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Einfach-Sein, eine andere Art zu leben

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Esthes sitzt wie früher neben Omar auf der Charette 5). Die anderen Frauen und Brahim, sein Bruder, haben sich auf der Ladefläche verteilt. Die Gespräche klingen versöhnlich und zufrieden mit der Welt. Ja, das hatten sich die Mädels gewünscht, Kontakt zur Bevölkerung und die unmittelbaren Erfahrungen, die die Menschen hier auch machen. Nicht einfach eine Münze reichen und sich als Tourist in einer Kutsche durch die Gegend karren lassen. Kinder winken am Wegrand. Barfuss laufen sie neben der Creppa 5) her. Die vollen Wangen leuchten rot, und große, braune Augen bringen Neugierde entgegen. Die kleinen Beinchen sind flink wie Wiesel. Die für europäische Wetterbedingungen viel zu dicken Wollpullover geben beim Laufen den Blick auf nackte Haut frei, und runde, glatte Bäuche spitzen hervor. Ein Eselskarren kommt entgegen. Ein elfjähriges Mädchen lenkt geschickt ihr Tier. Eine ältere Beduinin liegt wie ein Buddha auf der Ladefläche. Esthes grüßt: „Keif halek?“ - Wie geht es? Die Beiden lächeln und rufen

„Quwies!“ - Es geht gut! Die weiße Frau war schon mit Mutter und Tochter in ihrem Oasengarten. Schon damals war ihr aufgefallen, dass das kleine Mädchen die üblichen Tätigkeiten des weiblichen Familienoberhaupts übernommen hatte. Sie kümmerte sich um Gartenarbeit, sorgte für eine Verständigung zwischen Mutter und Esthes, sprach die Einladung ins Haus aus und reichte den üblichen Tee. Das Mädchen wirkte angestrengt und seine Gesten waren bereits die eines Erwachsenen. Esthes wand sich an Omar mit ihrer Empfindung, dass man das Kind überforderte. Es sei normal, meinte der Kenner der Region, dass das jüngste Kind der Familie derartige Pflichten übernehme, weil andere Mitglieder mit außer häuslichen Tätigkeiten eingespannt seien. Außerdem wäre die Mutter müde von den vielen Kindern, die sie bereits aufgezogen hätte. Und Esthes wurde klar, dass das Mädchen schon bald genauso müde wirken würde, wie ihre Mutter.

„Woher kennst du die Familie zu der wir fahren?" fragt Sylvia.

„Es ist Monjis Großfamilie, einer der Guides, die uns in die Wüste begleiten", erklärt Esthes.

„Ist Monji verheiratet?

5) Charette frz./ Creppa arab.: einachsiger Eselskarren

„Nein!"

„Und wieso nicht?“ will Gudrun wissen.

„Man benötigt Geld und permanentes Einkommen auch als Beduine, um eine neue Familie zu ernähren. Es ist eine Sache der Ehre, dass man erst dann eine Frau nimmt, wenn man diese Voraussetzung erfüllt", erklärt die Beduinenkennerin. „Außerdem bringen die Männer Schafe und Ziegen, sowie Schmuck und Kleidung, manchmal auch ein Dromedar mit in die Ehe. Diese Gaben müssen auch erst einmal erarbeitet werden. Es gibt aber auch Männer, die trotz mangelnder Versorgungsfähigkeit heiraten wollen. Die Frauen wissen dann, auf was sie sich einlassen und können auch nein dazu sagen.“

„Haben sie vor der Ehe Freundinnen?“ fragt Hilde.

„Nein, die Beduinen nicht.“ Esthes dreht sich zu Hilde. „Und weißt du, Monji hat feste Werte. Er möchte erst sicher sein, dass er seiner zukünftigen Frau eine Lebensgrundlage bieten kann. Da sein Bruder noch nicht erwachsen ist, steckt er noch in der Verpflichtung für die Existenz seiner sehr großen Herkunftsfamilie mit aufzukommen.“

„Ziehen die Frauen mit in die Familie der Männer?“ erkundigt sich Karla.

„Meist wohnt die neue Frau nach der Heirat in die Familie des Mannes und bezieht mit ihm eine eigene Hütte innerhalb des Familienverbandes. Aber die umgekehrte Variante gibt es mittlerweile auch. Das ist dann schon sehr modern", erklärt Esthes.

