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Öffentlichkeit und Meinung Wandel des Debattenraums

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Bevor Jürgen Habermas’ Ideen von der „kommunikativen Vernunft“ und vom „herrschaftsfreien Diskurs“ zum Diktum der späten Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie, aber auch vieler Intellektueller im ganzen Land wurde, hatte der Sozialphilosoph 1962 eine kluge Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit vorgelegt. Habermas beobachtete schon damals: Während sich die Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit immer großartiger erweitere, werde sie zugleich immer kraftloser. Trotzdem sei aber Öffentlichkeit nach wie vor ein Organisationsprinzip unserer politischen Ordnung.

Habermas rekonstruiert in seiner Schrift die Entstehung des liberalen Modells bürgerlicher Öffentlichkeit. Die Kunst des politischen Räsonnements lernte die bürgerliche Avantgarde des gebildeten Mittelstands in literarischen Salons, wo zunehmend auch politische Debatten geführt wurden. Zeitungen und Zeitschriften entstanden aus diesen Zirkeln heraus und suchten ihr Publikum auch jenseits der Salons. Somit entstand aus der literarischen Zug um Zug die politische Öffentlichkeit, und mit der Entfaltung und Etablierung der öffentlichen Meinung erwuchs eine Mittlerinstanz zwischen Staat und Gesellschaft. Es war die Stunde der Kaffeehäuser in den Städten, die Anfang des 18. Jahrhunderts zu gewichtigen Orten des Disputs wurden. Neue Konzerthäuser und Theater, welche die höfischen Stätten der Kunstdarbietung ablösten, schufen sukzessive ein großes Publikum und erweiterten damit stetig die bürgerliche Öffentlichkeit.

Immanuel Kants berühmter Aufruf zur Selbstbefreiung der Bürger aus politischer, geistiger und religiöser Vormundschaft ist programmatisch für diese Entwicklung in den westlichen Gesellschaften des 17. bis 18. Jahrhunderts. Der Königsberger Philosoph beschreibt 1783 in seiner „Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung?“ einen Emanzipationsprozess, der seinen Höhepunkt in der Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassungen der Neuzeit und der Niederschrift unveräußerlicher Menschenrechte hatte: die Declaration of Independence der 13 US-amerikanischen Gründungskolonien im Jahr 1776. Es folgten Frankreich und Polen im Jahr 1791. Bei uns dauerte es noch etwas, bis schließlich die erste demokratische Frankfurter Reichsverfassung Ende März 1849 von der Nationalversammlung in der Paulskirche beschlossen wurde.

Aufklärung braucht Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit. Deshalb betont auch Kant in seinem berühmten Text: „Es ist für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten … Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.“ Und die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben, unterstreicht er an anderer Stelle, könne zwar gewaltsam genommen werden, nicht aber die Freiheit zu denken. Allerdings hänge die Richtigkeit unserer Gedanken von der Konfrontation und vom Austausch mit anderen ab.

Mit Kant zeigt Jürgen Habermas, wie sich das räsonierende Publikum der Menschen zum Publikum der Bürger konstituiert, das sich über die Angelegenheiten des Gemeinwesens verständigt: „Diese politisch fungierende Öffentlichkeit wird unter der ‚republikanischen Verfassung‘ zum Organisationsprinzip des liberalen Rechtsstaats.“ Er rekonstruiert in seinem Buch den Strukturwandel der Öffentlichkeit bis ins 20. Jahrhundert. Erst mit der Etablierung des bürgerlichen Rechtsstaats und der Legalisierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit wurde die räsonierende Presse allmählich vom Gesinnungsdruck entlastet. Sie konnte damit ihre vormals polemische Stellung räumen und ihre finanziellen Chancen in einem aufstrebenden kommerziellen Betrieb wahrnehmen. Doch damit veränderte sich die Presse immens, die zuvor vor allem eine Institution von privaten Publikumsteilnehmern gewesen war. Mit der immer engeren Kopplung und dem Wechselspiel zwischen redaktionellem Teil und Anzeigengeschäft wurde die Presse jedoch, so kritisiert Habermas, „zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit.“ (Habermas 1968)

Der sich schnell entwickelnde Buchmarkt und unzählige Zeitungen mit Massenauflage lösten à la longue das vormals kulturell räsonierende, bürgerliche Lesepublikum ab. An dessen Stelle etablierte sich ein „Massenpublikum der Kulturkonsumenten“. Ganz in der Tradition marxistischer Kritik analysiert Habermas schließlich das Buch als Ware und die darum entstehenden kulturindustriellen Mechanismen: Die ehemals getrennten Bereiche von Publizistik, Literatur, Information, Räsonnement und Belletristik verschlingen sich fortan auf unterschiedlichen Realitätsebenen.

Das Schweigen der Mitte

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