinen kleinen Schwestern ihren Schnuller geben, wenn sie ihn verloren hatten, und durfte ihnen auch die Nuckelflasche geben und mit ihnen spielen. Außerdem war es zu Hause nicht so laut wie im Kindergarten.

Eine regelmäßige Beschäftigung unserer Mutter war es, Samstagnachmittag Kuchen zu backen. Oft gab es den berühmten schlesischen Streuselkuchen, während der Obsternte mit Äpfeln, Zwetschgen oder Beeren gefüllt. Dieser wunderbare Duft des Kuchens erfüllte bald die ganze Wohnung.

Noch mehr Spaß machte die Weihnachtsbäckerei. Unsere Mutter backte Berge von Plätzchen, da ihre Geschwister und unsere Großtanten auch großzügig damit bedacht wurden. Es war für sie selbstverständlich, von 6 kg Mehl Pfefferkuchenteig zu machen, dazu kamen noch Nüsse, Mandeln, Honig, Sirup, Zitronat und Orangeat. Außerdem wurde noch Spritzgebäck, Schwarz-Weiß-Gebäck, Haferflockenplätzchen, Kokosmakronen und Schneeflöckchen gebacken. Bei dieser Backerei konnten wir viel helfen. Die Plätzchen mussten ausgestochen, auf das Kuchenblech gelegt und später verziert werden – eine leckere Arbeit!

Wir Kinder waren um den Tisch verteilt, sahen Mama zu, wie sie den Teig knetete, und warteten auf eine Hefeteigkostprobe. Noch leckerer waren die Streusel- und Keksteigproben. Nach und nach durften wir auch helfen, die gebrühten Mandeln abzuziehen und zu hacken und die gewaschenen Rosinen zu kontrollieren und gegebenenfalls von den Stielansätzen zu befreiten. Dabei achtete Mama darauf, dass noch genug für den Kuchen übrig blieb. Wir naschten sehr gern, aber ich galt als die größte Naschkatze. Ich wusste, wo die Mokkabohnen zum Verzieren der Torten aufbewahrt wurden, und bediente mich gelegentlich an dieser Leckerei. Wollte meine Mutter nach Wochen oder Monaten die Mokkabohnen verwenden, war nur noch ein kleiner Rest übrig. Das gab regelmäßig Ärger!

Sonntags zum Kaffee wurde der Kuchen dann verspeist. Zu besonderen Anlässen backte sie Frankfurter Kranz und Mohnkuchen. Den mochten die Brüder unserer Mutter besonders gerne. Diese Onkel waren oft bei uns zu Besuch, wie auch zwei Schwestern von Opa Joseph, dem Vater unserer Mutter. Das Schönste am Backen war, dass anschließend die Schüsseln ausgeschleckt werden durften. Am ergiebigsten waren die Schüsseln, wenn Topfkuchenteig oder Tortenfüllungen zubereitet worden waren. Wir Kinder wollten dann alle schlecken und mussten uns einigen, mit wem wir uns eine Schüssel teilen wollten. Beim anschließenden Abwaschen war es unsere Aufgabe, abzutrocknen.

Auf die Schule freute ich mich. Die war auch viel näher an unserer Wohnung als der Kindergarten. Zur Schule musste ich nur über die Straße gehen.

Anfang April 1955 wurde ich in die zweiklassige Dorfschule eingeschult. In unserem Klassenraum war die erste und zweite Klasse. Zwischen diesem Klassenraum und dem Klassenraum der höheren Klassen lag der Schulhof.

Erst als ich in die Schule kam, fiel mir auf, dass die Bekleidung, die mir zu klein geworden war, später meine jüngeren Schwestern trugen. Bei meinen Geschwistern war das auch mit den Schuhen so.

Meine Schuhe konnten aber von meinen drei Geschwistern nicht „nachgetragen“ werden. Sie waren unterschiedlich groß, und es waren Stiefel, die niemand anders freiwillig angezogen hätte. Wenn ich neue Schuhe bekam, kosteten sie viel Geld, das hatte ich mitbekommen.

Jedes Paar meiner Schuhe konnte einmal „vorgeschuht“ werden, das heißt, durch ein neues, längeres Vorderteil wurde der Fußteil des Stiefels verlängert. Dafür mussten wir dann wieder in die Großstadt fahren, in die Klinik mit der Orthopädie- Schuhmacherei. Die Schuhe blieben dann in der Werkstatt, und ich fuhr in Hausschuhen zurück. Bis die Schuhe fertig waren, das konnte acht bis vierzehn Tage dauern, musste ich im Haus bleiben und konnte nicht rausgehen, denn die Hausschuhe gaben mir keinen richtigen Halt. Ersatzschuhe hatte ich nicht. Aber bekam ich meine Stiefel zurück, sahen sie wie neu aus. Sie waren wenigstens nicht mehr so abgewetzt – so ärmlich.

Wenn die Stiefel mir nicht mehr passten, mussten sie weggeworfen werden. Ich hatte deshalb oft ein schlechtes Gewissen.

Gekaufte Halbschuhe, die hätte ich auch gerne gehabt. Aber nicht auszudenken! Schuhe – nicht rotbraun, sondern ganz normal, in Rot oder Hellbraun oder gar zweifarbig... Meine Schuhe waren jahrelang rotbraun und so, dass andere auf zehn Meter Entfernung erkennen konnten, dass ich Maßschuhe trug. – Überhaupt nicht schick!

Der schicksalhafte Kuss

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