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DAS ERSTE MAL

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Der drahtige Bursche bleibt zwischen Sandhügeln stehen. Bevor die Dunkelheit der Nacht alles in sich verschlingt, erscheinen sie wie gezackte Rücken von Dinosauriern. Ibrahim reckt sein Ohr in die Richtung, aus der er die grunzenden Laute der Dromedarstuten hört, so wie sie es schon seit Tausenden von Jahren Chameliers getan haben. Eindeutig - die Urlaute klingen nach brunftigen Kühen.

Einen halben Mond lang schon starrt der Sohn des alten Nadirs allein in die züngelnden Flammen seines nächtlichen Lagerfeuers, und da draußen fällt nur sein letzter Blick des Tages auf das Gewimmel der Sterne. Bereits seit zwei Wochen hat er den Brotteig allein geknetet, bloß für sich Holz zu Glut werden lassen und einsam den Fladen im heißen Sand gebacken. Außer zu den wenigen Gesprächen über Handy hatte er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Vierzehn Tage schon hält der Tierhüter Ausschau nach Spuren im Sand, die sich immer wieder im gelben Gekräusel verlieren und lauscht auf das, was er endlich vernehmen kann.

Diese kleine Gruppe Kamelweibchen - zusammen mit den Jungtieren mögen es vielleicht sechs oder sieben Tiere sein - war in der Zeit seiner Suche einfach nicht auszumachen. Dabei ist er verantwortlich für die wild lebenden Dromedare von Ali, Omar und Brahim. In guten Zeiten sind das bis zu 25 Tiere.

Das Terrain, auf dem er nach den Kamelen der Leute aus seinem Dorf Ausschau hält, reicht von Ain Kaspar, der Wasserstelle mit den letzten Schilfpflanzen, die er je in der Wüste gesehen hat, bis zu den hohen Dünen im Westen, den Vorläufern des Grand Erg. Sein Arbeitsbereich ist nicht größer als das von Selim, Hamed und Nasser, seinen Freunden, die ihre Regionen ebenso nach frei lebenden Stuten und Jungtieren absuchen.

Dreimal hat er schon sein graues Handy, das mit einer Plastikhaube gegen den feinen Sand geschützt ist, benutzt. Er hat Rajid gefragt, ob Selim, Hamed oder Nasser die fehlenden Dromedarstuten gesehen hat. Rajid, der am alten Brunnen, dem vereinbarten Treffpunkt der Chameliers 1) auf erlösende Antwort wartet, erklärte jedes Mal, bei Allah, ich habe noch nichts gehört.

1) Chamelier frz. Kameltreiber, Kamelführer, Dromedarhüter,

Als Ibrahim Ben Nadir vor einem Monat kontrollierte, ob alle weiblichen und jungen Tiere gesund sind, ist die kleine Herde etwa fünf Tage Fußmarsch von hier entfernt gewesen. Ihren

üblichen Marschtempo nach zu schließen, hätte er sie jetzt weiter westlich von seinem damaligen Standpunkt aus treffen müssen. Doch da sind weder sie noch Spuren von ihnen. In diesem Jahr ist der Regen ausgeblieben und somit gibt es weniger Grün in der gelben Landschaft. Die Route der Tiere in freier Wildbahn lässt sich schlechter einschätzen als gewöhnlich.

Der Hirte bleibt stehen. Er presst seine Augen zusammen, nimmt die Silhouette großer Körper am Horizont wahr. Langsam schreitet er auf die dunklen Flecken zu. Köpfe an langen gebogenen Hälse recken sich in seine Richtung. Chrrr! Der Nomade öffnet den Reißverschluss der Jacke. In dem Anorak mit der abgeblätterten Werbung für eine Skischule in den französischen Alpen kramt er nach Zigaretten. Wieder bleibt er stehen. Diesmal, um sich eine anzuzünden. Den linken Fuß legt er auf den rechten Oberschenkel ab. Einbeinig lehnt er sich gegen seinen selbst geschnitzten Stock. Er beobachtet, wie die Stuten ihre Köpfe wieder senken. Außer für erfahrene Tierhüter, wie Ibrahim, ist für niemanden die Silhouette der Herde von den Dinosaurier-Dünenketten zu unterscheiden. Der Beduine steht noch immer auf einen Bein, betrachtet die Konstellation der Sterne und den Stand des schmalen Mondes, um den Standort der Tiere zu bestimmen.

