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1.1 Begriffsgeschichtliche Aspekte

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Biblische Wurzeln

Nicht erst die jüngere Entwicklung des Spiritualitätsbegriffs zeichnet sich durch starke semantische Verschiebungen und aufschlussreiche Überlagerungen aus: Schon seine Geschichte verläuft eigentümlich und verrät etwas darüber, wie sich das religiöse Koordinatensystem Europas im Laufe der Jahrhunderte verschiebt. ,Spiritualitas‘ tritt in drei Hauptbedeutungen auf: Neben der pneumatologischen Grundbedeutung des Wortes, die selber markanten Umakzentuierungen ausgesetzt ist, kommt im Mittelalter auch eine philosophische und eine juristische Gebrauchsweise auf, wobei deutliche Interferenzen festzustellen sind. Die biblische Vorgeschichte des Ausdrucks führt in das corpus paulinum, in welchem dem Adjektiv pneumatikos eine begriffliche Schlüsselstellung zukommt. ,Pneumatisch‘ sind nach dem Apostel Christen, in denen das heilige Pneuma des erhöhten Christus als endzeitliche Gabe einwohnt und die sich von dieser pneumatischen Wirkkraft bestimmen lassen (Röm 8). Alle anderen bezeichnet Paulus in einem scharfen Kontrast als vom ,Fleisch‘ bestimmte Menschen (sarkikoi), wobei er damit nicht einen anthropologischen Dualismus markiert, sondern in prophetischer Tradition (Jer 17,5ff.) und im Horizont des Ostergeschehens die eschatologische Neubestimmung des Lebens bezeichnet.

,spiritualitas‘ als begriffliche Innovation

Bereits im frühesten bekannten Beleg für ,spiritualitas‘, der aus dem 5. Jahrhundert stammt, ist die Distanz zu den paulinischen Wurzeln schon deutlich spürbar. Es ist nicht ohne Ironie für die abendländische Spiritualitätsgeschichte, dass er sich in einem Brief findet, der vermutlich von Pelagius stammt. Der Adressat, ein neugetaufter Christ, wird darin ermahnt, eifrig in der Heiligen Schrift zu lesen und nach ihren Geboten zu leben, um so in der ,Spiritualität‘ fortzuschreiten (ut in spiritualitate proficias; PL 30,114f.). Wenn Pelagius dem Neugetauften zudem nahe legt, in der verbleibenden Lebenszeit im Geiste (in spiritu) zu säen, um so die Ernte an geistigen Gütern (in spiritualibus) einzubringen, zeigt sich eine deutliche Abweichung vom neutestamentlichen Sprachgebrauch: Während es nach Paulus das heilige Pneuma ist, das sät und in dem von ihm bewohnten Leben vielfältige Frucht hervorbringt, spricht Pelagius nicht vom Pneuma als eschatologischer Gabe oder göttliche Lebenskraft, sondern nähert sich der späteren Gleichsetzung von spiritualitas mit incorporalitas an.

Scholastische und volkssprachliche Rezeption

Die begriffliche Innovation des Pelagius bleibt vorerst Episode. Erst im 12. Jahrhundert, im Umfeld der aufkommenden Scholastik, bürgert sich die Rede von der ,spiritualitas‘ als ontologisch-anthropologischer Kontrastbegriff zu ,corporalitas‘ ein. Die Oszillation zwischen der pneumatologisch-eschatologischen Bedeutung, die dem Begriff von seiner neutestamentlichen Herkunft anhaftet, und der anthropologisch-philosophischen Gebrauchsweise gehört nach Bernard McGinn „zu den am wenigsten glücklichsten Folgen der Scholastik“ (137: 339). In der gleichen Zeit wird die Metapher von den ,geistlichen Gütern‘ ins Rechtliche übertragen: ,Spiritualitas‘ ist forthin auch der Überbegriff für den Bereich der kirchlichen Rechtssprechung. Es ist diese Bedeutung, die die Volkssprachen aufnehmen: Als ,espiritualité‘ taucht der Begriff im 13. Jahrhundert erstmals im Französischen auf (Leclercq/90:292). In der gleichen, juristisch orientierten Sinnrichtung ist die Rede von der ,Geistlichkeit‘ zu verstehen, die sich spätmittelalterlich im Deutschen als Bezeichnung für den Klerus einbürgert und sich in katholischen Gegenden bis heute gehalten hat.

,nouvelle spiritualité‘

Es ist bemerkenswert, dass trotz der damit entstandenen Dominanz des rechtlichen und philosophischen Gebrauchs der französische Terminus ,spiritualité‘ im 17. Jahrhundert wieder eine stärker theologische Färbung bekommt. Der Begriff, der mit positiven oder negativen Akzenten versehen werden konnte, steht nun für eine neue Form spiritueller Praxis. Die pejorative Verwendung ist dabei die dominante: Der Jesuit Maximilian Sandaeus unterscheidet beispielsweise in seiner 1640 in Köln erscheinenden Rechtfertigung der mystischen Theologie die reine Kontemplation von einer imaginativ überwucherten ,spiritualité‘. Ein halbes Jahrhundert später bezeichnet Bossuet die von ihm bekämpfte mystische Strömung als ,nouvelle spiritualité‘. Diderot erläutert hingegen in seiner Enzyklopädie den Begriff in einem überschwänglich positiven Sinne (Solignac/99:1149). Die Spuren seiner französischen Neuprägung im 17. Jahrhundert bleiben dem Spiritualitätsbegriff für die kommenden Jahrhunderte eingeschrieben. Wenn sich auch der Verdacht des Quietismus, der vorübergehend seine Verbreitung blockiert, lange anhält, setzt sich im 20. Jahrhundert die positive Bedeutung durch. Die folgenreiche Konfusion zwischen einem pneumatologisch und einem philosophisch-anthropologisch akzentuierten Spiritualitätsverständnis bleibt dem Wort allerdings als Altlast eingezeichnet. Bezeichnend dafür ist die programmatische Definition, mit der Etienne Gilson 1943 das Forschungsgebiet der Theologie der Spiritualität festlegt. Von einem spirituellen Leben könne geredet werden, insofern es um einen Vollzug gehe, der den körperlichen Bereich übersteige und sich allein im reinen Denken zeige (126:12).

