Читать книгу Wüste als Mahal - Ute-Maria Graupner - Страница 8

ÜBERRASCHUNG unerwarteter Gefühle

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„Ja, ist gut, ich komme. Ich organisiere einen Wagen, um euch abzuholen", sagt Omar am Telefon.

Eine innere Aufregung, als Esthes seine Stimme hört. Nein, das kann nicht sein. Sie muss sich getäuscht haben.

Sie hatte Ihre Frauen oder Mädels, so wie sie ihre Reisebegleiterinnen bezeichnet, zu ihrem geliebten Campingplatz im Wüstensand geführt. Dort wollen sie sich für den Gang in die Wüste vorbereiten und an das fremde Klima gewöhnen.

Aber Ria hat Migräne. Hilde ist es zu viel Betrieb. Sylvia mag generell keine Campingplätze und hat sich nur angeschlossen unter der Voraussetzung vor Ort „nein“ sagen zu können. Karla passt sich grundsätzlich der Meinung von Gudrun an, die sich selten äußert. Anne ist zu müde, um irgendeine Entscheidung zu treffen und überhaupt... Also ruft Esthes bei Omar an, dass er einen Wagen kommen lassen möge, damit sie in das einfache, ruhige Hotel des Beduinendorfes umziehen können.

Esthes sitzt mit einigen der Mädels bei einem Büchsenbier in ihrem Zimmer, wie Mohamed der wichtigste Mann am Platz, die kleine Sitzecke unter den Palmenwedeln nennt. Dort hatte die von der Region begeisterte Frau schon mehrere Wüstenaufenthalte vorbereitet und auf der Bank der Sitzecke ihr Bett aufgeschlagen. Auf Esthes Lieblingscampingplatz ist trotz Islam und Ramadan Billigbier erhältlich. Esthes weiß in diesem trockenen, alkoholfreien Land dieses Getränk besonders zu schätzen. Die anderen trinken Tee oder Wasser. Ria sitzt in irgendeiner Dunkelheit und versucht, ihre Migräne so unbelastet wie möglich vorüberziehen zu lassen. Karla erforscht die Campingplatz-Umgebung.

Omar kommt also. Esthes wird ihn schon heute Abend sehen und nicht erst morgen früh zur Besprechung ihres Vorhabens. Ein kleiner Schmetterlingsschlag in ihrem Brustkorb. Hat sie ihn überhaupt bemerkt? Sie wird die alten Themen souverän übergehen. Sie wird nicht einmal erwähnen, dass es alte Themen gibt. Wie ein sich anschleichendes Tier taucht das fast schwarze Gesicht von Omar im Lichtkegel auf. Hilflos lächelnd erhebt sich Esthes, um die Begrüßungszeremonie der vier Rechts-Links-Küsschen zu vollziehen. Der Beduine riecht nach Dromedar, Tabak und Männerschweiß. Seine Haut sieht gegerbter aus. Er hat offensichtlich viel im Freien gearbeitet. Seine Härte der Gesichtszüge wird unterstrichen durch die viel zu kurzen Haare. Es bedarf keiner Nachfrage, so wie früher. Was zwischen ihm und ihr war, es ist vorbei. Die blauen Augen der Europäerin wandern in dem vertrauten Gesicht umher. Diese Selbstverständlichkeit besteht noch immer. Ruhig hält der Mann mit den braunen Augen ihrem Blick stand, sagt kein Wort bis sie damit zu Ende ist. Sein Sweatshirt mit den durchgewetzten Stellen passt in Esthes Augen nicht zu seinen ordentlichen Jeans. Es ist egal. Es geht sie nichts mehr an. Sie weiß, sie kann sich als Guide auf ihn verlassen, das reicht.

