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Sie schaut über den dunklen See hinüber zum Hang, wo von der Häuserzeile am Horizont ein lichter Wald zum Ufer abfällt. Die Schatten der Bäume deuten nach Nordwesten, hin zum Gelände, wo die Toten ruhen.

Ins Friedental.

Emma Gamper sitzt im Extrazug nach Luzern. Mit ihrem Mann Gottlieb und einem befreundeten Paar, Heinrich und Rosmarie Tinner, haben sie in einem Viererabteil Platz gefunden. Im gleichen Wagen reisen Arbeitskollegen, die zur Ausflugsgesellschaft gehören.

Mit den Tinners verbringen die Gampers den einen oder anderen Sonntag bei einem Glas Wein im Garten oder sie machen bei schönem Wetter eine Wanderung mit den Kindern im Glarnerland.

Emma betrachtet den nüchternen Raum, mustert die Hüte auf den Ablagen über den schmiedeeisernen Stützen und schmunzelt. Die riechen nach Filz, Fest und Feiertag wie die Röcke und Frisuren der Frauen und die Anzüge, Gilets und Schuhe der Männer. Ihr Blick streift die Holzbänke, deren Farbe abblättert.

Es ist Dienstag, der 11. Juli 1944.

Der Zug verlangsamt die Fahrt. Emma schaut schräg hinunter auf die glatte Fläche. Das Wasser spiegelt die Umrisse des Pilatus.

»Welch märchenhafter Anblick: das Schilf, die Bäume, Wasservögel!«

Das Lächeln überstrahlt die Falten in Emmas Gesicht.

»Im Rotsee zu schwimmen, muss traumhaft sein, da zu rudern – ein Genuss.«

Am anderen Ufer steigen Menschen in ein Boot.

»Schau dort drüben, Godi, das Fährihaus mit dem Schiff, das die Leute über den Göttersee bringt.«

Gottlieb unterbricht das Gespräch mit Heinrich und schaut durchs Fenster. »Der Eindruck täuscht, Emma, was du siehst, ist eine Kloake. Die Abwässer der Umgebung fließen ungefiltert in den See, er hat keine Strömung. Das Leben darin stirbt ab.« Der schmächtige Mann verzieht das Gesicht. »Ich möchte nicht eintauchen in den Morast.«

Heinrich steht auf, zieht das Fenster herunter und beäugt die Gegend. Das metallene Rattern der Räder dringt wuchtig in den Wagen.

»Auf dem Seegrund liegen Handgranaten.«

Der Fahrtwind zerzaust Emmas Haar. Verständnislos schaut sie zu Heinrich. »Handgranaten?«

Rosmarie blickt ungläubig hoch, in ihrer Stimme schwingt ein vorwurfsvoller Unterton mit: »Was erzählst du da, Heiri, machst du Witze?«

Heinrich schüttelt den Kopf. »Vor knapp 30 Jahren explodierte auf der anderen Seeseite ein Munitionsmagazin, in der Nähe der Badeanstalt. Hunderte von Granaten flogen ins Wasser, sie liegen auf dem Seegrund – noch heute.«

Alle lehnen sich vor, um die Uferstelle zu sehen, wo Heinrich hinzeigt. Die Mitfahrenden machen neugierige Gesichter, Köpfe drehen sich, Gespräche werden unterbrochen. Kollegen von der Spedition haben Heinrichs Bemerkung mitbekommen, zwei Frauen aus dem Büro sind aufgestanden, um einen Blick ans gegenüberliegende Ufer zu werfen.

»Woher weißt du das?«, fragt Gottlieb, dessen Mundwinkel unmerklich zucken, als erwarte er eine Geschichte, die ihm zupass kommt.

Heinrich setzt sich wieder.

»Vor fünf Jahren am Schützenfest in Luzern erzählte mir ein Kollege davon, wir waren mit der Sektion der Feldschützen am Eidgenössischen. Beim Mittagessen auf der Allmend haben wir einander kennengelernt und darüber gesprochen.«

Emma runzelt die Stirn. »Kamen bei dem Unglück Menschen zu Schaden?«

»Fünf Personen starben. Es muss mitten im Krieg passiert sein, ich glaube, 1916. Auf dem Friedhof, an dem wir vorüberfahren, soll eine Gedenkstätte stehen, die der Bund finanziert hat. Für die Angehörigen der Opfer sammelte man Geld.«

Es wird still in der Runde, nachdenklich schauen sie zum Fenster hinaus. Gottlieb drängt Heinrich, mehr über den Vorfall zu berichten.

»Es müssen über 1.000 Handgranaten gewesen sein, die eine private Firma für das Militär hergestellt hatte.« Heinrich zündet sich eine Zigarette an; die Aufmerksamkeit im Wagen, die er mit seiner Äußerung ausgelöst hat, ist ihm sichtlich ungewohnt. Für einmal interessiert man sich in seiner Umgebung nicht für Gottliebs prononcierte Meinungen zu Armee und Politik, sondern für ihn.