Sie war von ihren Reisebegleiterinnen gebeten worden, eine typische Beduinenfamilie besuchen zu dürfen. Daraufhin hatte sie Monjis Familie gewählt, weil die Beduininnen des Hauses während des Winterhalbjahres oft ihre Webarbeiten über die sandige Fläche des Hofes gespannt haben. Es ist eine Attraktion für Menschen aus Europa. Außerdem besitzt Monjis Familie zusätzlich einen Webstuhl, der den Raum einer Hütte einnimmt und das ganze Jahr zu bewundern ist. Er ist stabil aus knorrigen Ästen und unbearbeiteten Stöcke gebaut, die so verwendet wurden, wie sie am Baum gewachsen waren. Ein Kunstwerk, findet Esthes.

Omar hält das Zugtier an. Die Charette steht vor dem Hof von Monjis Familie. Die Gruppe der Touristen begibt sich vom Karren, und Brahim steuert ihn wieder zurück. Allah hat es gut mit den Frauen gemeint, es ist tatsächlich über den Hof eine Webarbeit gespannt. Sie ist mit einfachen Stöcken und eckigen Steinen im Sand fixiert. Das Gewebe befindet sich nur etwa handbreit über der Erde. Monjis Mutter und seine Tante müssen kniend arbeiten, wenn sie weben. Die weißen Frauen stehen staunend vor dem einfachen Gebilde. Esthes erklärt, dass es etwa zwei Wochen dauert, bis ein Stoffstreifen für ein Beduinenzelt fertig ist. Und ein Zelt besteht aus vielen Stoffstreifen. Auf diese Art werden auch die Barnushat, die Wollcapes der Beduinen, sowie die Rhascharbirhat, die kleidartigen Mäntel für den Winter, hergestellt.

Monjis Großmutter, Ghama, ist blind. Sie greift temperamentvoll nach Esthes Hand und küsst sie. Das hat sie schon immer getan. Ghama hatte ihr auch schon frisch gekochte Eier geschenkt, die köstlich schmeckten, weil ihre Erzeugerinnen den ganzen Tag im Sand picken dürfen. Sie freut sich immer, wenn Esthes kommt, obwohl sie nur wenige Worte miteinander austauschen können. Neben Monjis Großmutter sitzt seine ebenfalls betagte Großtante, Faiza, auf einer Matte im Sand. Die beiden Alten haben ihre geblümten Kopftücher locker über das graue, gelockte Haar geschwungen. Sie tragen weite bunte Gewänder, unter denen sie geschickt und wendig beim Plaudern ihre Positionen auf der Erde wechseln, als wären sie junge Mädchen beim Bodenturnen.

Die alten Damen zeigen völlig frei und ungeniert ihre Empfindungen in ihren vom Leben zerfurchten Gesichtern. Esthes erschrickt. Sie hat als Touristenangebot einen Familienbesuch organisiert. Im Gegensatz zu den reifen Frauen, die sich ihre Offenheit ein Leben lang erhalten haben, wirken die Europäerinnen mit ihren wohl platzierten Masken wie unbeteiligte Eindringlinge in ein fremdes Leben. Esthes kommt sich wie eine Verräterin vor. Sie hat das Leben dieser Menschen den Betrachtungen der Touristen preisgeben. Es gab schon immer Mitreisende, die sie in ihrer Begeisterung für die Mentalität der Beduinen mit in die Familien genommen hatte. Anschließend wurde sie mit einer Fülle von europäischen Beurteilungen überhäuft, die letztlich nie das gesamte Miteinander dieser Menschen hier erfassten. Es ist ein Eindringen in eine Privatsphäre, die nur jenen zugänglich sein sollte, die das Leben dieser Menschen mit dem Herzen sehen können.

Die Mädchen des Hauses erscheinen im Hof, um die Reisegruppe zu begrüßen. Hadhom wiegt schüchtern ihren Kopf mit den dunklen, langen Zöpfen hin und her, während sie Hilde die Hand reicht. Esthes umarmt Monjis Mutter und seine Tante, die trotz ihrer vielen Arbeit eine der schönsten Frauen ist, die Esthes je gesehen hat. Die Taschen mit der Kleidung werden überreicht. Monji übersetzt die Bitte, auch den wirklich armen Nachbarn etwas davon abzugeben. Monjis Familie ist für die Verhältnisse des Dorfes der Halbnomaden reich. Es ist selbstverständlich, dass die Armen an Geschenken teilhaben dürfen.