Zügig, richtig schnell läuft der drahtige Mann zurück, als wäre die riesige Sandfläche wie eine Landebahn bei Nacht markiert. Wieder zieht er die Plastikhülle aus der Tasche, in der sein Handy verpackt ist, starrt auf das hellgrün erleuchtete kleine Fenster, drückt auf der transparenten Folie herum. Das Piepsen ist in der Stille der Nacht meilenweit zu hören.

"Selim? Ja, gut! Sie sind an dem Platz, wo wir das Junge an den Schakal verloren haben!" knurrt Ben Nadir ohne den Rhythmus seiner Schritte zu verändern.

"Ja, treib sie mit zu Rajid! Mach's gut!" Die dunkle Gestalt nimmt den noch dunkleren Gegenstand vom Ohr, schiebt ihn in die Anoraktasche. Chrrrr surrt der Reißverschluss von Ibrahims Jacke. Der Tierhüter geht wie so oft in den letzten Tagen schweigend durch Schweigen, still durch Stille. Nur seine Schritte im Sand sind zu hören. Zeit und Raum sind von ihm nicht messbar. Ihr Ausmaß wird durch die immerwährende Ruhe verwischt.

In der blauschwarzen Nacht bewegt sich Ibrahim auf einen kaum wahrnehmbaren hellen Bereich in der Ferne zu. Lange bevor er Rajid zu sehen bekommt, riecht er den Rauch des Feuers. Dieser Geruch bedeutet für ihn, wie für jeden Beduinen, der draußen in der Wüste arbeitet, Freundschaft, Geborgenheit, Wärme und die Sicherheit auf einen Gesprächspartner zu treffen. Schweiß gebadet erreicht er die Feuerstelle. Die Nächte Ende Oktober sind noch warm, und ein Beduine öffnet den Reißverschluss seiner Jacke nur einmal am Tag. Außer den kleinen an der Tasche, dann wenn er sein Handy oder Zigaretten herausfummelt.

"Salemaleikum“, ertönt Ben Nadirs Stimme.

"Maleikumsalem!" antwortet Rajid, als ob er bis an sein Lebensende Zeit hätte, diese Worte auszusprechen. Er richtet sich auf und schlägt seine Hand vor die Brust als Zeichen der Freude, seinem Freund wieder zu begegnen.

"Wie geht es dir, deiner Familie und deinen Tieren?" Ibrahim erwartet nicht wirklich eine Antwort. Er weiß, dass Rajid keinen Kontakt mit seiner Familie hatte, seit er in der Wüste wartet bis die Chameliers alle weiblichen Tiere zusammengetrieben haben, für die sie verantwortlich sind.

"Wie geht es dir, deiner Familie und deinen Tieren?" Auch Rajid erwartet keine Antwort, denn auch er weiß, dass sein Freund seit einiger Zeit allein in der Wüste unterwegs ist.

"Mit Allahs Hilfe habe ich sie gefunden!" Ben Nadir seufzt.

"Wo?" fragt Rajid.

"Dort, wo die gebärende Dromedarkuh vom Schakal verfolgt wurde."

"Bei Allah der Schakal kann riechen! Kannst du bei einer Frau riechen, ob sie schwanger ist?"

"Ein besonderes Tier! Schade, dass er in die Kehle lebender Kälber beißt, wenn sie noch halb im Mutterleib stecken."

"Ich habe beobachtet, wie die Mutter das tote Junge aus der Fruchtblase holte und sauber leckte. Drei Tage hat sie es umkreist, bis sie wieder weiter gezogen ist."