Sie gehen zum Wagen und beginnen die vielen Taschen und Rucksäcke aufzuladen. Die Frauen sind müde. Omar und Esthes arbeiten allein. Sie hebt die Hände, um ein weiteres Gepäckstück aufzunehmen und es zum Kofferraum zu tragen. In dem Moment streckt auch Omar seine Hände aus, drückt sie an die ihren. Er lacht wie bei seinen geliebten Raufspielen und schiebt sie sanft nach hinten. Sie lacht auch und erschrickt. Ganz selbstverständlich hat sie mitgemacht, als hätte es das letzte Jahr nie gegeben. Okay, Freundschaft, das ist sicher angemessener als ein reines Arbeitsverhältnis...

Die Frauen steigen in den Kleinbus. Omar steht davor, als Esthes in die Sitzreihe hinter dem Fahrer klettert. Er setzt sich nach vorn. Tut nicht weh. Das war ja klar, dass dieser Platz nicht leer bleibt. Früher saß sie immer neben ihm bei solchen Fahrten. Sie gibt die Wünsche der Mädels für den Aufenthalt in der Wüste an ihn weiter. Er versteht schlecht, muss sich immer zu ihr umdrehen. Sie erhebt sich und zwängt sich durch den schmalen Zwischenraum zwischen Fahrer- und Beifahrersitz nach vorne. Der Beduine grinst, so wie er es immer getan hat, wenn sie deutlich ihren Willen zeigte. Das hat er geliebt. Das hat ihn heraus gefordert. Darüber ist sich Esthes im Klaren.

Das Organisatorische ist schnell abgeklärt. Esthes bleibt neben dem dunkelhäutigen Manne sitzen. Sie nimmt Witterung auf. Unerwartet löst sein animalischer Geruch wieder Wärme in ihr aus.

„Ich muss mit dir reden", sagt sie unvermittelt. So unvermittelt, dass sie selbst überrascht ist. Sie war sich doch so sicher, dass sie das nicht wollte. Der Wunsch zu reden war ihr in Europa noch wie eine Art Liebesbeweis vorgekommen. Liebe wäre das Letzte gewesen, was sie hätte beweisen wollen, nachdem sie sich so benutzt gefühlt hatte.

„Willst du auch mit mir reden?“ hört sie ihre Stimme.

„Ja", flüstert Omar, „unbedingt.“

Am Hotel angekommen werden Taschen mit der Kleidung für die Familien der Beduinen sortiert, viele Fragen müssen beantwortet werden, das Einchecken an der Rezeption benötigt Übersetzungshilfe und noch immer gibt es eine leichte Sorge um Ria wegen ihrer Migräne. Ehe Esthes noch zur Ruhe kommt, steht Omar an ihrer Seite und raunt: „Der Fahrer will nach Hause!“ Die Europäerin bezahlt den Fahrer. Sie mag diese Handlung nicht, vor Omar mit dickem Geldbeutel Trinkgeld zu geben.

Die Stille der Nacht ist angenehm. Esthes lauscht und lauscht. Einfach nichts. Sie lauscht noch einmal. Jetzt stellt sich die Sicherheit ein, dass wirklich Stille herrscht. Sie kann sich den Lärm schon nicht mehr vorstellen, der sonst in ihren Kopf allabendlich dröhnt. Die weiße Frau hat diesmal ein Zimmer für sich allein. Sie lässt die Tür des Bungalows offen, so dass sie den Schein des fast runden Mondes sehen kann. Während der Nacht gibt es nur die wenigen Geräusche, die sein dürfen, ohne dass sie Esthes' Gefühl von Stille wieder wegnehmen. Ein paar Hunde, die bellen, und das Rauschen der Palmen vor der Tür. Endlich Frieden. Frieden muss aus der Stille geboren worden sein.

Nach der vierten Tasse dünnen Morgenkaffees und vielen Überlegungen, wie all die Wünsche der Frauen unter einen Hut gebracht werden können, steht Omar neben Esthes. Wie schon so oft ist er aufgetaucht, ohne dass jemand sein Kommen bemerkt hat. Klar, er hat ja die Pässe nicht, um die Gruppe für den Aufenthalt in der Wüste anzumelden. Und er braucht Geld, um die Lebensmittel für die Tour einzukaufen.

