Читать книгу Arnulf. Der Herr der Elbe - Robert Focken - Страница 15

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Kapitel VI

Beschützt von zwei Dutzend Gepanzerten, rollten Ebo und Einhard von Paderburni aus in einem halbwegs bequemen Reisewagen nach Nordwesten. Die Straßen hatten kaum noch die wannengroßen Löcher wie früher; wilde Querrinnen, die Wege nach Regenfällen zerschnitten und wodurch sie zur Falle für die Reisewagen werden konnten, waren die Ausnahme geworden. »Die Barbarei hat abgenommen«, bemerkte Ebo, als sie vom Hof eines Königsvasallen nahe der Weser rollten, den Einhard für eine Mittagsrast ausgesucht hatte. »Und unser Gastgeber, Einhard, der hat Euch ja aus der Hand gefressen!«

»Wir sind auch nicht mehr in Westfalen, sondern bei den Engern!« Einhard musterte den Diakon auf der gepolsterten Sitzbank gegenüber nüchtern. Ebo schien zugenommen zu haben seit dem Aufbruch, das Gesicht wirkte weniger schmal. Zwischen den Zähnen sah Einhard noch Reste der Salbeiblätter, die Ebo häufiger kaute, weil das angeblich gut gegen Zahnfäule war.

»Die Westfalen träumen noch vom Siegruhm ihres Herzogs Widukind«, fuhr Einhard fort. »Die Engern und die Ostfalen haben sich dagegen eingerichtet unterm Kreuz: Kaum nehmen ihre Edlen die Taufe, machen wir sie zu Gaugrafen, lassen sie Recht sprechen und den Kirchenzehnt eintreiben und ihren eigenen Nutzen davon haben. Übrigens, Diakon …«

»Ja …?« Ebo raunte dem pockennarbigen Schreiber zu seiner Linken etwas zu, einem mageren Jüngling, der trotz des Geschaukels Notizen machte.

»Einem Grundherrn mit einem grauen Bart«, dozierte Einhard, »dem braucht Ihr nicht zu empfehlen, schleunigst lesen zu lernen! Das könnte man Euch als Hochmut und Bevormundung auslegen!«

Ebo legte den Kopf ein wenig schief. »Ist es nicht so, dass unser gesamtes Wirken eine Art Feldzug gegen die Dummheit ist? Und dass Lesen und Schreiben besser als alles andere hilft, die …«

»Aber nicht bei einem, der doppelt so alt ist wie Ihr, Ebo!« Einhard merkte, dass seine Stimme schärfer wurde, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. »Solches könnt Ihr höchstens den jüngeren Herren empfehlen!«

Ebo berührte einen Punkt über seiner Braue, als müsse er sich dort kratzen. »Verzeiht, aber ich glaube, diese sächsischen Trutzschädel werden uns einmal dafür dankbar sein, dass wir sie aus der Dunkelheit rausgerissen haben. Habt Ihr diese mannshohe Holzfigur neben der Scheune gesehen? Das war noch ein Rest Heidenheiligtum, aber der Edle selbst hat ein großes Holzkreuz über seiner Tafel hängen!«

»Und wir werden weitere zwanzig oder dreißig Jahre brauchen, bevor sich das ändert! Wir bringen diesen Leuten einen neuen Glauben und somit neue Treueverhältnisse bei. So etwas dauert, nicht wahr?«

Der andere nickte lustlos und Einhard merkte, dass er wieder wie ein Schulmeister klang. Aber warum auch nicht? Ebo, der so kluge, aber menschlich etwas sperrige Begleiter, hatte nicht halb so viel Erfahrung! Was sich schon in der dunklen, erdfarbenen Bekleidung zeigte, die der Diakon angelegt hatte: Als reise man zu Pferd durch den gröbsten Dreck!

»Habt Ihr bemerkt, wie sie meinen Seidenüberwurf betrachtet haben, Diakon?«

»Ein prachtvolles Gewand, Consiliarius«, bemerkte Ebo ungerührt.