"Hast du den Schakal auch gesehen?"

"Nein, er hat sich wie sonst seine Beute erst geholt, nachdem ich und die Mutter weg waren. Aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass er immer in der Nähe war."

"Diesmal hat keine der Stuten allein geworfen. Wenn er sich wie bei der letzten Geburt anschleichen wollte, haben ihn die anderen Weibchen vertrieben. Allah, der große Gott hat ihn woanders hin geschickt.“

„Ja, ja! Der Schakal hat keine Aufgabe mehr, seitdem die Gazellen verschwunden sind.“

"Diesmal ist die Herde vollständig! Von Omar sind fünf Tiere dabei, mit Alis Brandzeichen habe ich vier Stuten gesehen und mit dem von Brahim sechs. Und die drei Jungtiere." Im Schein des hellen Feuers glänzt das erhitzte Gesicht Ibrahims, und seine Augen strahlen.

"Komm, nimm einen Tee!" Rajid, der Sohn des alten Hamed, der sich trotz seiner Blindheit völlig sicher in der Umgebung des kleinen Dorfes bewegt, steckt das braun verfärbte, kleine Teeglas in den Boden. Er dreht es zwei Mal hin und her und schwenkt es mit Wasser aus. Der dunkle Teerest vermischt sich mit dem feinen Sand und dem Wasser zu einem Brei. Im hohen Bogen schüttet er die flüssige Masse in die Dunkelheit. Dann wischt er mit dem rauen Filz seines Burnus den Rand des Glases trocken. Er setzt es neben ein rot glimmendes Stück lange Kohle, die er als bizarre Wurzel mit anderen Hölzern aus seiner dürren Umgebung heran geschleppt hatte, bevor die Sonne untergegangen ist. Dazu bedient er sich eines Stockes um den Weg abzuklopfen. Das Geräusch, wenn er auf Gestrüpp oder Holz trifft ist ihm wohl bekannt. Aus der Höhe seines aufgestellten Knies gießt er eine dunkelbraune, durchsichtige Flüssigkeit aus der verbeulten Emailkanne in die kleine Öffnung des Glases, das er mit der anderen Hand umschlingt. Selbstverständlich geht kein Tropfen daneben. Er kann am Sprudelgeräusch des Tees hören, wann das Glas voll ist, und wie heiß das Getränk ist. In Zeitlupe stellt Rajid die Kanne wieder in die zuckende Glut zurück.

Es war immer so. In jeder Paarungszeit, in der die Freunde die frei lebenden Stuten zusammen trieben, blieb Rajid am alten Brunnen zurück geblieben, um zuerst auf Nachrichten und später auf die Freunde zu warten. Die sehenden Chameliers strömten aus, um die Dromeare ihres Dorfes zu finden und zum Brunnen zu treiben. Mit jedem Jahr wurden die Bewegungen von Rajid, dem Wartenden, etwas langsamer. Jetzt ist er perfekt im Füllen der endlosen Zeit, die Wartende zur Verfügung haben.

Die beiden Männer liegen auf kleinen Wollteppichen und starren ins Feuer. Rajid schwört auch er könne Flammen in seiner steten Dunkelheit erkennen. Die Leiber der Männer ruhen auf der Seite und bilden eine Art Festung um die Feuerstelle. Rajid ist durch einen wollenen Umhang gegen die Nacht in seinem Rücken geschützt. Sein Burnus riecht nach Beduine, eine Mischung aus Feuer, Kamel und Tabak.

"Wann hast du deinen Dromedarhengst aus der Wüste geholt?" Gemächlich reiht sich Wort an Wort aus Rajids Mund.

"Vor drei ein halb Jahren!"

"Erst fünf ein halb Jahre alt?"

"Mhhm!"

"Vielleicht noch zu unreif für die Paarung?"

"Mhhm!"

"Sollen wir lieber gleich Abdullahs Tier für die Begattung nehmen?"