„Bis später, ich komme mittags vorbei und hole die Frauen ab, die meine Familie besuchen wollen", erklärt Omar beim Gehen mit dem Blick, den er stets zeigt, wenn er beschäftigt ist.

Der Vormittag ist Stille. Stille, Sand, Weite, endlich wieder hier Sein! Die wüstenerfahrene Europäerin durchstreift den Garten des Hotels, der ohne Zaun in hellgelbe Dünen übergeht. Der mehlartige Sand unter ihren Füßen ist fest, aber nicht hart. Kein Knirschen beim Auftreten, nur das Rauschen des Windes ist zu vernehmen. Eine bisher kaum bemerkte Spannung lässt nach. Gedanken werden weniger. Esthes kehrt zurück zu sich selbst. Jetzt kann sie spüren, was sie vermisst hat. Einfach zu sein und sich in Ruhe zu erleben. Die weißhäutige Frau setzt sich unter einen Rizinusbaum, öffnet vorsichtig eine getrocknete Samenkapsel und lässt die gemusterten Perlen durch die Handfläche tanzen. In der Ferne beobachtet sie, wie Dromedare aus einem Rinnsal ihr Wasser schlürfen. Hier fühlt sie sich selbst immer so nah.

Die Mädels kommen zurück. Sie waren auf dem Friedhof, in den Oasengärten und haben ein paar Sanddünen erklommen. Sie haben Beduinen beobachtet, die auf einem großen, weiten Platz ohne Schatten darauf warten, dass ein paar Touristen auf ihren Dromedaren eine kleine Tour durch die Dünnen machen möchten. Was man an einem Vormittag alles entdecken kann! Esthes hatte die Zielobjekte ihrer individuellen Erforschung der Region immer auf viele Tage verteilt, um den Genuss zu erhöhen. Entsprechend der Erlebnisfülle gibt es Fragen über Fragen. Nicht alle kann Esthes beantworten. Sie verspricht, sich bei den Guides kundig zu machen.

Eine schwatzende Gruppe von Frauen sitzt bei Salat und Suppe im Garten. Die Reisegruppe hatte ihren Tisch unter einen Baum gestellt, der trotz Mittagszeit einen großen Schatten bietet. Neben dem Stamm lehnt plötzlich Omar. Sein Gespür zum richtigen Zeitpunkt aufzutauchen ist erstaunlich. Alle brechen auf, um Familienbesuche bei Omar und seinem Freund Monji zu machen.

Der Weg durch die Oasengärten ist geprägt von der unendlichen, beständigen Stille. Die Europäerinnen und der langbeinige Beduine spazieren unter grünen Dächern der Dattelpalmen. Sie haben schon seit Jahrzehnten Schatten gespendet. Die Blätter der mannshohen Sträucher und der Grantäpfelbäume dämpfen die Geräusche des Dorfes. Kinderrufe, der Schrei eines Esels, das Meckern der Ziegen klingen wie die Hintergrundskulisse eines Spielfilms. Die Kühle und das leichte Dunkel des Schattens beruhigen die Gemüter. Auch zwischen Omar und Esthes breitet sich die Ruhe aus, die sie das gemeinsame Gespräch finden lässt. Die anderen der Gruppe können die Sprache zwischen dem sonderbaren Paar nicht verstehen. Esthes fühlt sich sicher.

Großmutter sei vor vier Monaten gestorben. Omars Stimme klingt gedämpft. Esthes weiß es schon lange. Er hätte es ihr nicht zu sagen brauchen. Schon vor einem halben Jahr bei seinem überraschenden Anruf, um Geld für eine Operation zu bitten, spürte sie, hier ging es um Leben und Tod. Diese Verantwortung wollte sie einfach nicht übernehmen. Sie empfand es als eine Zumutung, dass sie diejenige sein sollte, die mit Hilfe von Geld für eine OP eine derartige Last tragen sollte. Es war eines von den unzähligen Anforderungen an sie als Europäerin, nur weil sie Europäerin war. Eine von diesen vielen Situationen, in denen sie sich ungeliebt und nur benutzt fühlte.