„Wer lebt denn hier alles?" fragt Ria. Sie macht mit der Hand einen Bogen durch die Luft, der die vielen Hütten- Eingänge umreißt. Nur zögerlich berichtet Esthes, weshalb so viel Menschen hier leben. Monji war erst 13 Jahre alt, als sein Vater starb. Man fand den Leichnam in der Wüste erst eine Woche nach seinem Tod. Er war bereits von Vögeln zerfressen, so dass keiner mehr feststellen konnte, woran er so früh gestorben war. Seitdem leben Monji, seine Geschwister und seine Mutter hier bei seinem Onkel. Unter den Beduinen ist es selbstverständlich, dass der Bruder des Verstorbenen Witwe und Kinder bei sich aufnimmt. Monji ist die rechte Hand des Onkels geworden und trägt mehr und mehr die Verantwortung für die Großfamilie.

Esthes möchte sehen, ob die Küche, an der Monji seinerzeit gebaut hatte, fertig gestellt ist. Stolz führt der junge Mann Esthes in den Raum. Es gibt richtig glatte Wände, die sogar weiß gestrichen sind. Das Küchenzubehör steht auf dem Boden. Ein Fetzen eines Webstoffs dient als Sitzgelegenheit. Das hat sich also nicht geändert. Auch die neue Küche bietet die übliche Bodennähe eines traditionellen Beduinenlebens.

Der Stall von Monjis Familie ist idyllisch an einer Sanddüne angelegt. Er besteht aus Palmenwedeln und knorpeligen Ästen, die miteinander verwoben und verhakt sind. Oberhalb des Verschlags wachsen drei Palmen, die den Tieren Schatten spenden. Esthes ist sich sicher, dass das Nest den Frauen gefallen könnte. Sie gehen zusammen zu den Tieren, dem Stolz jeder Großfamilie. Der Sand der hohen Düne ist sehr weich. Dagegen ist der Platz, auf dem Ziegen, Schafe und Hühner mit einander leben durch die Tiere fest getrampelt worden. Würde man auf eine der drei Palmen sitzen und hinunter schauen, könnte man verstehen, weshalb Esthes von einem Nest spricht.

Trotz der Idylle, die von der einfachen Viehhaltung ausgeht, ertönen Worte der Skepsis. Das sei ja nicht gerade hygienisch. Der erste Kontakt mit Monjis drei Dromedaren, die neben dem Nest an einer langen Kordel im Sand stehen und neugierig glotzen, ist noch verhalten. Die Frauen waren diesen großen Tieren noch nie so nahe gekommen. Sie erschrecken als ein großer Kopf mit großem Maul durch die geschwungene Halsrundung wie ein Schwenkarm auf sich zukommt. Man fühlt sich konfrontiert mit unberechenbarer Fremdheit. Aber diese Vegetarier sind harmlos. Die Mädels werden sich schon an sie gewöhnen.

Als die Gruppe vom Stallbesuch in den Hof zurückkehrt, sitzen die beiden Großmütter immer noch im Sand zwischen den Hütten. Eigentlich saßen sie immer da, wenn Esthes zu Besuch kam. Das ist im Alter die Tagesbeschäftigung der Beduinen. Durch das Auf und Ab der Familienmitglieder finden sie Abwechselung und Unterhaltung. Esthes Reisebegleiterinnen haben Durst. Sie bittet um Wasser. Monji verschwindet hinter dem Rücken seiner Großtante mit einer Wasserflasche in der Webstuhlhütte. Die Durstigen werden einzeln herein gerufen, um die beiden alten Damen nicht zu brüskieren. Ja, es ist Ramadan, und Monjis Familie ist sehr religiös. Die europäischen Frauen kichern über dieses Abenteuer.

Die Verabschiedung ist herzlich. Alle dürfen jederzeit wieder kommen.

Langsam trotten die Touristen auf trockenen Sandwegen Richtung Hotel. Es staubt. Die Sonne brennt.

„Ich finde, die Menschen hier haben einen sehr warmen Gesichtsausdruck. Aber die schlechten Zähne, Stummel und Zahnlücken sind gewöhnungsbedürftig", meint Gudrun. Esthes hatte schon häufig erlebt, dass die Zähne, die zwischen dunklen Lücken gelb-bräunlich hervortreten als schockierend empfunden werden.

„Ich gehe mal davon aus, dass es hier keine Zahnarztbesuche gibt", erwägt Karla.

„Nein, der ist zu teuer. Und hier im Dorf gibt es auch keinen", bestätigt Esthes.

„Man kann auch ohne Zahnarzt auf seine Zähne achten", murmelt Karla.

