Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 28

Timor

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Wenn ich gewusst hätte, was ich geahnt hatte, wären meine Gedanken, meine Entschlüsse womöglich anders ausgefallen. Aber ein Fazit, Schlussfolgerungen, Bilanzen, das liegt nun einmal in ihrer Natur, kann man erst am Ende ziehen. Und so sind die Dinge, die geschehen sind, die geschehen und noch geschehen werden, eben jene Dinge, die ihren Lauf nehmen, weil sie aus einer Perspektive wahrgenommen werden, die zunächst einmal bei oberflächlicher Betrachtung die Gegenwart betrifft, denn das Hier und Jetzt scheint doch alles entscheidend. Bei genauerem Hinsehen sind die Erfahrungen aus der Vergangenheit aber genauso beteiligt wie die Furcht der Zukunft, und so nehmen die Dinge ihren Lauf, immer gesteuert aus gleich drei Koordinaten, denen des Gewesenen, denen des gegenwärtigen Augenblicks und denen des womöglichen Vielleicht.

Ich werde jetzt meine Perspektive ändern, hier und jetzt. Ich werde meine Ansicht ändern, hin zum morgen und dort. Ich werde von dieser mal kargen, mal üppig überwucherten Berginsel in weiser oder auch einfältiger Voraussicht in die Zukunft reisen, die zugleich auch meine Vergangenheit ist, heim ins geliebte Vicenza, wo ich in die Welt hineingeboren wurde und von wo ich dieses Erdenreich wieder verlassen werde. Ich erzähle diese Dinge, die erst noch geschehen werden, aus der gegenwärtigen Situation, was dem geneigten Zuhörer vielleicht erscheinen mag, als befinde er sich in der Mitte einer Geschichte, deren Ende er nunmehr absehen kann, auch wenn diese Geschichte mitunter andere Wendungen nimmt als vom Zuhörer ersehnt und erwartet.

Am 11. Februar würden wir uns mit der Victoria auf die Reise durch den Indischen Ozean begeben, unter Wetterkapriolen, die wir befürchtet, jedoch in dieser Form und mit dieser Härte nicht erwartet hatten. Erst nach drei Monaten würden wir das Kap der Guten Hoffnung umschiffen, am 19. Mai, mit Kurs auf die Kapverdischen Inseln, die wir am 9. Juli erreichten. Nach einem weiteren Halbjahr auf See hätten wir unseren Vormast verloren, und, aus Sicht eines Christenmenschen weit arger, weitere einundzwanzig Mann unserer ohnehin schon dürftigen Besatzung. Als sei dies nicht allein Pein und Tragödie genug, würden die Portugiesen voller Missgunst danach trachten, die letzte Etappe unserer Reise zu vereiteln und dreizehn Matrosen unserer Nao gefangennehmen. Elcano verließe daraufhin den Hafen von Santiago Maior vor dem Eintreffen der portugiesischen Flotte, ohne sich um eine Rettungsaktion oder den schlechten Zustand seines Schiffes zu kümmern, wohl auch aus Sorge um die kostbare Fracht an Bord. Am 6. September würden wir Sanlúcar erreichen, jenen spanischen Hafen, an dem die Expedition, die ja eigentlich eine Navigation war, ihren Ausgangspunkt genommen hatte. An diesem Spätsommertag würden nur noch achtzehn Männer an Bord sein, von einst zweihundertsiebenunddreißig, und die Umsegelung der Welt würde nach zwei Jahren, elf Monaten und zwei Wochen beendet sein.

Und so wie ich es hier und jetzt sehe, würde die einzig siegreiche Victoria sechsundzwanzig Tonnen Gewürze nach Spanien bringen, was einen Reingewinn von fünfhundert Golddukaten bedeutete, nach Abzug aller Posten für die Verluste des Geschwaders.

Und noch etwas sehr Seltsames würde geschehen: Beim Abgleich der Aufzeichnungen im Schiffstagebuch schien ein ganzer Tag verlustig gegangen zu sein, was alle, auch die Mannschaften, einerseits amüsieren würde, andererseits zum Rätseln ermuntern. Es würde sich die Dringlichkeit zur Einführung einer Datumsgrenze erweisen, was einer Revolution im Denken über Zeit und Raum gleichkäme. Elcano, der vor Kaiser Karl Rechenschaft ablegen würde, dürfte sich über seine Erhebung in den Ritterstand gefreut haben werden. Viele edle wagemutige Seefahrer würden ihm nacheifern, tüchtige Leute aus mächtigen Nationen, die erst in Zukunft an Größe gewinnen oder erst in ferner Zeit als Nation erweckt würden: Engländer, Franzosen, Niederländer.

Was Fernão betrifft, so muss ich abermals die Perspektive meiner Betrachtungen wechseln. Zu Lebzeiten war uns der Mann aus Trás-os-Montes bekannt als eine zielstrebiger, pflichtbewusster Krieger und hartgesottener frommer Pilger im Auftrag des Herrn. Aber Fernão war auch ein brillanter Beherrscher der nautischen Wissenschaften und ein Edelmann des Geistes und der Seele. Er war uneigennützig, voll der Liebe zum Leben, auch jenem der anderen, was ihn nicht vor Torheiten schützte oder vor der Vollstreckung einer gesunden Rache an den Gesetzesbrechern, wie die Hinrichtungen nach der Meuterei an Bord des Geschwaders eindrucksvoll bewiesen. Der Kapitän des Schiffes war auch ein Kapitän des Glaubens, der Respekt gegenüber der einheimische Bevölkerung ferner Eilande zeigte. Dennoch starb er durch die Gewalt, die er eigentlich wenn möglich immer hatte vermeiden wollen. Grausamkeiten waren ihm fremd, eine seltene und seltsame Tugend in unserer Zeit, über die ich nicht abschließend zu urteilen vermag. Wenn erforderlich, dann wusste sich Fernão gegen alle Widerstände durchzusetzen, sei es bei der Niederschlagung einer Rebellion, beim Einhalten des Kurses oder bei der Wahrung der Interessen des christlichen Abendlandes und denen seines Auftraggebers. Und Fernão war, anders als viele seiner Landsleute und viele Spanier, durchaus an fremden Kulturen interessiert. Er wird der Welt letztlich als einer der größten Entdecker in der Geschichte der Menschheit in Erinnerung bleiben, Plätze werden nach ihm benannt werden und Straßen, solche an Land und solche auf dem Wasser, Denkmale werden an ihn erinnern, auch am Ort seines Märtyrertums, und sein Wagemut wird allen tüchtigen Menschen in diesem Erdkreis ein leuchtende Vorbild sein, ein Stern am Himmel, nein, eine ganze Wolke an Gestirnen, heller leuchtend als der Morgenstern, so wird es sein, und dafür stehe ich ein, hier und jetzt auf dieser Insel und allerorten, wo mein Leib und meine Seele noch wandern werden, von jetzt an bis in die Unendlichkeit, und dafür will ich mich verbürgen.

Torres del Paine

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