Endlich kann sich Esthes davon befreien.

„Verstehst du, ich bin geflüchtet vor den immer größer werdenden Problemen, die du an mich heran getragen hattest! Jedes Mal, wenn es bei euch Schwierigkeiten gab, habe ich geholfen. Aber ihr müsst euer Leben auch ohne mich regeln können.“ Ihre Stimme klingt drängend und hinterlässt einen Unterton von Schmerz. Omar blickt auf seinen Weg. Der Kopf ist gesenkt, als ob er eine Fährte aufnehmen möchte.

„Es tut mir leid", flüsterte er kaum hörbar. Er habe nie dieses Gefühl auslösen wollen, dass sie die Verantwortung übernehmen müsse. Sie läge nicht bei ihr, sondern bei ihm. Esthes wirkt versöhnlich. Sie versucht, in dem gesenkten Haupt seine Augen zu treffen. Der Beduine starrt auf den Sandweg.

„Ich weiß jetzt, dass ich dich als selbstverständlich gesehen habe mit den materiellen Möglichkeiten einer Europäerin. Vorher hatte ich nicht erkannt, dass du in deinem Land selbst nicht viel besitzt.“ Omar wird still. Esthes bleibt ruhig. Der groß gewachsene Mann schaut sie von unten an, ohne seinen Kopf zu heben.

„Ich habe endlich verstanden, dass alles, was du für uns hier getan hast, von deiner Leistung abhing. Du musstest dafür arbeiten, organisieren, und deine Gaben sind auch dir nicht zugeflogen, wie ich immer dachte.“

Die ganze Enttäuschung in Esthes ist wieder laut, so dass ihre Stimme anschwillt.

„Du hast dich mit all den Existenzproblemen deiner Familie an mich gewendet, und ich glaubte tatsächlich, ich müsste sie für euch lösen.“ Energisch schüttelt sie den Kopf.

Der Palmenhain eröffnet den Blick auf den Wochenmarkt, dessen Faszination sich die Mädels nicht entziehen können.

„Oh, gehen wir auf den Markt", ruft Hilde.

„Ja, klar. Wenn ihr wollt.“ Esthes lächelt wieder.

Die Düfte und Farben der großen, leinenfarbigen Gewürzsäcke, die oben offen in rot, orange und gelb die Menschen anlocken, bilden eine farbliche Komposition mit dem Hellgelb des Sandbodens. Geschrei der Händler, die mit wiederholenden Worten ihre Ware anbieten, paaren sich mit hohen Frauenstimmen, denen Kritik und Strenge zu entnehmen ist. Billigkram, neben stark duftendem Räucherwerk zur Vermeidung von Familienkrach, Existenznöten und Krankheiten – Inshallah - und künstlich duftenden Seifen in auffälligem Rosa und Giftgrün. Die Europäerinnen haben die Gelegenheit arabische Frauen in ihren weiten, bunten Gewändern zu beobachten. Manche davon sind nur Stoffbahnen, die mit Fibel und Gürtel gehalten werden. Sie sind umrandet von farbigen Kopftüchern, die locker über das Haupt geschwungen sind, so dass die Haarpracht sichtbar ist und deren Schönheit erahnen lässt. Nein, hier sieht man keine Frauen ohne Kopfbedeckung, wie in den Städten, aber auch keinen Tschador, Hijab oder keine Burqa, die Verschleierungen der streng muslimischen Länder. Die alten Beduininnen lassen ihre Mischung aus weißen und hennaorange farbigen Haar unter den bunten Stoffen hervorleuchten. Die Männer haben ein Tuch um ihre Köpfe gewickelt. Es bewegen sich blaue und vor allem cremefarbige Tsheshhat in allen Etagen, je nach Größe der Beduinen, die ihn um ihren Kopf geschlungen haben, um gegebenenfalls ihr Gesicht gegen Sand und Wind zu schützen. Darunter tragen die Alten ihre Kadwarrahat, gewebte, Knöchel lange Gewänder, und die Jungen Jeans und Pullover.