»Ich erwähne das nicht aus Eitelkeit«, sagte Einhard säuerlich, »sondern weil Ihr die Leute damit auf recht leichte Weise beeindrucken könnt! Und je beeindruckter sie sind, desto willfähriger werden sie. Und umso eher folgen sie Euch in allem, was Ihr ihnen abverlangt – und sei es Schreiben und Lesen!«

Ebo räusperte sich. »Ich verstehe Euch gut, Consiliarius, ohne dass Ihr mich wie einen Halbwüchsigen behandelt!«

Verärgert sah Einhard aus dem Fenster. Sanfte Hügel, fette, grüne Weiden, grasende Kühe, Schafe. Ein gutes, friedliches Land – so wirkte es zumindest. Er war froh, nicht reiten zu müssen. Diese Reise zu Pferde wäre ein Schrecknis geworden! Andererseits müsste er dann nicht solche Unterhaltungen führen …

Er sah, wie Ebo sich neues Grün zwischen die Zähne schob.

Du hast keine Ahnung, Junge, was auf dich zukommt!

Der junge Karl konnte grausam sein, auf seine ganz eigene Weise. Musste Einhard seinen Begleiter nicht vorbereiten?

»Diakon, etwas muss Euch klar sein«, begann Einhard in verbindlichem Ton. »Ihr hattet schon hier und da mit dem jüngeren Karl zu tun. Ihr wisst vielleicht noch, wie viel nutzloses Gepränge und Unernst dort herrschen!«

»Gewiss, Herr Einhard«, entgegnete Ebo ein wenig gelangweilt. »Aber bei Arnulf sax hamar nicht, was? Euer Freund soll eher derbe sein. Wie ein Krieger eben!«

»Es ist nicht mehr angemessen, ihn meinen Freund zu nennen«, erwiderte Einhard ein wenig müde. »Darauf hatte ich hingewiesen. Und das Wichtigste für Euch, Diakon …«

»Sprecht mich bitte nicht mehr mit ›Diakon‹ an!«, unterbrach ihn Ebo und warf einen Blick auf das Geschreibsel, das der Jüngling ihm reichte. »Missus oder ›Herr Ebo‹ wäre passender.«

»Von mir aus«, gab Einhard mit belegter Stimme zurück. Das Selbstbewusstsein des Jüngeren war nicht leicht zu verkraften, trotzdem fühlte Einhard sich verpflichtet, ihn nicht einfach in den Untergang laufen zu lassen. »Also, Ihr werdet beim jungen Prinzen Karl auf eine Art Zirkus stoßen, wenn Ihr wisst, was ich meine: Er ist umgeben von so manchem Narren und Schöngeist! Es wimmelt von Wichtigtuern und oft weiß man nicht, wer jeweils dem Prinzen Karl nahe ist … übrigens, er lässt sich von seinen engsten Favoriten Karolo nennen.«

»Interessant.« Ebo befingerte einen Anhänger unter der Tunika, die Haarlocke – er hatte Einhard davon erzählt. »Und was bedeutet das für uns?«

Bevor Einhard antworten konnte, wurde er kräftig durchgeschüttelt, die Räder des Wagens rollten durch eine Abfolge größerer Ausspülungen. Ebo verbiss sich einen Fluch, sie hörten die Rufe des Wagenlenkers, der die Pferde bremste.

»Richtet Euch ausschließlich an den einen Mann, der wirklich wichtig ist: sein Hofkapellan namens Odilo. Dieser Odilo ist wie der Erzkapellan Hildebald für den großen König, er zieht die Strippen! Also gleichgültig, zu welchen albernen Vergnügungen Ihr von den Höflingen eingeladen werdet, von wem auch immer – haltet Euch an Odilo! Übrigens, sollte König Karl einst zum Allmächtigen auffahren und der gute Prinz Karolo den Thron erben, dann wird eben dieser Odilo der mächtigste Mann im Reich sein! Weil er den Willen des Prinzen ausführt. Und ihm auch vermittelt, was eigentlich sein Wille ist! Habt Ihr mich verstanden?«

Ebo nickte mit einem höflichen Lächeln.

Er hat mich nicht verstanden!