"Abdullah meint, dass mein Bulle ein besonders starkes Tier und auch jetzt schon zur Paarung fähig sei. Ich habe ihn gut im Griff. Wir werden sehen, wie er es macht."

"Inshallah! Wir können ihn ja ablösen, wenn er nicht mehr als sieben Weibchen schafft. Es sind diesmal etwa zwanzig!"

"Inshallah. Ich fahr dann mal", erklärt Ibrahim. "Ich hole ihn schon jetzt. Damit wir morgen beginnen können, wenn auch Selim mit den restlichen Stuten hier sein wird."

"Bis dann." Ibrahim nimmt ein brennendes Stück Holz und hält es gegen das Gebüsch. In einen der Sträucher leuchtet es metallfarben. Er schmeißt den glühenden Stock zurück ins Feuer, kramt zwischen trockenen Blättern und Ästen ein Mofa hervor. Ein fester Tritt auf das Pedal, der Motor brummt. Fahrer und Gefährt verschwinden, schweben hinein in der Dunkelheit, als ob es keinen Weg gäbe. Es ist nur noch das nörgelnde Motorgeräusch zu hören, wenn ein Zweirad auf einer Piste mit versandeten Stellen fährt. Allmählich verliert sich das Nörgeln in der Stille der Nacht.

Seit drei Kilometern ist Ibrahims geliebter Dromedarbulle unruhig. Seine Schritte werden größer und schneller. Immer häufiger brüllt er in die Weite hinaus, dass er zur Paarung bereit ist. Weißer Schaum leuchtet um seine Schnauze. Wie Stalaktiten tropft er aus den Winkeln des dunkelbraunen Fleisches. Seine bewegliche Gaumenblase hängt aus der Schnauze, um seine Auf- und Erregung kund zu tun. Das sonderbar weiche Stück Fleisch baumelt bei jeder Bewegung hin und her und macht deutlich, dass das männliche Tier den Geruch der fruchtbaren Weibchen wittert und reif für eine Paarung ist. Es reckt sich in die Richtung des Sammelplatzes beim alten Brunnen und stößt Brunstschreie aus. Nun weiß Nadirs Sohn, dass sich die Dromedarstuten bereits am Treffpunkt aufhalten. Das männliche Huftier richtet sich auf, wirkt bedrohlich, als ob andere Bullen in der Nähe wären. „Brrrrrrh", ächzt der Hengst und schüttelt sich. Weißer Speichelschaum wirbelt durch die Luft.

Sein Besitzer duckt sich, um nicht vom Schaumgestöber getroffen zu werden. Er löst die Kordel vom Hals des kräftigen Tieres und hobbelt die Vorderbeine seines Dromedars. Die Schritte des langbeinigen Huftieres sind nun kleiner. Ibrahims Gang entspannt sich. Das Brüllen der noch jungen Männlichkeit ertönt umso häufiger in der Stille des Sandes.

Bei Allah, er ist perfekt erzogen! Gut zwei Jahre lang hat Ibrahim seinem Bullen alles beigebracht. Sein Herz schlägt schneller. Sein Tier ist jung, kräftig und wird für den besten Nachwuchs sorgen. Der Dromedarbesitzer weiß, die erste Paarungszeit ist die Reifeprüfung seiner Domestikation, die zeigt, wie gut das ausgewachsene Tier gelernt, und er, der Trainer, gelehrt hat. Mit seinem Tier wird es nicht zu Rivalitätskämpfen und Verletzungen kommen, wie in der letzten Saison d’Amour. Wie dumm damals diese fremden Chameliers waren, die die Karawane mit Touristen viel zu nahe am Begattungsplatz vorbei führten. Bei Gott, sie hätten lange im Voraus merken können, dass brunftige Weibchen und ein zur Paarung bereiter Bulle in der Nähe waren. Ibrahim schüttelt den Kopf. Nein, diese Tierhüter hatten ihre Kamele nicht im Griff. Sie konnten die Bisse und Tritte der rivalisierenden Bullen einfach nicht verhindern.

