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Am Friedental vorbei scheppert die Bahn über die Reussbrücke, wo der Blick frei wird auf Luzerns Wohnquartier südländischer Bauarbeiter.

Nachdenklich schaut Otto Wigger auf das Treiben an der Baselstraße. Menschen drängen am Kreuzstutz in das elektrische Tram, Velofahrer zirkeln über die Gleise. Der Verkehrspolizist mit weißen Armstulpen lenkt Fußgänger und Fahrzeuge gestikulierend aneinander vorbei. Die Frau mit langem Rock weicht mitten auf der Straße dem Mann mit Schubkarren aus, der von der Bernstraße her quer über den Platz zur Sankt-Karli-Brücke steuert.

Heimatliche Gefühle überkommen Otto. Der Blick schweift rechts den Felshang hoch, hinauf zu den Arbeiterhäusern, von dort hinüber zum Schlosshotel mit den Türmen und Erkern, wo jetzt, wie er gelesen hat, Flüchtlinge und Kriegsgefangene hausen.

Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Entlebuchers, als er auf der anderen Seite der Reuss das schnörkellose Kirchengebäude am Fenster vorbeiziehen sieht. »Schau, dort, Hans, der Turm am Fluss, die Sankt-Karli-Kirche. Sie ist erst zehn Jahre alt und weniger pompös als die anderen Kirchen in Luzern, ein moderner Betonbau. Der Bischof hat dem Architekten vorgeworfen, das Gotteshaus sei im Inneren zu demokratisch eingerichtet. Zu demokratisch! Ich will mir das ansehen, wenn wir heute Abend von der Schifffahrt zurückkehren.«

Hans Brennwald guckt dem Kollegen über die Schulter. »Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich. Auch wenn ich mit der Kirche nichts mehr am Hut habe, schon gar nicht mit der katholischen. Was immer der Kirchenfürst damit meinte – das macht mich neugierig.« Er zieht an der Toscani, bläst den Rauch zur Decke hoch und schürzt die Lippen. »Die Reise ist ein Feiertag – nicht nur für das frischgebackene Ehepaar Krütli.«

Otto schaut Hans fragend an.

»In drei Tagen ist mein Dienstjubiläum.« Hans zieht die Augenbrauen hoch, bevor er in ernstem Ton fortfährt. »Meine Tage und Nächte an den Pyrit­öfen und Bleikammern sind gezählt. Oberholzer hat versprochen, mir eine andere Arbeit zu geben, vielleicht im Düngerbereich, wo ich der Hitze weniger ausgesetzt bin und den Rücken schonen kann.« Er macht eine Grimasse, das Gesicht schmerzerfüllt, beugt den Oberkörper nach vorn, den Blick nach unten, wie beim Tragen der Säcke mit der schweren Last.

Otto beobachtet die Gebärde des Kollegen, runzelt die Stirn. Er kennt die glühende Hitze an den Öfen aus eigener Erfahrung, die Risiken in den Produktionshallen sind ihm vertraut, auch jene auf dem Fabrikgelände. Er klopft dem schmächtigen Kollegen auf die Schulter. »Vom Abfüllen der Säcke wirst du nicht befreit, Hans. Das Unterhauen der Haufen bleibt im Düngerbereich gefährlich, auch mit dem neuen Gabelstapler.«

»Ich weiß.« Hans nickt. »Sicher gibt es leichtere Arbeiten, vielleicht im Rangierbereich. Ich kann mich umschulen lassen, um eine Werklokomotive zu führen.«

Otto wippt mit dem Kopf hin und her. Im Gesicht sind die Jahre, die er in der Fabrik gearbeitet hat, in Furchen gebrannt, die Stimme ist ernst, die Augen wirken müde. 32 Jahre hat er in verschiedenen Werkbereichen geschuftet, immer zur Zufriedenheit der Vorgesetzten. Momentan hilft er im Düngerbau, wo mehr Aufträge hereinkommen. Im Umfeld schätzt man seine entschlossene Art zuzupacken, die sicheren Handgriffe an den Maschinen. Wenn es etwas von Hand zu transportieren gibt, ist seine Hilfe gefragt. Er weiß: Sein Wort hat Gewicht, unter Kollegen wie bei Vorgesetzten. Nur einmal hat Otto seiner Wut in der Fabrik freien Lauf gelassen, vor zwei Jahren, als man ihn zunächst bei einer Jubiläumsgabe übersehen hatte. Der verantwortliche Leiter hat sich bei ihm entschuldigt. Das Geschenk, eine festliche Uhr, trägt Otto seither am Sonntag. Damit war die Sache für beide erledigt. Nächstes Jahr wird Otto 55, an eine Pensionierung ist noch lange nicht zu denken. Er würde auch sich eine andere Arbeit gönnen.

»Braucht die Fabrik neue Lokführer?«

»Ich weiß es nicht, jedenfalls brauche ich einen neuen Arbeitsplatz.« Hans blickt Otto entschlossen an. »Wir werden die Schicht, wenn es klappt, aufeinander abstimmen.«

Otto überlegt. »Wann bist du in die Fabrik eingetreten?«

»Vor 25 Jahren. Vater und Großvater waren noch mit im Betrieb.«

Es wird dunkel, ein fahles elektrisches Licht geht an.

Hans nimmt die Brille ab, putzt die Gläser mit dem Taschentuch. »Der Vater hat es zum Fabri­kationsleiter gebracht. Seit er vor einem Jahr in Rente ging, steht er tagein, tagaus in Wigets Rebberg. Er kennt den Weinbau wie kein anderer und erzählt Geschichten, die man in der Fa­brik ungern hört.«

»Welche denn?«

»Er berichtet von Verbrennungen an den Reben. Beklagt Schäden, die vom Schwefelgas der Fabrik kämen.«

Otto schaut Hans skeptisch an. »Woher weiß er das?«

»Die meisten Bauern in der Umgebung schimpfen. Die Ernte ist in den letzten Jahren kleiner geworden.« Hans zuckt mit den Schultern. »Einen stichfesten Beweis haben sie nicht, die Schäden können mit dem schlechten Wetter zusammenhängen.« Er hält inne. »Allerdings, die rotbraunen Spuren an den Rosskastanien, die du in der Badeanstalt findest, deuten auf die gleiche Ursache.«

Otto rümpft die Nase. »Man sollte dem nachgehen.« Er hält inne. »Vor allem müsste man, wo wir arbeiten, für mehr Sicherheit sorgen.«

Hans nickt. »Mein Großvater zog sich am Ofen Verbrennungen zu, er ist daran gestorben.«

Otto macht ein verdutztes Gesicht. »Dein Großvater? Weiß Gamper davon?«

»Ja, und der Gewerkschaft ist auch bekannt, dass sich vor 20 Jahren zwei Kollegen beim Ausräumen des Salpetersäure-Ofens vergiftet haben, einer mit tödlichen Folgen.«

»Das höre ich zum ersten Mal.«

»Man hat es nicht an die große Glocke gehängt, der Zusammenhang mit der Vergiftung wurde bestritten. Man wollte, dass man die Sache im Nachhinein abklärte – vergeblich.«

»Hat deine Großmutter, als ihr Mann starb, eine Abfindung bekommen?«

»Bis zu ihrem Tod bezog sie eine kleine Rente von der Witwen- und Waisenkasse der Fabrik. Zusammen mit dem, was die Putzarbeiten in den Herrschaftshäusern am See einbrachten, reichte es zum Überleben.«

Vom Ende einer Rütlifahrt

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