Einhard sah in die braunen Augen Ebos und traf in diesem Augenblick eine Entscheidung. Bei der Abwägung von allem, was er nun über Ebo wusste und dem, was Einhard immer noch mit Arnulf verband, kam der Consiliarius zu dem Schluss: Für sein Gewissen war es besser, vorübergehend einen eigenen Pfad einzuschlagen.

* * *

Während der geheimen Beratungen bei Hofe über die Zukunft des Reiches hatte der junge Karl, der angehende Herrscher über den nördlichen Reichsteil, sein Lager in der Magadoburg12 am mittleren Elbufer aufgeschlagen. Von dort aus setzten seine Panzerreiter über den Strom, um aufsässige Slawen-Häuptlinge zu züchtigen, die auf dem Westufer geplündert hatten. Pflichtgemäß verheerten die Krieger Siedlungen, brannten hölzerne Burgen nieder und verwüsteten Äcker. Nach der Rückkehr der fränkischen Kriegsschar erreichten königliche Boten die Magadoburg mit einer Weisung von König Karl: Der Vater befahl seinem ältesten Sohn eine Vereinigung seiner Kräfte mit denen des Bruders Ludwig an der Weser. Beide sollten von dort nach Norden marschieren und die auflodernde Sachsen-Rebellion austreten. »Hart zu bestrafen sind auch alle, die den Schuldigen geholfen haben!«, forderte der König. Das schien auf einen gewissen sax hamar genannten Kriegsherrn an der Elbe gemünzt; für solch einen Feldzug brauchte man allerdings eine größere Menge Truppen, stellte Karls Berater, Kapellan Odilo, gegenüber seinem jungen Herrn fest: »Warten wir ab, Herr, wie viele Krieger Euer Bruder mitbringt!« Der Königssohn hatte mit seiner Kohlezeichnung – ein Reiter in schmuckvollem Ornat inmitten junger Männer, über allem ein paar Tauben – innegehalten und seinen nur wenige Jahre älteren Vertrauten kurz gemustert.

Odilos Miene legte keine besondere Maßnahme nahe, keine unnatürliche Eile, so nickte Karl nur und fuhr mit dem Zeichnen fort, wobei seine Zungenspitze die Oberlippe streichelte und fast den Schnurrbart berührte, der sich kreisförmig nach unten um das Kinn fortsetzte.

Dann, als der große Tross des Prinzen Karl mit einigen Hundertschaften der Panzerreiter tatsächlich aufbrach, erreichte sie ein Bote des Bruders Ludwig: Er werde nicht zum Treffpunkt kommen, da »vorher« noch eine fürstliche Fehde in Neustrien an der Loire zu schlichten sei. »Möge das Werk gleichwohl gelingen und möge der Herr Euch die Hand führen!« Das war offensichtlich ein scheinheiliger Wunsch: In Wirklichkeit, wusste Karl, wünschte sein Bruder ihm ein gründliches Scheitern, um seine eigenen Aussichten auf den Thron des Vaters zu verbessern.

So kam es, dass der Königssohn Karl alsbald nach Norden schwenkte, um Bardovyk anzusteuern. Vom königlichen Stapelplatz nahe der Elbe aus konnte man die Lage an der Grenze beurteilen und die Aufständischen niederwerfen. Zwei Tage später erreichte wiederum ein Eilbote vom Königshof die lang hingezogene Reiter- und Trosskolonne. Diesmal stammte das Schreiben von Karls erstem Berater, dem Erzkapellan Hildebald: Der Consiliarius Einhard sei als missus domenicus nach Nordsachsen unterwegs, um eine aktive Befriedungspolitik auch in das Gebiet der nordliuti zu tragen. Einhards Begleiter, ein Diakon der Hofkanzlei namens Ebo, sei herzlich aufzunehmen und künftig über alles zu informieren, was für die Kanzlei des Königs, »die Geschicke des Reiches« und insbesondere für »die Befriedung des Nordens« von Belang sein könne.

Briefe vom großen Hildebald wurden am Hof des Prinzen direkt an den Hofkapellan Odilo übergeben. Der runzelte beim Lesen die Stirn, was bei ihm bereits als ein Zeichen der inneren Erregung gelten musste. Er war ein Mann um die dreißig von unauffälligem Äußeren, den man in einer Ansammlung von Höflingen hätte übersehen können; am markantesten waren noch seine abstehenden, blonden Locken, in deren Mitte die Tonsur der Geistlichen geschoren war. An ein Rad des Kapellanwagens gelehnt, stieß er beim Lesen schließlich ein kleines Krächzen aus, irgendwo zwischen Unglauben und Belustigung.