Er kann sich noch genau an den Kampf um die Weibchen erinnern, den er als kleiner Junge erlebte. Damals durfte er mit zur Paarung in die Wüste gehen, um ein echter Beduine zu werden, wie sein Onkel erklärte. Dabei war er gerade so groß wie ein Bein des größten Tieres seines Oheims. Dennoch hat er niemanden erzählt, dass er damals Angst hatte. Bis zu diesem Erlebnis hatte er die sonst so friedlichen Säuger nie als Bedrohung erlebt. Doch auf jenem Gang zur Begattung traten die drei Bullen aufeinander ein, bissen sich gegenseitig. Aus ihren dröhnenden Mäulern spritzte der weißer Schaum der Erregung. Die Dhulas 2) klatschten wie nasse Lappen, die aus den Mäulern hingen, gegen das wohlriechende Fell, das er als Kind so liebte. Ein Hengst warf sich mit seinem Körpergewicht auf den Hals des Bullen seines Onkels und wollte ihn ersticken. Ibrahim weiß noch ganz genau, wie die röchelnden Schreie des Unterlegenen in seine Ohren drangen und in ihm dieses sonderbare Gefühl auslösten. Dieses Leben-Tod-Gefühl, wie er es als kleiner Junge nannte, begegnete ihm später wieder, als er allein und verletzt in der Wüste lag, und der Akku seines Handys leer war.

2) Dhula: Rachenbeutel, ein aufblasbarer, rosa Sack, der als Zeichen der Gattungsbereitschaft, um Weibchen anzulocken und um Dominanz anderen männlichen Tieren gegenüber zu behaupten aus dem Maul des Dromedars hängt. Wenn er aufgeblasen ist, ähnelt sie einer langen, geschwollenen, rosa Zunge. Quelle: Erklärung der Beduinen direkt.

Sein Onkel und die anderen Tierhüter konnten damals nicht zulassen, dass die Hengste so lange mit miteinander kämpften, bis nur ein Bulle unbesiegbar übrig blieb. Das wäre der Ruf der Natur, um nur das Erbgut mit Genen der meisten Kraft zu verbreiten. Sie hätten riskiert, dass die zwei besiegten Männchen instinktiv in die Wüste geflüchtet wären. Mit ihrer Fähigkeit, sich mit 65 Kilometern in der Stunde davonzumachen, wären sie nicht mehr einzuholen gewesen. Sie mussten sogar mit lebensgefährlichen Verletzungen oder dem Tod eines der männliche Tiere rechnen. Heute nehmen die Tierhüter nur einen Hengst mit in die Wüste, wenn die Weibchen begattet werden sollen. Wenn dieser es nicht schafft, alle zu befruchten, dann erst holen sie das nächste Männchen aus dem Dorf.

Seinerzeit war es Ibrahims Oheim und den anderen Chameliers gelungen den Hengst, der auf dem Bullen des Onkels lag von ihm herunter zu treiben. Sie bewarfen ihn mit Steinen und bohrten einen Stock in sein Hinterteil. So gelang es dem unterlegenen Tier dann doch noch, sich zu befreien. Es war knapp gewesen für das Kamel seines Onkels, jedoch erholte es sich bald wieder.

Gerade weil Dromedare ihm die Nähe zwischen Leben und Tod von Kindesbeinen an vor Augen geführt haben, empfindet Ibrahim Faszination für diese großen Wüstentiere. Als junger Kerl mit 15 Jahren begann er, die wild lebenden Stuten des reichen Mohamed Ben Naser und des alten Said zu betreuen. Die paar Dinar, die er dafür bekam, sammelte er in der alten Hirtentasche seines Großvaters. Gott hab ihm selig. Eines war sehr bald klar: Ibrahim wollte sein eigenes Dromedar. Vor drei Jahren und sechs Monaten in der vierten Woche des Ramadans erfüllte Allah ihm seinen Wunsch. Er konnte sich mit dem Inhalt der Hirtentasche seinen eigenen Hengst leisten. Nur diesen einen wollte er.