„Kein Wunder, dass die Zähne so schlecht sind bei den Zuckermengen im Tee", äußert Hilde. Bereits auf dem Campingplatz beobachteten Karla und Hilde ein üppiges Ramadanessen einer Familie, die neben dem Campingplatz wohnt. Nach den Essensgeflogenheiten während des Ramadans gefragt, berichtete Esthes, dass so bald die Sonne unterging, sich alle Familienmitglieder zu einem ausführlichen Mahl versammeln. Meist gibt es dazu mehrere bescheidene Gänge, für die die Frauen im Laufe des Nachmittags mit Gelassenheit gesorgt haben. Der Abschluss eines jeden Essens ist die Zeremonie, zu dem jenes „Tee-Konzentrat“ eingenommen wird, das Esthes als ungenießbar bezeichnet, weil es so stark und süß ist.

„Ist das üblich bei allen Beduinen, dass der Tee so konzentriert und mit so viel Zucker zu sich genommen wird?“ erkundigt sich Karla.

„Ja, das ist hier Gewohnheit", erklärt Esthes. Sie weist darauf hin, dass diese Menschen hier, wenn sie arbeiten, körperlich sehr gefordert sind und einen hohen Energieverbrauch haben, den sie sich auf diese Art und Weise ausgleichen.

„Wieso laufen die Frauen der Familie in Nachthemden herum?“ fragt Anne. „Wieso tragen sie nicht Selbstgewebtes?“ Esthes muss lachen.

„Das ist ja diskriminierend so etwas anziehen zu müssen.“ Anne schüttelt den Kopf. „Die Männer tragen ja häufig auch europäische Kleidung, und diejenigen mit ihrer Beduinentracht sehen sehr stattlich aus.“

Esthes versucht zu beruhigen.

„Mittlerweile vermischen sich auch am Wüstenrand die kulturellen Einflüsse des Modernen mit der Tradition. Meist tragen nur noch die älteren Männer ihre Kedwarrhat.“

„Sind das die gewebten, langen, cremefarbigen Kittel?“ will Sylvia wissen.

„Ja, die sind aus ganz fein gesponnener Schafwolle. Die jüngeren Männer tragen lieber Jeans oder Safarihosen mit klassischer Beduinenstickerei. Ich finde auch, dass die sonderbaren Kleider der Beduininnen unserem gut bürgerlichen Nachthemd sehr ähneln. Aber sie sind eben für die armen Menschen hier erschwinglich und bieten dieselbe Weite wie ein traditionelles, luftiges Gewand, dem handgewebten Baschnug. Außerdem dauert eine Webarbeit für ein Beduinenkleid auch zwei Wochen. Selbst dann, wenn zwei Frauen gleichzeitig daran arbeiten. Der Stoff ist sehr dünn, wisst, ihr.“ Esthes nickt mit dem Kopf. „Außerdem haben die Frauen meist eine Garnitur Kleidung für Zwecke, wenn sie das Haus verlassen. Diese wird allerdings geschont. Die Menschen hier haben selten Geld für schnelle Neueinkäufe. Wenn es ein Fest gibt, kann man die Frauen wirklich in ganz tollen Kleidern sehen mit Goldspangen und goldenem Schmuck. Völlig verwandelt sehen die dann aus. Die schminken sich dann auch mit Kajal und manchmal sogar Lippenstift. Echt schön.“

„Es tut mir leid", sagt die Gruppenleiterin zu Omar, als alle wieder den kühlen Palmenhain passieren. „Ich habe euch irgendwie verraten, indem ich den Europäern, die ich mitbringe, so direkte Einblicke in eure Lebensweise verschaffe. Ich will immer das Gute, was ich hier vorgefunden habe, weitergeben. Aber ich habe das westliche Bedürfnis, alles zu beurteilen, nicht bedacht. Es ist wie ein Besuch im Zoo, wo man anderen Wesen beim Befriedigen ihrer Lebensbedürfnisse zuschaut.“

„Ja, so ist es", Omar nickt und lächelt.

„Ich bin allmählich auf eurer Seite angelangt und fühle mich schon lange nicht mehr als Touristin. Ich frage mich, wie du diese Besuche aushältst?“

„Ich beurteile es nicht. Lass es einfach fallen!“ Das sagte Omar schon oft zu der weißen Frau, wenn sie sich über ihr Tun in Selbstzweifeln verstrickt hatte.

Am nächsten Morgen, als die Frauen munter beim Frühstück plaudern, steht Omar neben dem Kaffeetisch, wie immer ohne dass jemand sein Kommen bemerkt hatte.