»Was habt Ihr da, Kapellan?«, rief der junge Karl vom Brunnen aus, wegen dem man hier angehalten hatte. Er strich sich das nasse, schwarze Haar straff nach hinten und und wischte die Hände sorgfältig am Überwurf ab, den er über der gelbseidenen Tunika trug. »Hat mein Vater mir wieder eine Jungfrau ausgesucht? Eine magad von bestem Blut?« Mit schnellen, kleinen Schritten hielt er auf seinen Berater zu.

»Keine Jungfrau, Herr!« Odilo zupfte seinen Kehlkopf, der wie ein stecken gebliebener Knochen im Hals vorstand. »Aber ein reifer Consiliarius! Euer Vater schickt uns den guten Einhard als Verstärkung!«

»Väterchen Einhard, wirklich?«, spottete Karl und rollte mit den Augen. »Verlässlich, anständig und abscheulich langweilig! Er wird den Sachsen sämtliche Sprüche Salomos so lange um die Ohren hauen, bis sie wimmernd zu Boden gehen! Und wegen diesem Apostel der Unspaßigkeit lacht Ihr Euch öffentlich kaputt, Kapellan? Trinkt Ihr Wein auf dem Wagen, he?«

»Wer würde dann noch auf den Weg achten?«, gab Odilo fast schon heiter zurück. Dann wurde sein Ton ernst. »Erinnert Ihr Euch an den Diakon, Herr, der uns bei der Synode in Aquis­granum13die Besitzlage dieses römischen Klosters erklären sollte?«

»Kaum …« Karl legte einen Finger an die Nasenspitze, als helfe das dem Gedächtnis. »Was an ihm wäre erinnernswert?«

»Ihr hattet ihm Eure Stiefel geschenkt. Sein Schuhwerk war verschlissen.«

»Mag sein, ja. Der Bursche war etwas verhärmt. Und nun? Braucht er abermals neue Schuhe? Eine Hose?« Der Prinz kicherte. »Sollen wir für ihn sammeln?«

»Er soll uns künftig beaufsichtigen. Den Austausch mit dem Königshof anregen, sagt der Erzkapellan.«

»Was?«

Karls Züge verschoben sich und einen Augenblick lang sah er aus wie einer der Komödianten, die sonst vor dem Prinzenhof auftraten. »Unser schuhloser Diakon Sankt Elend soll mich … uns … misericordiae!«

Er zog den elfenbeinernen Griff seines Schwertes ein paar Zoll aus der Scheide und ließ ihn wieder zurückfallen, zweimal, dreimal. Dann raunte er Odilo zu: »Und wenn wir ihn verunglücken lassen? Sagen wir, ertrinken?«

»Ähm …« Odilo zupfte seinen Kehlkopf. »Wie das?«

»In der Badewanne?«

Sanft schüttelte der Hofkapellan den Kopf, die Finger seiner Linken erzeugten ein paar Klickgeräusche, als Ringe aneinanderschlugen. Prinz und Kapellan tauschten einen langen Blick aus.

»Skizan«, zischte Karl schließlich. Mitten auf der sandigen Straße stehend, riss er sein Schwert hervor wie ein Krieger und schrie etwas, das auch die Männer an den Wagen weiter vorn zusammenzucken ließ. Einer von ihnen, ein etwa fünfunddreißigjähriger Glatzkopf mit bleichem, kreisrundem Gesicht, eilte sogleich zum Prinzen, ohne Rücksicht auf die Pferdeäpfel, die er dabei breit trat. Und obwohl dieser »Mond« genannte Vertraute vielleicht besser bekannt war mit Karls wahrem Wesen als sonst irgendjemand, biss sich der Hofmann doch auf die Lippen: Zu lästerlich war der Strom von Worten, der nun aus dem Mund des Königssohns floss.