Ibrahim streift mit seiner breitflächigen Hand über den Hals seines geliebten Tieres. Schon kurz nach der Geburt, als es das erste Mal auf seinen vier Beinen stand, durchfuhr es Ben Nadir. Er spürte die Manneskraft in dem frisch geborenen Kalb. Es war wertvoll, es war teuer. Aber Allah Akbar hat ihn bei seinen Plänen unterstützt. Zwei Wochen half er täglich bei der Dattelernte des reichen Mohameds und zusätzlich bezahlte er die übliche Kaufsumme, um seinen Jungbullen zu bekommen.

Er, der Sohn von Nadir Ben Chemel, wurde bewundert. Auf seinen stattlichen Hengst wurde er im Café und auf der Straße angesprochen. Die meisten seiner Freunde wollten ihm beim Domestizieren helfen. Jetzt würde es wieder so sein. Ibrahim würde der Stärkste sein, weil sein Bulle der Stärkste ist. Die Jungs im Café werden ihn umarmen und bewundernde Worte zurufen. Der Hirte beginnt zu summen. Er wird heiraten. Er ist sich sicher. Es wird eine der schönsten Beduininnen aus seinem Dorf sein, nein aus allen Dörfern, die es bis hin zur Stadt gibt. Gleich, wenn die Wochen der Begattung vorbei sind, wird er die schöne Aminah fragen.

Während der Besitzer die Kordel zwischen den Vorderbeinen seines Deckhengtes löst, zerren alle Chameliers, die auf dem Sammelplatz am alten Brunnen anwesend sind, an den Stricken mit Hilfe derer Ibrahims Tier noch von den Weibchen zurück gehalten wird. Nachdem sie ihn losgelassen haben, trottet der brüllende Bulle auf die Dromedarkühe zu, richtet sich in all seiner Stattlichkeit auf. Die Erweiterung des Gaumens ist aufgeblasen und hängt als rot-weiß ovaler Ballon aus dem schäumenden Maul. Riesig ist die Dhula, 36 cm lang. Ben Nadir hat sie gemessen. Der brunftige Bulle riecht hier und da an den Hinterleibern brünstiger Weibchen. Immer wieder blickt er in die einsame Stille, als ob ihm von dort andere Hengste seine Stuten streitig machen würden und schleudert den vermeintlichen Rivalen aus der Weite des Sandes tiefe Urlaute entgegen. Es ist seine Herde, zumindest für diese Paarungszeit. Und sie umfasst weit mehr als jene fünf bis sieben Weibchen wie damals, als alle Dromedare noch wild lebten. Er ist der Stärkste für diese Paarungszeit. Er allein wird diese Weibchen besteigen, zumindest einen Teil davon. Einige Stuten präsentieren ihre Geschlechtsteile. Der Speichelschaum zieht lange Fäden zwischen dem männlichen Maul und den Stellen, die das Tier beim Schnüffeln berührt. Weibchen grunzen, schreien aus heiserer Kehle. Zwei der Weibchen knien, um dem Deckhengst anzulocken. Er dagegen stupst gegen eine stehende Kuh, treibt sie vorwärts, will gerade sie besteigen. Die Auserwählte läuft ein paar Schritte. Der Bulle hinterher, sie bleibt stehen. Der Hengst drückt unsanft seinen Kopf gegen den Rumpf. Die Dame kniet sich nicht, läuft weiter, Ibrahims Tier wieder hinter her. Die Doula wackelt im Rhythmus seines Gangs. Endlich kniet sich das Weibchen, lässt ihn an sich heran. Ohne Eile steigt der Bulle auf. Wie ein Kind, das zum ersten Mal auf seinem Schaukelpferd reitet, sitzt er auf der Dromedarkuh. Seine Deckbewegungen sind gemächlich, wie der Gang dieser Wüstentiere, wenn keine Paarungszeit ist. Jetzt drückt sich sein Oberkörper dicht an den weiblichen Leib. Der Rumpf, der lange Hals und der Kopf bilden eine gerade braune Linie vor dem hügeligen Hellgelb des Sandes. Sein Blick erforscht, ob andere männliche Tiere in der Nähe sind. Denn dann müsste er sich unmittelbar nach dem Höhepunkt dem Kampf mit dem Rivalen stellen. Es kommt keine Eile in ihm auf, obwohl er auch die anderen Weibchen noch decken muss. Dreimal reckt sich der Körper des Kamels bildet diese lange Linie vom Rumpfende bis zum Kopf. Die für die erste Begattung im Leben von Ben Nadirs Dromedar auserwählte Stute wirft den s-förmig gebogenen Hals zurück. Die Köpfe der beiden berühren sich. Der Akt ist zu ende. Der Bulle rutscht von der knienden Kuh. Sie sitzen nebeneinander, schauen sich an wie ein altes Ehepaar.

