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Prolog • Orientiert an einem geheimnisvollen Buch

Die Regel des heiligen Benedikt

ist ein unerschöpfliches Buch. Das haben Quellentexte so an sich. Noch nach 1500 Jahren erscheint das Wasser, das aus dieser Quelle strömt, immer gleich, und doch schmeckt es immer wieder so frisch und neu, als hätte noch nie jemand daraus getrunken. Immer wieder wird diese Quelle neu entdeckt. Immer wieder stoßen Menschen plötzlich und unvermittelt im Dickicht des Lebenswaldes auf dieses Werk und erkennen auf Anhieb, dass es das ist, was sie gesucht haben. Sie kommen rasch auf den Geschmack. Und manche kommen nie wieder davon los.

Die Regel des heiligen Benedikt

hat einen gewissen Suchtfaktor. Sucht hat mit Suchen zu tun. Man kann süchtig werden nach der Suche. Dieses Buch ist das Lebenswerk eines einzelnen Menschen, der sein Leben lang auf der Suche blieb. Viele versuchten und versuchen ihm darin zu folgen. Es kann eine unwiderstehliche Versuchung sein. Manche versuchen sich auch dabei und kommen vom rechten Weg ab. Trotzdem. Aus dem Lebenswerk des Einzelnen sind viele Lebenswerke anderer geworden. Für einen war es Lebenswerk, das Buch zu verfassen, für andere ist es Lebenswerk, es zu deuten und zu verstehen. Kaum ein Buch der Welt wurde mit so viel Leben erfüllt wie dieses. Kaum eines hat so viele Lebensformen erzeugt. Kaum eines ist dabei so geheimnisvoll und unnahbar geblieben.

Die Regel des heiligen Benedikt

gehört zu den meistgelesenen Büchern der Welt, wenngleich nicht wirklich zu den Bestsellern. Sie wird tagtäglich gelesen und immer wieder, das aber vorwiegend von immer denselben – jenen Menschen, die sie bereits für sich entdeckt haben und sie trotzdem immer wieder neu als Lebensquelle anzapfen. Von einer Breitenwirkung kann man deshalb leider nicht reden, wohl aber von einer Tiefenwirkung bei denen, die sich ihr aussetzen.

Die Regel des heiligen Benedikt

hat die Kraft, die Welt zu verändern. Unaufhaltsam verändert sie die Welt ihres Lesers, wenn er bereit ist, sie nicht nur als Stoff wissenschaftlicher Reflexion zu benutzen.

Zur Regel des heiligen Benedikt

existieren unzählige Kommentare. Deshalb war ich wenig euphorisch, als ich angefragt wurde, etwas zur Regel Benedikts zu schreiben. Zumal derjenige, der es anregte, einer von denen ist, die sie mindestens dreisprachig auswendig können, so ziemlich jeden einschlägigen Kommentar bereits gelesen haben und seit über einem halben Jahrhundert sehr konkret danach leben. Was kann ich dem noch hinzufügen? Außerdem bin ich keine Wissenschaftlerin, lediglich eine praktizierende Benediktineroblatin, die aus reiner Verliebtheit an dieser Regel hängt. Mein Kommentar könnte allein deshalb schon nicht mit anderen konkurrieren. Aber die Anfrage ließ mich nicht los. Denn einen Blickwinkel kennt er nicht so gut: den eines Menschen, der nicht im Kloster danach lebt.

Es war nicht leicht, einen Anfang zu finden. Als mich einmal ein Mönch fragte, was an meinem Leben benediktinisch wäre und wo die Regel darin vorkomme, musste ich ein Weilchen nachdenken. Dann blieb mir nur die Antwort: »Es gibt eigentlich nichts, was nichts damit zu tun hat.« Damit ist alles gesagt. Auch, dass es unmöglich bleibt, einen erschöpfenden Kommentar über ein unerschöpfliches Werk zu schreiben. Also musste eine Auswahl getroffen werden.

Sie fiel schließlich auf die symbolische Zahl 73. Benedikt hat seine Regel in 73 Kapitel unterteilt. Jedes davon bietet auf seine Art Orientierung, und über alle ließen sich ganze Bücher verfassen. Diese würden aber nie fertig werden, denn auch das Nie-fertig-Werden gehört dazu. Außerdem sind nicht alle Kapitel für ein benediktinisches Leben außerhalb von Klostermauern gleich wichtig.

Was aber ist wirklich wichtig?

Es sind Stichworte. Sie alle stammen aus dieser Regel und tauchen nahezu täglich in meinem Leben auf. An ihnen orientiere ich mich immer wieder. Deshalb möchte ich über sie erzählen.

Textgrundlage der folgenden Betrachtungen: Die Regel des heiligen Benedikt, Beuroner Kunstverlag 16. Auflage 1992; lateinische Zitate: Die Benediktsregel Lateinisch/Deutsch, Reclams Universal-Bibliothek 2009.

Er schenkt mir ein weites Herz

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