Als der Hochwohlgeborene endlich verstummt war, lehnte er sich an die Brust des Mondes, von Kummer und Zorn übermannt. Ein Schluchzen ertönte. »Ich hasse diesen Mann«, quetschte Karl hervor. Seine Leute aber wussten, dass er damit weder den genannten Diakon noch Einhard meinte, sondern den großen Vater selbst.

* * *

Wenige Tage später lag der missus domenicus Diakon Ebo auf einem nach muffiger Feuchtigkeit riechenden Bett in der Siedlung Bardovyk und leckte seine Wunden.

Über Niederlagen nachzudenken, bringt mehr als das Schwelgen in Triumphen.

Diese Prämisse eines verstorbenen Dichters hatte Ebo immer befolgt. Narren und Tölpel mochten sich über ihre Erfolge freuen. Er war dazu verdammt, aus Fehltritten zu lernen! Und so dachte er auch am Abend des Tages seiner ersten Aufwartung beim Prinzen Karl darüber nach, wie es zu dieser üblen Demütigung hatte kommen können: Man hatte ihn, den Diakon Ebo, Königsbote des großen Karls, verhöhnt und ausgelacht, wie den letzten Schweinehirten! Niemand anders als Einhard, wurde Ebo klar, hatte ihn dem Gespött preisgegeben, denn Einhard hatte ihn so gut wie nackt in Bardovyk sitzen lassen!

Er hatte diesen Consiliarius Einhard unterschätzt! Diesen halbwegs klugen und dabei etwas drögen Hofmann, der in seinem ganzen Gebaren verbindlich wirkte … ›Wir müssen einander vertrauen.‹ Der altgediente Hofmann hatte ihn getäuscht wie einen Halbgaren, der von Erwachsenen ausgetrickst wurde!

Ebo legte den Zahnstocher zur Seite, mit dem er die Reste des Salbeis beseitigt hatte, und legte seinen Kopf auf das Kissen des Bettes. Von den Balken der Decke sah er Büschel mit getrockneten Melissenblättern baumeln, zwischen denen sich eine Spinne von beachtlicher Größe herabließ. Es war eine eher große, aber feucht riechende Kammer, die er bei der Witwe eines königlichen Vasallen bezogen hatte. Draußen dämmerte es, Ebo hörte das Summen der Mücken, die durch die Fensteröffnung eindrangen. Er konnte sich nicht dazu bringen, den Rahmen mit der gespannten Schweinsblase in die windschiefe Öffnung einzufügen – er ahnte, dass sie nicht passen würde.

Der Consiliarius hatte ihn mir nichts, dir nichts in Bardovyk stehen gelassen, um mit der Masse der Leibwache zu verschwinden, also über den Fluss zu setzen und die Edlen der nordliuti zu besuchen. Morgens, vor der ersten Andacht, ohne Vorwarnung!

Ein weiterer Fehler Ebos war es gewesen, nach Einhards Verschwinden so zu tun, als würde das für ihn nichts ändern. Er war also allein als »Ebo missus domenicus« im Königshof von Bardovyk erschienen, um dem jüngeren Karl – genannt: Karolo! – seine Aufwartung zu machen. Denn noch am Tag zuvor, bei der Ankunft der Königsboten, hatte man ihnen bedeutet, dass Karl sich von einer Jagdpartie nahe der Elbe erhole.

So erschien Ebo schließlich als der Sohn eines Hörigen vor dem Sohn des großen Königs und als ein gestrandeter Diakon, der vom dienstälteren Consiliarius ausgebootet worden war. Und wiederum erinnerte er mit grausamer Klarheit jeden Satz und jede Geste, die bei seiner Aufwartung bei Karl gefallen waren.

Und an die erste brutale Erkenntnis: Der Mann auf dem üppig verzierten Hochstuhl aus Eichenholz war gar nicht Karl!

