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Situationen im Roman darstellen oder durchspielen Warum Sie Ihren Mann als Leiche im Wohnzimmer drapieren sollten

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Da steht die Heldin Ihres Romans endlich, frisch aus den Zeilen gepellt, klug, schön, mit einem eisernen Willen und glorreichen Zielen ausgestattet und so vollgepackt mit inneren Konflikten, dass sie kaum noch denken kann.

Na, dann kann der Roman ja mal losgehen. Bestimmt wird der gut, ein Bestseller, mindestens.

Aber da fehlt doch was.

Sie meinen, andere Personen? Ebenso klug und mit Zielen und inneren Konflikten beladen wie ein Sherpa mit Bergausrüstung und frischer Yakbutter? Kein Problem.

Da fehlt noch immer was.

Oh, klar, die Leute im Roman müssen was tun. Kein Problem, ein Plot ist schnell ausgedacht, windschnittig wie ein mit Vaseline eingeschmierter Ferrari. Was denn, noch immer nicht genug? Verraten Sie es mir jetzt endlich, Sie Klugscheibenkleisterer?

Ruhig bleiben. Hier kommt’s:

Die Charaktere müssen nicht nur »was« tun. Sie müssen miteinander und noch besser gegeneinander agieren. Charaktere sind erst dann vollständig entwickelt, wenn Sie Beziehungen zu anderen eingehen.

Menschen allein mögen ganz interessant sein. Aber Geschichten ergeben sich fast immer erst, wenn mehrere Menschen in Beziehung treten. Erst dann ergeben sich Konflikte.

Selbst der innere Konflikt eines Charakters ist ein Beziehungskonflikt: Ein Teil von ihm will die Welt retten, der andere lieber daheimbleiben und mit seinem Sohn die neue Wii-Konsole ausprobieren.

Und wenn die Welt sich den Zielen widersetzt, mit Erdbeben, Feuersbrünsten und einer verbrannten Pizza? Auch die Welt, die Umstände, das Schicksal sind letztlich nichts anderes als besondere Charaktere.

Sie brauchen einen Beweis, dass Beziehungen interessanter sind als ein einzelner Charakter? Fragen wir mal die drei alten Frauen, die dort drüben neben dem Brunnen auf der Bank sitzen und schwätzen. Ob sie wohl über den Charakter eines Nachbarn diskutieren? Oder doch eher über die Affäre des Nachbarn mit der Dorfpolizistin?

Die interessantesten Charaktere kämpfen mit ihren inneren Dämonen. Auch das ist, siehe oben, ein Beziehungskonflikt. Ein Kampf ist im Grunde eine Form einer Beziehung. Und wenn innere Dämonen keine eigenständigen Charaktere sind, was dann?

Wir gehen noch ein Stück weiter, weg von Zweipersonenstücken. Die haben’s leicht: eine Beziehung, und das war’s.

Kaum aber setzten Sie in Ihrem kleinen Terrarium Roman drei Charaktere aus, haben Sie es schon mit vier Beziehungen zu tun – und mit noch mehr potenziellen Konflikten.

Beispiel:

Ihre Figuren heißen Albert, Barbara, Christine. Da hätten Sie die Beziehung zwischen Albert und Barbara, die zwischen Albert und Christine, die zwischen Barbara und Christine und die zwischen Albert, Barbara und Christine, wenn mal alle drei zusammen sind.

Also vier mögliche Konflikte!

Nein. Sogar mehr: Was, wenn sich Albert und Barbara gegen Christine verschwören? Sich Christine und Barbara zusammentun, um Albert eins auszuwischen? Oder Albert und Christine die widerliche Barbara ein für alle Mal aus ihrem Leben und dem Terrarium verbannt sehen möchten?

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben drei Hauptfiguren, zehn Nebenfiguren und dreißig weitere Personen in Ihrem Roman. Nicht mal besonders viele. Aber wie viele mögliche Beziehungen ergeben sich da, und wie viele potenzielle Konflikte!

Das war die gute Nachricht.

Die bessere, die jedoch noch mehr Arbeit macht: Jeder Mensch ist in jeder Beziehung anders. Bei Ihrem Partner sind Sie die Kuschelmaus, bei Ihren Angestellten die harte Chefin, bei Ihren Eltern Ihr Leben lang »unsere kleine Gabi«. Im Sportverein sind Sie der Scherzkeks, beim Klassentreffen die, die alles durcheinander säuft und trotzdem stehen bleibt und beim Einkaufen die kritische Kundin, die anstrengende Fragen stellt.

Bei Ihren Romanfiguren sollte das genauso sein. Auch wenn es Ihren Roman überfrachten würde, das alles darzustellen – es macht ihn welthaltiger und den Charakter realistischer, wenn sie die vielen potenziellen Beziehungen zumindest andeuten.

Für Sie als Erzähler heißt das: In jeder Beziehung, die Sie in Ihrem Roman betrachten, sollten Sie Ihren Charaktere zumindest ein wenig anders darstellen. Meistens machen Sie das automatisch, denn es ergibt sich aus dem Drive der Situation und des Dialogs. Aber sind Sie sich der Sache bewusst, können Sie überzeugendere, lebendigere Beziehungen und Charaktere schaffen.

Gerne dürfen Sie sich dabei der Beziehungspsychologie bedienen (wie Sie überhaupt vor nichts zurückschrecken sollten, was Sie inspiriert und Ihren Roman reicher macht, vielleicht mal von Selbststudien als Mörder abgesehen).

Die Struktur-Analyse etwa untersucht Kommunikation. Sie unterscheidet zwischen drei Ich-Zuständen, in denen sich ein Mensch befinden kann, wenn er kommuniziert: Kind-Ich, Erwachsenen-Ich und Eltern-Ich. Wenn sich etwa Albert im Kind-Ich (zum Beispiel als beleidigte Leberwurst) befindet, Barbara aber im Erwachsenen-Ich (eher rational argumentierend), sind Konflikte vorprogrammiert – und das bereits ohne widerstreitende Ziele.

Vernachlässigen Sie auch nicht die Eigendynamik, die Beziehungen entwickeln können. Es mag helfen, die zu schildernden Situationen zumindest im Ansatz durchzuspielen, bevor Sie ihnen auf der Seite Leben und Kraft einhauchen.

Sie können die Situation im Wortsinne durchspielen, mit echten Menschen. Das mag Ihnen blöd vorkommen. Keine Sorge. Sie müssen nicht die ganze Szene wie ein Theaterstück inszeniert herunterspulen. Oft genügt es schon, wenn Sie sich im Wohnzimmer hinstellen und Ihre Tochter (den Mörder) auf einem Stuhl drapieren und Ihren Mann (das unschuldige Opfer) auf dem Teppich. Schon bevor Sie irgendetwas tun, fallen Ihnen vermutlich Verbesserungen für Ihre Szene ein. (Ähnlich funktioniert wohl auch die nicht unumstrittene Therapiemethode der Familienaufstellung.)

Schüchterne Menschen kramen Ihre alten Puppen hervor und stellen die Szene mit ihnen nach.

Probieren Sie diese und andere Methoden aus. Sie werden verblüfft sein, um wie vieles reicher und lebendiger solche Inszenierungen die Beziehungen zwischen Ihren Romanfiguren machen – und am Ende Ihren ganzen Roman.

Bessere! Romane! Schreiben!

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