»Im Gespräch haben wir zufällig herausgefunden«, fährt Heinrich mit ernster Miene fort, »dass der Vater des Schützenkollegen zwei Jahre später zum Bataillon gehörte, das im November 1918 Ordnungsdienst beim Landesstreik in Zürich leistete. Die Soldaten kamen aus dem Luzerner Hinterland. Der Kollege konnte nicht wissen, dass mein Vater unter den Streikenden war – und verprügelt wurde.«

Gottlieb nickt zustimmend und schaut Heinrich eindringlich an. »Beim Generalstreik kam es nicht bloß zu Prügeleien, Heiri, es gab Tote.« Er verschränkt die Arme. »Die Luzerner sind mit Maschinengewehren angerückt. Verletzt und getötet wird man in der Schweiz nicht vom äußeren Feind, der innere ist in den Augen der Obrigkeit gefährlicher, selbst in bitteren Tagen wie …«

»Heute keine Politik!«, unterbricht Emma ihren Mann scharf, sie blickt die beiden Männer streng an. »Ich lasse mir den Tag nicht durch politische Schwarzmalerei verderben!«

Gottlieb linst ins Abteil auf der anderen Seite und raunt: »Es ist leider eine Tatsache, Emma, auch in diesem Krieg, der nicht enden will, sind Schweizer von Schweizern erschossen worden.«

Emma wendet sich missmutig ab und schaut aus dem Fenster. Sie kennt Gottliebs Ärger über militärische Einsätze gegen streikende Arbeiter in der Schweiz. Über umstrittene Todesurteile der Militärjustiz. Im Grunde teilt sie seine Meinung und versteht seine Gefühle. Heute jedoch hat sie keine Lust auf unangenehme Debatten. Sie stellt sich vor, wie Gottlieb und Heinrich sich regelmäßig in der »Krone« zum Jass treffen, nachmittags mit Kollegen, wenn die Frühschicht beendet ist. In welchem Ton reden sie da miteinander?

Emma schätzt Heinrichs bescheidene Art. Er kennt sich nicht nur in der Bergwelt aus, er ist im Betriebsrat der Fabrik aktiv und weiß um die Sorgen der Arbeiter und Angestellten. Das verbindet ihn mit Gottlieb. In der Gewerkschaft ist Heinrich nicht. Er sei nicht der Kämpfertyp und wolle sich nicht exponieren, wehrte er ab, als Gottlieb ihn zum Beitritt in die Sektion aufforderte. Wenn es um Probleme mit Vorgesetzten geht oder bei einem sozialen Engpass, zum Beispiel nach einem Unfall an einem Ofen, setzt sich Heinrich vorbehaltlos für die Betroffenen ein. Emma erinnert sich an das Unglück vor drei Jahren, als ein Arbeiter unter einem stürzenden Pyrithaufen begraben wurde. Die Witwe stand nach dem tödlichen Unfall mit zwei Kindern alleine da. Heinrich setzte alle Hebel in Bewegung, um der Familie zu helfen, mit Erfolg. Die Fabrikherren zeigten sich entgegenkommend, die betriebseigene Pensionskasse entrichtet der Frau eine Rente, worauf sie nicht zwingend Anspruch gehabt hätte. Kürzlich forderte Heinrich mehr Essensgutscheine in der Kantine für die Mitarbeiter, wovon auch sie, Emma, die in der Buchhaltung arbeitet, und natürlich auch Gottlieb im Büro etwas haben.

Für all dies ist Emma Heinrich dankbar. Auch wenn ihr Mann Heinrich manchmal einen politischen Bremsklotz schimpft, erlebt sie den 50-jährigen Zürcher Oberländer als vermittelnden Brückenbauer. Es ist, findet Emma, neben ihrer Freundschaft mit Rosmarie zu einem schönen Teil Heinrichs Verdienst, dass sie, die Gampers und Tinners, in der Freizeit zu einem freundschaftlichen Quartett, einem eigentlichen Kleeblatt wurden. Rosmarie sagt jeweils lachend und augenzwinkernd: »Ein Vierblättriges«, wenn die Frauen gegen die Männer beim Jassen einen stolzen Weis ankündigen. Fliegen zwischen den Männern die Fetzen oder ziehen, weil sie sich in der Einschätzung der politischen Lage nicht einig sind, dunkle Wolken auf, erinnert Emma die anderen mit einem Kleeblatt, das sie aus einer Jacke oder Blusentasche hervorzieht, an künftige Tage, die besser würden. Nach dem Krieg.

Nach dem empörten Einwurf und dem warnenden Hinweis auf den feierlichen Anlass der Reise bleibt es still. Emma zieht die Fahrkarte aus der Rocktasche, die der Abteilungsleiter ihr gestern in die Hand gedrückt hat. Das Spezialbillet sei einen Tag lang gültig, für Hin- und Rückfahrt, hat er ihr erklärt. Wolle man später heimkehren, könne man nach 18 Uhr auch einen regulären Zug zurück nach Zürich wählen.

Emma schaut Rosmarie und die Männer fragend an. »Ich will den Besuch der Leuchtenstadt Luzern genießen, länger, als es das Programm vorsieht – seid ihr am Abend dabei?«

Heinrich und Gottlieb brummen etwas vor sich hin, man habe anderntags Spätschicht, was die Frauen als Einverständnis deuten.

Rosmarie nickt. »Werden wir Zeit haben, den Gletschergarten zu besuchen?«

Vom Ende einer Rütlifahrt

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