* * *

Der Raum war kleiner als die Halle in einer voll ausgebauten Pfalz, aber dadurch auch heller, denn nach vorne und hinten gingen offene Fenster auf die Terrassen; der kleine Platz vor dem Haus war angefüllt mit Besuchern, Bittstellern und den üblichen Bettlern. Es war sächsische Bauweise: Das Dach ruhte im Wesentlichen auf den Stützpfosten, die gleichzeitig den Verlauf der Außenwand markierten. Deshalb reichten im Innenraum zwei massive hölzerne Pfeiler, die den First hielten. Vor einem der Pfeiler stand der Hochstuhl, über dem eine Fahne mit Kreuz aufgehängt war. In dem mit Fell ausgelegten Sitz allerdings lümmelte jemand mit feistem, kreisrundem Gesicht im Hochstuhl, den Ebo nicht kannte; der Mann hatte einen kahlen Schädel und trug einen rostbraunen Kaftan, weit geschnitten, mit vielen Falten und Taschen. Rechts von dem Sitz standen ein paar Männer mit geschorenem Haar, in der hellen Kluft von Hofgeistlichen. Als gelte es sich auf eine Messe oder einen Bittgottesdienst vorzubereiten, sangen sie mit stark gedämpften Stimmen ein Kirchenlied. Zur Linken, aufgereiht im rechten Winkel zum Thron, standen Kerle mit derben Gesichtern, deren Hände auf den Schwertern und Äxten in ihren Gürteln lagen: Karls Leibwache.

»Ebo, missus domenicus«, lautete die Ankündigung durch einen reichlich bunt gekleideten, verdächtig hübschen Höfling mit fast weiblichen Zügen. Ebo überlegte rasch, wer hier der »wirklich wichtige« Hofkapellan Odilo war, auf den laut Einhard angeblich alles ankam. Der schmale, blonde Mann mit Kreuz und Rosenkranz am Gürtelstrick, der den Leibwachen gegenüberstand? Ebo nickte ihm zu, doch der Mann fuhr sich lediglich mit der Zungenspitze über die rasierte Oberlippe und blickte ins Nichts.

Als Ebo sich auf etwa sechs Schritte dem Karls-Thron genähert hatte, spuckte ihm jemand vor die Füße. Der Königsbote gefror in der Bewegung, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Eine der Leibwachen fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, ein Teil seines Speichels hatte Ebos linke Stiefelspitze getroffen. Ihre Blicke kreuzten sich: Der Krieger war höchstens zwanzig Jahre alt, ein junges, dumpfes Mördergesicht: einer, der Vergnügen daran hat, andere zu erniedrigen.

»Wir versuchen ihnen das abzugewöhnen«, verlautete es jetzt aus dem Hochstuhl. »Aber die Kerle sind, hm, man könnte sagen: schwer erziehbar!«

Wer zum Satan war dieser Mensch, der da so leutselig heuchelte?

»Herr«, begann Ebo, »König Karl schickt mich, seinen Sohn zu grüßen und …«

»Dann vorwärts, missus, worauf wartet Ihr?« Der Mondgesichtige steckte eine Hand aus, als würde er den Handkuss von Ebo erwarten. Der sah zu dem Blondgelockten mit dem abwesenden Blick.

»Was soll das hier? Wo ist der Königssohn Karl?«

Stumm, mit einer winzigen Kopfbewegung, wies der Berater auf den Hochstuhl.

Ziegengemecker ertönte, als seien hinter dem Thron Tiere versteckt – war das draußen?

Nervös näherte Ebo sich dem Sockel des Hochstuhls, der dem Mondgesicht etwa einen halben Meter Höhenvorteil gab. Doch nun streckte der Mann ihm statt der Hand einen Fuß entgegen. »Handkuss vom Bischof und Königsboten«, dozierte er seelenruhig das Hofprotokoll, »Kniekuss vom Freien und vom Priester, Fußkuss vom Hörigen und Betrüger … stimmt etwas nicht mit Eurem Ohr?«

In Ebos Ohrläppchen explodierte ein Juckreiz. »Was soll das? Ich bin ein Gesandter des Königs Karl!«

»Das kann nicht sein!«, rief das Mondgesicht nun und stieß seinen Schuh, unter dessen Sohle Viehmist klebte, in Richtung von Ebos Gesicht. »Weil ein missus Ebo schon angekommen ist – nein, es sind sogar zwei Ebos, die sich bei uns gemeldet haben, guter Mann! Schaut selbst!«

Der halblaute Singsang der Geistlichen verstummte endlich, die Reihe der Krieger öffnete sich und hervor kam ein jüngerer Mann in dunkler Priesterkutte mit einigen Ziegen an der Leine, die bei Ansicht Ebos zu meckern begannen.