Die weißen Frauen strömen aus, um den Markt zu erobern. Omar setzt sich auf einen Mauervorsprung. Esthes schaut den Frauen hinterher. Sie wird nicht gebraucht. Sie setzt sich etwas entfernt von Omar. Jetzt starrt sie in den Sand. Es tut noch immer weh. Den Beduinen anzuschauen, fällt ihr schwer. Sie nimmt das Gespräch wieder auf.

„Ja, ich war so enttäuscht von dir. Keine persönlichen Worte, nur immer wieder Probleme, die du an mich heran getragen hast. Ich habe mich nur vereinnahmt, benutzt, aber nicht geliebt gefühlt. Du kamst mir so klein vor, wie ein Junge, der keine Verantwortung übernimmt, sondern sich bei Schwierigkeiten an die Mutter wendet. Und die Mutter war ich.“ Ihre Stimme klingt schwermütig und erschöpft. Sie bewegt den Kopf langsam hin und her. Ihre Augen werden feucht und dicke Falten erstrecken sich über ihre Stirn. Omar schaut in ihr Gesicht. Er erkennt an ihren Zügen, was sie in ihrem Inneren bewegt haben muss.

„Es tut mir leid!“ flüstert er erneut.

„Ich hatte so viel für dich getan. Du hast es nicht gemerkt. Und irgendwann hatte ich keine Kraft mehr. Meine war verbraucht, und deine war nicht da. Du warst einfach nicht für mich da", fährt Esthes fort. „Ich hatte kein Gegenüber, nur eine Stimme am Telefon. Und wenn ich diese hörte, kam sofort die Befürchtung in mir auf, was willst du nun schon wieder?“ Sie hebt ihren Kopf und schaut zu Omar hinüber. In der tiefen Verbindung ihrer Augen liegt Verstehen und Mitgefühl. Bevor Esthes Omar kennen gelernt hatte, waren ihr Blicke dieses Herzensverständnisses nicht vertraut.

„Und wenn ich dich konfrontiert hatte, dass du dich wie ein Kind verhältst, hast du zu mir gesagt, ich kann nichts machen, ich bin so arm. Es war ein Schock. Mir fehlten die Worte. Damals hatte ich verstanden, dass das immer so sein wird zwischen uns. Und das wollte ich nicht, einen Mann, der mir seine männliche Kraft vorenthält mit der Begründung, ich bin so arm. Ein Mann ist kein Mann, wenn er sich hinter seiner Armut versteckt.“ Eine Träne rollt über Esthes Wangen.

„Ich habe verstanden, was du meinst.“ Omar nickt. Wie ein reifer, alter Mann schaut er aus. „Ich habe mich geändert", erklärt der reife Mann. „Du wirst es noch sehen.“ Beschämt schaut er zu Boden.

„Ich war so allein, verdammt allein, mit dieser Erfahrung zwischen uns beiden. Kein europäischer Mann konnte mir diese Nähe geben, wie ich sie mit dir erlebte. Keiner meiner Freunde kannte die Erfahrung, zwei Welten in sich zu tragen, und diese irgendwie vereinen zu müssen, um die innere Anspannung auszuhalten. Hätte ich dich nicht kennen gelernt, hätte ich diese Einsamkeit und Bitterkeit nie so stark empfunden. Und du warst nicht da. Während ich immer für dich da war, wenn es Probleme gab.“ Wieder schüttelt Esthes den Kopf. Dann wendet sie sich wieder Omars Augen zu. Ganz langsam hebt er seinen Kopf und gibt sie ihr. Sie sind traurig, betroffen und warm. Keine Notwendigkeit, seine Gefühle zu verstecken. Auch Esthes Wärme ist wieder da. Sie hatte vergessen, dass es so etwas für sie gegeben hatte. Die Wärme von Omars Augen verteilt sich in ihr. Auch damit hatte sie nicht gerechnet. Es ist noch wie damals. Er brauchte sie nur anzuschauen und dieses Wärmegefühl durchdrang jede Pore.