,Spirituality‘ als transreligiöser Begriff

Parallel zu dieser Entwicklung, die sich weitgehend auf die katholische Welt beschränkt, bildet sich im angelsächsischen Raum ein Verständnis von ,spirituality‘ aus, das durch eine transreligiöse Färbung gekennzeichnet ist. Diese Begriffsverwendung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals bei amerikanischen Spiritualisten und Unitariern aufkommt, wird dadurch populär, dass sie von Helena Petrovna Blavatsky, der Vorreiterin der modernen Esoterik, und Swami Vivekânanda aufgenommen wird. In seiner 1893 auf dem ersten World’s Parliament of Religions in Chicago gehaltenen Rede kritisiert Vivekânanda den materialistisch geprägten Westen und preist Indien als „the land of toleration and of spirituality“ (410:387). Nicht allein die darin angelegte Verbindung mit der Toleranzidee war es, die dem Spiritualitätsbegriff sein modernes Gepräge gab, sondern ebenso die damit einhergehende Betonung von ,unmittelbarem‘ religiösem Erleben anstelle von Ritual, Institution und Reflexion. Spiritualität und Religion geraten so in das eingangs beschriebene kontrastive Verhältnis. Breitenwirksam wurde das transreligiöse Verständnis von Spiritualität allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Vordenker des New Age. Marilyn Ferguson plädiert in ihrem 1980 erscheinenden Kultbuch The Aquarian Conspiracy für eine Transformation der traditionellen Religionen in eine universalistische Spiritualität, die den Fortschritt der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis zu integrieren und den religiösen Glauben durch ein unmittelbares ,mystisches‘ Erfahrungswissen zu ersetzen vermöge. Spiritualität steht in diesem Zusammenhang für einen „Geist-Monismus“ (105:16), der in einer eigentümlichen Synthese von prämodernen Korrespondenzvorstellungen, modernem Fortschrittsdenken, spätmoderner Kosmologie und postmoderner Mythenfreundlichkeit ein Gefühl lebensweltlicher Geborgenheit und weltanschaulicher Orientierung vermittelt.

,Spiritualität‘ als Antwort auf ein veräußerlichtes Christentum

Aus theologischer Sicht springt der markante Gegensatz zwischen der christlichen und der esoterischen Besetzung des Spiritualitätsbegriffs ins Auge, auch wenn diese Differenz oft durch einen vagen Rekurs auf die ,mystischen‘ Traditionen des Christentums überspielt wird. Dass es im großen Strom christlicher Spiritualität vielfältige gnostische, hermetische, neuplatonische, spiritualistische und theosophische Unterströmungen gegeben hat, die von den Kirchenleitungen und der Schultheologie meist mit großem Argwohn betrachtet wurden, ist allerdings nicht zu bestreiten. Der Kontrast zwischen einer veräußerlichten Religiosität und einer ,spirituellen‘ Verinnerlichung, der in der neospirituellen Kritik kirchlicher Religiosität heute in Anspruch genommen wird, gehört zudem zur Konstitutionsgeschichte jüdisch-christlicher Religion (Am 5,21 f.; Mt 6,5f.). Auch die reformatorischen Erneuerungsbewegungen traten im Namen einer schlichten und verinnerlichten Glaubenspraxis gegen ein veräußerlichtes Christentum auf. Kennzeichnend für die protestantische Entwicklung ist, dass sich der religiös motivierte Aufstand gegen eine amtskirchliche oder volksfromme Werkgerechtigkeit innerhalb der reformatorischen Kirchen selber mehrfach wiederholte und so unterschiedliche Bewegungen wie die Quäker, den Pietismus oder Emmanuel Swedenborgs ,Neue Kirche‘ hervorbrachte. Dass die reformatorische Theologie bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts davor zurückschreckte, sich den Spiritualitätsbegriff positiv anzueignen, und bis heute teilweise die von Luther in die deutsche Sprache eingeführte Rede von Frömmigkeit vorzieht (Axmacher/80; Bobert/118), darf den reformatorischen Einfluss auf den heutigen Gebrauch des Spiritualitätsbegriffs nicht verdecken.

Theologische Aufgabenstellung

Die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion macht deutlich, dass die Mehrsinnigkeit heutiger Rede von Spiritualität und die Tendenz zur Abgrenzung von einer kirchlich gebundenen Religionsform weit zurückliegende Ursprünge besitzen. Das sachliche Problem ist mit dieser Einsicht allerdings noch nicht gelöst. Eine theologisch reflektierte Rede von Spiritualität steht vor der Aufgabe, den Begriff in einer klaren theologischen Bestimmtheit zu gebrauchen, ohne dabei die interdisziplinäre Kommunikabilität zu verlieren. Der folgende Abschnitt erkundet einige Möglichkeiten, diese Aufgabe anzugehen.

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