»Heil!«, rief der Ziegenführer. »Auch mich schickt ein Vater, aber ein Ziegen hütender Vater! Guter Diakon, verbindet uns das?«

»Ihr … was erdreistet Ihr Euch?!« Ebos Herz begann zu rasen, Wut lief wie ein Krampf durch seinen Magen.

Das Mondgesicht sprang nun mit einer gewissen Behändigkeit aus dem Stuhl, wobei sich die Falten und Ausbeulungen des Kaftans bewegten und der Kopf eines Hamsters in der Kragenöffnung erschien. »Ehrlicherweise, lieber missus, bin ich der Darsteller des Königs, wenn wir den Hof mit einem Schauspiel erfreuen. Ich spiele den höchsten Herrscher oder auch den Griechen-Kaiser in Byzanz. Mitunter auch den Cäsar … Demnach kam es auf mich, heute meinen Herrn, den Prinzen Karl zu vertreten!«

Der Hamster verschwand wieder.

Ebo atmete aus. »Dieser Zirkus ist böse und unwürdig!«

»Unwürdig«, erwiderte der andere ungerührt, »ist es auch, seine Vorfahren zu verleugnen. Stellt Euch vor, ein Königssohn will nicht vom König abstammen! Euer Vater war ein Höriger, der am Ende … was genau hat er getan, Ställe ausgemistet? Vieh gehütet, hörte ich?!«

»Das geht Euch nichts an!«, stieß Ebo aus und wusste doch, wie lächerlich dies war: Denn man blieb zeitlebens der Sohn seines Vaters! Die Taten der Väter und Vorväter waren es, die die Stellung der Söhne vorgaben, ein Mensch war nur ein Glied in einer langen Kette …

»Es geht uns einen Ziegendreck an, wolltet Ihr sagen!«, warf jemand neben dem Hofkapellan ein. Die Stimme eines Mannes, aber die Figur eines Zwergs!

Der Gnom stieg auf eine Kiste und von dort auf ein Schaf, das ein Diener solange festhielt. Dann ritt er mit schrillem Schrei los und schaffte es, Ebo einmal zu umrunden. Die ersten Männer im Raum begannen zu lachen. Als der Zwerg dann auch noch »Krieg den Ziegen!« schrie und ein kleines Holzschwert hochreckte, brachen alle – fast alle! – in schallendes Gelächter aus, am lautesten lachten die Krieger, ausgelassen wie Kinder.

Auch das Mondgesicht mit dem Hamster lachte.

Nur der Kapellan, auf den angeblich alles ankam, bewegte lediglich die Mundwinkel um einen halben Zoll.

»Krieg den Schafen!«, schrie nun zu allem Überfluss der Mann mit den Ziegen und schlug seinen Tieren aufs Hinterteil, worauf sie vorwärts sprangen, sodass Ebo sich plötzlich von blökenden Tieren umstellt sah, was abermals Lachsalven auslöste. Er versuchte, sich durch eine Rückwärtsbewegung aus dem Gedränge zu befreien – und blieb mit einer Ferse irgendwo hängen: Der Zwerg hatte die Leinen der Tiere nicht gelöst, sondern einfach verlängert, sodass sie zu Fallstricken für den Diakon wurden.

»Gnade für unsere Väter«, trompetete jetzt jemand über Ebo, »denn sie wissen nicht, was sie tun! Könnt Ihr dies gebrauchen, schuhloser Diakon? Wir haben gesammelt!« Ein paar Stiefel, ausgebeulte Schuhe und eine oder zwei braune Hosen samt Wickelbändern für die Waden regneten nun auf Ebo hinab. »Bleibt unten!« – Letzteres war schärfer gesprochen, so verharrte Ebo auf den Knien, dachte an das damalige Stiefel-Geschenk und hätte vor Scham und Ekel am liebsten vor den Königssohn gekotzt.