„Das habe ich nun auch verstanden. Du warst am Telefon immer so distanziert, und dann musste ich den Grund finden, den es dafür geben könnte. Erst als ich dich so sehr vermisst hatte, dass es mir wehtat, konnte ich verstehen, was passiert war. Es war plötzlich ganz deutlich, dass du so viel für meine Familie an Unterstützung gegeben hast. Und ich wusste auch, dass ich es dir nie gesagt hatte.“ Omar runzelt die Stirn, wie er es immer tut, wenn er mit sich nicht einverstanden ist.

„Es tut mir leid, ich habe es einfach hingenommen und mich wie ein Sieger dabei gefühlt, ohne etwas dafür getan zu haben. Dann war es zu spät gewesen. Du hast dir meine Anrufe verbeten und bist bereits auf Distanz gegangen", murmelt er. Esthes Körper zuckt. Sie will näher zu ihm, ihn berühren. Sie sieht den Ruck in Omars Armen. Doch er bleibt sitzen, obwohl sich mittlerweile auch der traditionsgebundene Beduine nicht mehr von seiner redseligen Dorfgemeinschaft beeinträchtigen lässt, die eine Berührung zwischen Mann und Frau in der Öffentlichkeit nicht duldet.

Wie oft hatte Esthes zu Beginn ihrer Beziehung die Worte gehört, wo denkst du hin, du kannst doch nicht ohne Kopftuch mit mir zu einer bekannten Familie gehen, mich in aller Öffentlichkeit berühren, die anderen Guides auf die Wange küssen, meine Schwestern europäisch umarmen, mit in meinem Bett schlafen wollen... Viel Geduld hatte sie es gekostet, sich nach und nach diese europäischen Privilegien zu holen, ohne den Respekt der Beduinen zu verlieren. Wie selbstverständlich ging damals der Freund aus einer anderen Kultur davon aus, dass sich die Europäerin an die traditionellen Spielregeln halten muss. Sie habe sich ja auf eine Freundschaft mit einem Beduinen eingelassen. Aber nach und nach hatte die kluge Frau verständlich machen können, dass sie bereits ihre Gabe der Anpassung geleistet hatte, indem sie in seinem Dorf aus- und einging, auf dem Boden aß, sich an das Klima und die Nahrung gewöhnt, auf jeden Komfort an seiner Seite verzichtete, und dass er jetzt damit an der Reihe sei. Ja, das war ihr gelungen. Sie konnte an seiner Seite Europäerin sein. Seine leuchtenden Augen in den Situationen, wo sie nicht verzichtet hatte, verrieten, dass er sie für ihre Hartnäckigkeit auch bewunderte.

Aber jetzt würde Omar mit seiner Scham nicht näher an sie heranrutschen. Esthes spricht bewusst ein wenig leiser, damit er sich in ihre Richtung beugen muss, um sie zu verstehen.

„Weshalb erst so spät? Das hat so wehgetan!“ Esthes hört ihren Namen. Sie wendet sich ab. Karla und Ria kommen. Sie brauchen Kompetenz in Sachen Gewürze. Das Gespräch ist vorbei.

Omars Familienmitglieder leben in einfachen Hütten, die ein kleines Fort im Sand bilden. Als die Reisegruppe in den Sandhof einbiegt, sich der vertraute Anblick des Miteinanders von Mensch und Tier zeigt, ist die Weite in Esthes Herzen zurückgekehrt. Hühner und Truthähne verstreuen sich über den Hof, hinter Palmenwedeln, die in den Sand gesteckt wurden, sind ein paar Ziegen zu sehen. Der Hund an seiner langen Kordel läuft aufgeregt hin und her. Esthes Herz hüpft, freut sich und fühlt sich wohl.

