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Luzerns Nobelherbergen ziehen wie imposante Grautiere vorüber, still vor sich hin dösend, von der Welt vergessen. Der Nationalkai sieht verlassen aus, die Promenade ohne Touristen, keine Schwimmer ums Seebad, Carl Spittelers Denkmal einsam.

Den Blick auf die triste Kulisse gerichtet, sitzen Gottlieb und Heinrich auf der Bank der Seitengalerie des Schiffes. Ein Horn gellt, die Schaufeln des Dampfers schlagen tosend ins Wasser.

»Es muss vor einem Monat an einem versteckten Ort im Säuliamt passiert sein. Sie haben geschrien und getobt, bevor sie erschossen wurden.« Gottliebs Stimme zittert, während sein glasiger Blick über die leere Uferpromenade gleitet. Unweit von ihnen stehen Fabrikkollegen und Pensionäre dicht gedrängt am Schiffsgeländer. Es wird gelacht und geschwatzt, einige stoßen mit Weingläsern an.

Heinrich schweigt.

Die Silhouette der Stadt rückt weiter weg.

Gottlieb nimmt einen zweiten Anlauf, Heinrichs Aufmerksamkeit zu erzwingen. Es konnte, es durfte nicht sein, dass Heinrich die kürzlich vollzogene eidgenössische Todesstrafe kaltlässt.

»Der Zuger hat mir gesagt, er begehe Landesverrat, wenn er mehr sage. Ich könne mir selber ausdenken, was das für ihn bedeute. Als ich ihn fragte, ob scharfe Munition im Gewehr war und ob er bei der Hinrichtung danebengezielt habe, zuckte er bloß mit den Schultern.«

Heinrich presst die Lippen zusammen. »Immerhin haben die zwei Kerle militärische Informationen an deutsche Agenten verkauft. Ich nehme an, wichtige, die uns schaden.«

»Da bin ich mir nicht sicher. Es waren politische Naivlinge im Säuliamt, wo man sie erschoss, keine Nazis wie jene, die vor zwei Jahren in Kriens hingerichtet wurden. Für den europäischen Kriegsverlauf spielt der Verrat keine Rolle. Ein paar Angaben zum Reduit oder zur Mobilmachung – das ist kein Schwerverbrechen. Die Deutschen haben an anderen Fronten alle Hände voll zu tun, sie wissen längst, wie wir uns im Ernstfall verteidigen.« Gottlieb unterbricht den Redefluss, bevor er nach kurzem Überlegen hinzufügt:

»Es gibt Leute in der Schweiz, die schaden unserer Unabhängigkeit weit mehr.«

Heinrich schlägt die Beine übereinander, er sieht Gottlieb skeptisch an. »Wovon sprichst du?«

Gottlieb schaut um sich. »Hast du vorhin das prächtige Hotel am Luzerner Kai beachtet, den ›Schweizerhof‹? Das Haus ist nicht nur beliebt bei betuchten Touristen, es ist seit Kriegsausbruch eine wichtige militärische Drehscheibe – für all das, was im Land passiert.« Er beobachtet, wie Heinrich sein Erstaunen verbirgt.

»Wir helfen dem Feind mit Export und Transport von Kriegsmaterial, wir lassen es zu, dass dieses durch die Schweiz fährt.« Die Sätze schießen schnell und gepresst aus Gottlieb heraus. »Selbst wir von der Fabrik haben nach Deutschland und Italien Ware für Kriegszwecke geliefert, bis vor Kurzem. Das hat den Alliierten kaum gefallen. Im Handel mit Gold drückt die Obrigkeit zudem alle Augen zu. Für Geld machen auch wir, was wir nicht tun sollten.«

»Dafür haben wir Arbeit, Godi, auch du. Und wir sitzen jetzt bei Sonnenschein auf diesem prächtigen Schiff, weil die Fabrik uns eingeladen hat.«

Heinrichs Blick gleitet zum Felssporn am Ufer, wo der steinerne Christus die Arme ausbreitet, die Reisenden willkommen heißt. Nachdenklich schaut Heinrich zum Schloss oberhalb der Landzunge, die den Luzerner See vom Küssnachter Becken trennt.

»Ich möchte nicht in der Haut unserer höchsten Politiker stecken. Hitlers Regime ist grausam. Wer dem Diktator und den Nazis hilft, verdient kein Pardon. Der nimmt Partei für eine gefährliche Bedrohung. Es braucht Mut, Zeichen zu setzen, die klarmachen: Es geht im Krieg um Leben und Tod. Um nichts anderes. Letztlich wissen wir nicht, ob ein Verrat tatsächlich eine Lappalie ist.« Heinrichs Stimme wird energisch. »Das Reduit ist unsere letzte Zuflucht. Informationen darüber gehören nicht in die Hände des Todfeindes.« Er gibt den Worten einen abschließenden Ton.

»Verdirb mir und dir den Tag nicht, Godi.«

Gottlieb schweigt. Den Kopf hin und her bewegend, schaut er Heinrich an. »Ich weiß, Heiri, auch ich will nicht arbeitslos werden. Ich bin froh um die Stelle in der Fabrik, selbst wenn die Krütlis die Gewerkschaft ablehnen. In einem Punkt stimme ich dir zu: Hitler und seine Schergen sind unsere Todfeinde. Nur, was rund um uns herum geschieht, kann uns nicht gleichgültig sein.«

Heinrich schüttelt verärgert den Kopf.

»Ist es mir nicht, Godi. Ich habe dazu bloß eine andere Meinung: kein Mitleid mit Landesverrätern.«

»Brauchst du auch nicht, die beiden sind seit einem Monat unter der Erde. Betroffen und geschädigt sind die Nachkommen, sofern sie Kinder hatten. Hart ist es jedenfalls für die Familie, die Eltern und Geschwister.«

Gottlieb schaut nach vorn zum Bug. Das Schiff erreicht den Trichter, jene Stelle, wo der Vierwaldstättersee mit seinen Armen ein Kreuz bildet. Unweit von ihnen gleitet die »Zwing Uri« an der »Schiller« vorüber. Der mit Kies beladene Nauen tuckert gegen Alpnach.

»Hier geht’s 200 Meter in die Tiefe zum Seegrund.« Heinrich deutet auf das Wasser, bemüht, dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. »Da unten ist tiefste Dunkelheit, da siehst du die eigene Hand nicht vor dem Gesicht.«

Gottlieb setzt ein schiefes Lächeln auf. »Stimmt, die Granaten und Patronen aus dem Ersten Weltkrieg lagern hier tiefer als jene im Rotsee. – Weißt du, Heiri, dass die beiden zum Tod Verurteilten in Bern darum baten, begnadigt zu werden?«

Heinrich verzieht den Mund und schüttelt den Kopf.

»Fast die Hälfte des Parlaments beurteilte das Vergehen weniger schwer als der Bundesrat. Hätten neun der über 200 National- und Ständeräte anders gestimmt, wäre der Schweizer noch am Leben.«

»Der Schweizer?«

»Der andere war Liechtensteiner, er hatte keine Chance.«

»Wäre, hätte … es ist, wie es ist, Godi. Lassen wir die Toten ruhen.«

Heinrich steht auf.

»Ich will mir das Herzstück ansehen, Sulzers Schiffsmaschine und Dampfkessel, echte Zürcher Qualität, sie treibt uns voran. Kommst du mit?«

Vom Ende einer Rütlifahrt

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