Nach einer Weile erhebt sich Ibrahims Tier und kommt auf seinen Chamelier zu. Sein Gang ist erhaben. Ben Nadir ist stolz. Die Paarung ist geglückt. Auf dem leeren Getreidesack häuft er Weizen für sein Dromedar auf, damit es genug Energie zur Verfügung hat, um alle Stuten zu decken. Seine Beduinenfreunde drücken ihre Körper gegen die nahenden Stuten. Das Korn ist für den Deckhengst und nur für ihn! Und nur für ihn hat Ibrahim Säcke voll mit Weizen von Aboullah mit dem Pick-Up heran schaffen lassen. Vielleicht bekommt davon auch Abdoullahs Zuchtkamel. Aber nur dann, wenn sein Hengst nicht genug Kondition für alle weiblichen Tiere hat oder kein Interesse mehr an ihnen zeigen sollte und abgelöst werden muss.

Ben Nadirs ausersehener Bulle trottet gesättigt durch die Herde. Schaumspuren ziehen den langen gebogenen Hals hinunter. Auf seinem Maul thronen Schaumkrönchen, als ob Rasierschaum nicht vollständig entfernt wurde. Die Dhula baumelt im Gleichklang seiner Hufe. Er ist der Größte, bei Allah man sieht es an seinem Gang! Ibrahim Ben Nadir Ben Chemel beboachtet, mit welcher Ruhe sich das Tier seiner Aufgabe widmet. Es schnuppert wieder bei welchen Weibchen es sich lohnt, das Liebesspiel erneut zu beginnen. Es wurde zu Recht als Deckhengst ausgewählt, und auch der Besitzer fühlt sich auserwählt. Allah ist auf seiner Seite. Sein Bulle weiß, was zu tun ist. Er kann die weiteren Paarungen der Natur überlassen. Der Gigant beginnt erneut das Liebesspiel, jagt eine Stute, deren Duftnote Bereitschaft signalisiert, stupst gegen sie, drückt sie nach unten, bis sie zu Boden geht. Durch die Trockenheit ertönen gurgelnde Geräusche, als ob Luft in ein mit Wasser gefülltes Gefäß geblasen wird. Ibrahims Dromedar beginnt den nächsten Aufritt, ebenso gemächlich wie jenen davor. Wie ein Tourist am Spätnachmittag in einer Hollywoodschaukel wiegt er sich in den Höhepunkt hinein, bleibt auf seiner Kuh sitzen, schaut sich immer wieder um. Irgendetwas in ihm erinnert ihn stets daran, dass normalerweise in der Natur konkurrierende Bullen auftreten können. Dann gleitet er von der Begatteten herunter, schwingt sich in den Stand, trottet zum Wassertrog und schlürft ihn in kürzester Zeit leer. So wie es die Herdentiere tun, die zwei Wochen lang trockene Sandregionen durchquert haben, und an einem Wasserloch in weniger als zehn Minuten 100 Liter Wasser in sich hinein saugen können!