Alles ist wieder wie damals. Die vielen Nächte auf dem engen Klappbett in der Hitze des Sommers vor Omars Hütte. Ohne Decke, eng umschlungen, obwohl verboten. Die gemeinsamen Essen im Kreise der Familie, als ihr von der Mutter mit den blanken Fingern, die besten Brocken zugeschoben wurden. Der alte Lappen, mit dem das Geschirr gespült wurde, den alle Familienmitglieder zum Hände Waschen nutzen und nach dem Essen den Mund daran abwischten.

Auch das erste Mal, als sie hierher kam und von all dieser Armut so schockiert war, ist Esthes wieder in Erinnerung. Omar hatte sie mit ein paar Freunden mit einem geliehenen Auto vom Flughafen abgeholt. Sie waren den ganzen Tag unterwegs. Omar und Esthes konnten nicht allein sein. Endlich am Abend saßen sie beide auf dem Boden in Omars Hütte, die durch das Licht der Kerzen erleuchtet wurde, die die Europäerin mitgebracht hatte. Der Beduine hatte seinen Tsheshhat 3) um den Kopf geschlungen und lag langbeinig auf einem einfach gewebten Teppich, der seitlich ausfranste. Die müde Frau saß im Schneidersitz daneben. Stühle oder gar ein Sofa gab es nicht, in keiner der Hütten der Beduinen. Sie aßen aus einer Schüssel Couscous. Alles war still. Die Aufregungen des Tages waren abgeklungen und nur noch die blanke Begegnung einer ehemaligen Touristin mit einem Mann, der sehr arm war, erfüllte den Raum. Wenn sie einer ihrer Freunde so hätte sehen könnte, hätte er Esthes für verrückt gehalten. Damals wusste sie selbst nicht, ob sie es war. War sie einer erotischen Stimmung gefolgt? Der neuen Variante der Befriedung durch Naturburschen und orientalischer Sinnlichkeit? Oder war es etwas anderes, was sie damals vor sieben Jahren hier suchte. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, war, sich darauf einzulassen, sonst hätte sie es in ihrer letzten Lebensstunde bereut. Und so saß sie voller Scham, innerer Erregung, Sehnsucht hin zu diesem Mann und missbilligender Selbstbeobachtung in seiner Hütte und hoffte nur, dass dieses Abenteuer gut ausgehen würde.

Alles ist wieder da, ist wieder Wahrheit und kein verschwommenes Märchenbild aus einem Film, in dem Esthes irgendwie mitgespielt hatte.

3) Tsheshhat: Langes Baumwolltuch, das als Sand- und Sonnenschutz turbanartig um den Kopf geschlungen wird.

Auch Großmutter und Mabruka sind wieder da. Esthes sieht sie noch einmal im Sand vor ihrer Hütte sitzen. Großmutter gibt ihrem jüngsten Enkel einen liebevollen Klaps auf den nackten, runden, braunen Po. Mabruka zeigt ihr strahlendes Lächeln, während sie im Sand auf offenem Feuer einen Kaffee für Esthes zubereitet. Und sie plaudern auf Arabisch, das Esthes eigentlich gar nicht kann. Es ist kein Traum. Das findet wirklich statt. Es ist tatsächlich sie, die da im Sand auf dem Boden sitzt mit unzähligen Fliegen auf ihrem Körper und mit den anderen Frauen schäkert und sich mögen läßt, als ob sie immer schon dort gewesen wäre.

Esthes Blick fällt auf die Hütte von Mabruka und Großmutter. Die Fensteröffnungen sind zugemauert.