»Wenn Ihr das Zeug braucht«, lächelte der Mann über ihm, »dann glaub’ ich auch, dass Ihr der richtige Ebo seid – und die anderen Betrüger hole der Teufel!«

Ebo sah zum Antlitz des Königssohns auf: kleine, muntere Äuglein, eine Nase, die man in Ebos Heimat Stupsnase genannt hätte, ein ringartiger, sauber gestutzter Bart um die Lippen und dunkles Haupthaar, das die Ohren fast verdeckte – ein lebenslustiger Bursche Mitte zwanzig, dessen Züge nach der Mutter Hildegard kamen. Einer, der rein zufällig Sohn des mächtigsten Mannes der Welt war …

»Verzeiht mein unwürdiges Auftreten, Herr«, würgte Ebo hervor. »Euer Vater wollte es so.«

Karl lachte auf. »Dem Alten kann man schwer widersprechen! Einhard jedenfalls meinte, dass Ihr ein heller Bursche mit guten Anlagen seid, der uns ein wenig zur Hand gehen soll. Übrigens, wann erwartet Ihr Euren missus senior zurück?«

»Ich bin mir nicht sicher … er wird sicher bald …«

»Ist ja egal! Hauptsache, er schüchtert diese Holzköpfe hinter der Elbe etwas ein, damit wir nicht den Rest des Sommers hier vertun!«

Ebo nickte mit roten Ohren, unsicher, ob er nun aufstehen durfte oder nicht.

Der Prinz reichte ihm die Hand. »Ihr habt Euch jedenfalls nützlich gemacht, missus diaconissus, der heutige Tag ist geglückt! Nicht wahr, Leute?«

Zustimmendes Gelächter in der ganzen Halle war die Antwort.

Dann, endlich, zog ihn Prinz Karl auf die Beine. Sofort drückte Ebo seine Lippen auf den Handrücken.

Sie waren etwa gleich groß, stellte Ebo fest. Das Kettenhemd freilich, das der Prinz – als Verkleidung? – übergeworfen hatte, schien für einen größeren Mann angefertigt.

»Lernt meine Gefährten kennen, lieber Ebo! Hofkapellan Odilo und Truchsess Helisachar, den wir gerne Mond nennen!« Der Hofkapellan neigte ein wenig den Kopf, ohne näherzukommen.

Wollte ausgerechnet Odilo sich nicht mit Einhard einlassen?

Der Mond genannte Helisachar trat nun vor und legte einen Finger an seine Nase: »Truchsess oder Helisachar für Euch, missus!« Prompt schlug Karl ihm auf die Schulter. »Der Mond ist unser Zeremonienmeister. Er kümmert sich um vieles, der Gute. Und dieser Rundstein hier mit dem grimmigen Gesicht ist Iburis, mein oberster Kriegsmann und gundfanari14. Man nennt ihn auch Iburisbiss, weil er ein großer Bärenjäger ist, also wenn Ihr einmal Bären jagen wollt, solltet Ihr ihn unbedingt vorher fragen!«

Iburis stand neben dem pickelgesichtigen Spucker, breitbeinig, die Daumen hinter den Waffengürtel gehakt. Sein vollkommen kahler, glänzender Schädel erinnerte Ebo an eine Steinkugel, die er einmal in Ravenna auf einem öffentlichen Platz gesehen hatte. Der Kinnbart war nicht größer als die Spitze eines Schwertes, während der Schnurrbart einem schwarz-grauen Hufeisen glich, das an beiden Mundwinkeln hinunterwuchs. Wie bei so vielen Offizieren drückten seine Züge Tatkraft und Skrupellosigkeit aus. Seltsam wirkte auf Ebo eine wurstartige Kette von getrocknetem Fleisch, die neben dem Schwertgriff aus dem Waffengürtel hing.

Noch einer, auf den es laut Einhard gar nicht ankam?! Die angeblich Unwichtigen hatten Ebo gerade die Demütigung seines Lebens zugefügt!

»Willkommen«, sagte Iburis mit tiefer, kratziger Stimme.

12 Magdeburg

13 Aachen

14 Der Truppenführer des jüngeren Karls.

Arnulf. Der Herr der Elbe

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