Wieder durchquert er das Rudel der Stuten, bleibt hier und da stehen, untersucht schnüffelnd weiblichen Urin auf Empfängnisbereitschaft. Er frisst von dem aufgehäuften Weizen! Das ist ein gutes Zeichen! Bei Allah! Die Chameliers wissen davon zu berichten, dass oft Bullen nach zwei Wochen Saison d'Amour völlig ausgemergelt sind, weil sie ein Drittel ihres Gewichts verloren haben. Doch dieser Dromedarhengst verfügt über Ruhe. Sie wird die Kraftquelle seiner Deckungsarbeit sein. Denn sein Instinkt leitet ihn an, erst dann wieder zu schlafen, wenn alle Weibchen befruchtet sind. Die Tierhüter jedoch können in den nächsten Tagen beruhigt schlafen. Das Gebrüll, das Gegurgel und die Urschreie der sich Paarenden werden sie in den Schlaf wiegen und ihnen die Sicherheit geben, dass der ausgewählte Bulle seinem Status, auserwählt zu sein, gerecht wird.

Die Geräusche verlieren sich allmählich und im selben Tempo kehrt die Stille an den Ort zurück. Bald wird sich der Raum wieder in ihr verlieren und nichts auf die Unruhe gelungener Begattungen hinweisen. Die zurückbleibenden Dromedarstuten erheben ihre langen Hälse, wenden sich ab von den wenigen Weizenkörner, die Ibrhaims Bulle nicht in Begattungsenergie umgesetzt hat. Den weiblichen Tieren sind sie nicht als Nahrungsmittel vertraut, weil es sie in der Freiheit der Wüste nicht gibt. Sie blicken der sonderbaren Karawane hinter her. Zwischen Wüstentieren schlürfen Männern in Jeans und weiten Wollgewändern, die bis eben noch über das starke Kamel gesprochen haben! Bei Allah Ibrahims Hengst hat alle Weibchen bestiegen! Ein schon kaum mehr hörbares Mofa quetscht sich durch rutschigen Sand. Die drei Transportkamele von Rajid schaukeln gemächlich durch die Dünen. Vor ihnen trottet ohne Packtaschen Ben Nadirs sichtbar dünn gewordener Dromedarhengst. Seine Dhula ist nicht mehr zu sehen. Vorbei das Schaumgestöber und die Brunftschreie!

Die begatteten Weibchen verschmelzen wieder mit ihrem vertrautem Terrain der beruhigenden Eintönigkeit. Sie werden sich und ihre Frucht von pieksenden Sträuchern und trockenem Blattwerk ernähren, während sie in kleinen Gruppen abwandern, in verschiedene Richtungen streben, je nachdem von welchen Salzpflanzen und grün schimmernden Dornengestrüpp sie sich verlocken lassen, oder aus Gott weiß welcher Richtung sie dem Geruch des bis zu 30 Kilometer entfernt liegenden Wasser folgen.

Im Laufe des unendlich langen Jahres werden die Hirten ab und zu in die Wüste gehen, nur mit der Kleidung, die sie auf dem Leib tragen, und der Hirtentasche aus Ziegenwolle voll mit Proviant. Wenn sie Grüppchen der Huftiere gefunden haben, deren Brandzeichen sie kennen, schauen sie nach, ob sie trächtig sind. Und die Stuten werden ihnen vertrauen, weil auch sie die Männer am Geruch wieder erkennen. Die Chameliers begrüßen die neue Generation, die 13 bis 14 Monate nach der Saison d'amour das Licht der Wüste erblickt. Sie wissen, dass sie bei den Geburten nicht benötigt werden. Der einzige Feind trächtigen Stuten, der Schakal, ist selten geworden. Er hatte auch nie viel Chancen an die Neugeborenen heranzukommen. Und die Kamelhüter werfen einen Blick auf die Säuglinge, ob sie sich gut ernähren können und auf die Jungtiere, wie weit sie in ihren ersten zwei Lebensjahren durch ihre kleine Gruppe weiblicher Dromedare geschützt werden. So war es schon immer, so ist es, und inshallah so wird es auch morgen noch sein.

Wüste als Mahal

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