„Wegen des Sands", sagt Omar leise. Mabruka ging nach dem Tod der Großmutter weg, heiratete gegen Omars Rat einen sehr alten Mann. Sie hielt den Schmerz, ohne die geliebte Großmutter hier weiter zu leben, nicht aus. Mabruka hatte keine Ausbildung, war noch ganz ein Kind der Wüste und begleitete auch später immer wieder die Großmutter zu ihrem Wintercamp. Es gibt Esthes innerlich einen Stich die vermauerten Fenster zu sehen. Ob Mabruka mit diesem Mann glücklich ist, wenn sogar Omar abgeraten hatte? Wie mag ihre sexuelle Beziehung aussehen?

Die Schwestern und die Eltern werden den Frauen vorgestellt. Die Brüder sind nicht da. Iamna, die Älteste, die noch im Hause lebt, ist verhalten. Macht die alte Freundschaft zwischen ihr und Esthes nur diese kühle Begrüßung möglich? Gibt man Esthes die Schuld für die Zeit, in der sie nicht da war? Fatima und Hamed, Omars Eltern, wirken ebenfalls distanziert.

Die Frauen lagern auf dem Boden der Veranda, oder an dem Platz, den man wohlwollend so nennen kann. Kein Tee, wie sonst. Okay, es ist Ramadan, aber Omars Familie hatte bisher akzeptiert, dass Christen auch während des Ramadans essen und trinken. Esthes setzt sich zu den Frauen und erklärt die Zusammenhänge verwandtschaftlicher Beziehungen der Großfamilie.

Ihr fällt ein, dass sie ihre Kleidung für die Wüste immer bei Omar gelassen hatte. Sie fragt Omar, ob sie noch da sei. Ohne ein Wort führt er sie in den hinteren dunklen Bereich seiner Hütte. Er kramt alles Mögliche hervor, was sie so im Laufe der Zeit dort gelassen hatte. Er hat alles aufgehoben. Nur ihr Wanderstock sei zerbrochen, wie er ihn mal mit in die Wüste genommen hatte. Er sei nicht stark gewesen. Er hat also darauf gesetzt, dass sie wieder kommt. Esthes würde am liebsten weinen.

„Wir müssen noch mehr reden", sagt sie.

„Ja", antwortet er, „in der Wüste werden wir dazu viel Zeit haben.“

Die Frauen sitzen noch immer ohne Tee auf der Veranda. Esthes bittet um etwas Wasser. Eine Flasche wird gereicht. Fatima und Hamed sind verschwunden. Omar auch. Esthes legt sich, wie schon so oft, auf den blanken Steinboden der Terrasse und versucht zu schlafen. Die Frauen fühlen sich unwohl, ungebeten. Sie hört im Halbschlaf das unzufriedene Gemurmel. Was ist nur los? So kennt sie die Familie nicht. Dass man sie allein hier sitzen lässt, ist ungewöhnlich. Sie beschließt ihren vertrauten Beduinen zu fragen. Sie findet ihn in der Hütte seiner Eltern schlafend auf einer Matte liegen. Okay, es hat keinen Sinn, man ist nicht erwünscht. Es ist wohl zu viel an Missverständnissen in dem letzten Jahr passiert. Sie gibt das Kommando zum Aufbruch. Da trottet Omar aus der Hütte und sagt: „Warte", wie immer kein Wort zu viel. Fatima und Hamed kommen mit dem Muli und der Charrette. Die Beduinen haben den französischen Namen für dieses Fuhrwerk, das von Eseln oder Mulis gezogen wird, übernommen. Man hört nur selten Creppa, den arabischen Ausdruck dafür. Diese zweirädrige Eselskarre mit einem großen Brett als Sitz- und Ladefläche wird geschickt vom neunjährigen Brahim vor den Muli gespannt. Dabei kriecht er unter den Beinen des Nutztieres durch und schlingt die einfachen Kordeln um Leib und Hals. Hamed hatte also in der Zwischenzeit das Tier aus seinem Stall geholt. Damit die Frauen die vielen Taschen mit Kleidung für die Familien der Guides, die auf Esthes Veranlassung mitgenommen wurden, nicht tragen müssen. Also doch erwünscht. Der Stein fällt vom Herzen.

Wüste als Mahal

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