„Ich habe ein Auto organisiert, dass euch zu den Dromedaren fährt. Ihr könnt Euer Gepäck auf den Pickup von Ali laden.“ Die Frauen brechen auf. Unruhiges Gelächter und beständiges Schwätzen lässt auf die Aufregung schließen, die sich vor jedem ersten Gang in die Wildnis der Wüste breitmacht.

Die Rucksäcke werden auf die Ladefläche gehoben. Die Touristen klettern hinterher und machen es sich zwischen den dicken Säcken gemütlich. Esthes schlüpft mit nach vorn und begrüßt Ali, Omars Freund. Er hat sich nicht verändert, grinst immer noch so breitmündig hinter seinem Tshesh hervor. Die blonde Frau sitzt wie in alten Zeiten neben Omar, während die Frauen hinten auf der Ladefläche kichern.

Im sandigen Hof der Hütten von Omars Familie stehen fünf Dromedare zum Bepacken für die Wüstentour bereit. Esthes plaudert mit den Chameliers, die offizielle Berufsbezeichnung für die Guides, die die Touristen in die Wüste hinein begleiten werden. Kochtöpfe, Tomaten, unzählige Wasserflaschen, die europäischen Rucksäcke werden in riesige Packtaschen verstaut und seitlich an die Dromedarbäuche gehängt. Die Tiere brummen. Man hört das dumpfe Geräusch, wenn sie sich in den Sand niederlassen, um noch mehr Gepäck aufzunehmen und das Zischen der Chameliers, wenn sie ihre Tiere kommandieren.

Iamna erscheint freundlich, herzlich und natürlich im Nachthemd. Die vermeintliche Distanz scheint es nicht gegeben zu haben. Nein, sie möchte nicht mit in die Wüste, sie hat schon in den Hütten mit so viel Sand zu tun. Sie sei eine moderne Frau. Gewiss. Das ist sie. Immerhin hat sie Betriebswirtschaft studiert, was man ihr in dem Nachthemd nicht ansieht.

Endlich geht es los. Der Gang in die Wüste beginnt wieder. Esthes geht voran. Sie kennt den üblichen Weg raus aus dem Dorf. Es ist derselbe Weg, den Omar und sie nahmen, als sie das erste Mal allein in die Wüste zogen. Seinerzeit hatte sie Angst, sehr viel Angst vor ihrer eigenen Courage.

Mit nur einem Dromedar schritten der Beduinenfreund und sie in ihrem langen, ockerfarbigen Kleid durch den Sand. Nein, kein Nachthemd, ein schönes Kleid. Sie war aufgeregt. Es war Sommer und für sie sehr heiß. Würde sie die Hitze aushalten? Die Wüste war damals die einzige Möglichkeit für Omar und Esthes, über mehrere Tage mit einander allein zu sein, ohne sich den kontrollierende Blicken der Beduinen auszusetzen, dass sie sich auch ja nicht berühren.

Esthes wusste noch genau, wie sie sich fühlte, als sie diesen mit Palmen begrenzten Weg durch die Gärten mit Melonen und Tomaten entlang zogen. Jeder der ihnen damals begegnete, konnte die Erregung und Liebe der beiden spüren und traute der geforderten Einhaltung eines Abstandes nicht. Ihr kam es auch einer Vermählung gleich, sich auf diese Fremde und diesen Mann mit einer so anderen Mentalität einzulassen. Sie wagte es, sich mit einer ganz neuen Welt zu verbinden, mit einem Nomaden, dem einfachen Dasein in der Wildnis, der Weite des Sandes und der trockenen Hitze eines Wüstensommers. Sie wusste, dass sich das Wort „Vermählung“ einst auf den Prozess einer Einigung bezog. Sie musste für Brautleute von ihren Angehörigen gefunden werden, damit die unterschiedlichen Voraussetzungen eine Einheit bilden konnten. Esthes und Omar hatten bis dahin noch nicht miteinander geschlafen. Da draußen in der Weite des Sandes und der Stille sollte es das erste Mal sein. Das war unausgesprochen klar gewesen. Auch darin musste eine neue Einheit gefunden werden. Immer wieder hatte einer der Dorfbewohner sich von seiner Feldarbeit aufgerichtet und den beiden Verliebten zugewinkt. Manch einer stand an den Palmenwedeln, die zu einem Zaun ineinander verflochten waren, um sie zu begrüßen oder hatte der kleinen Karawane nachgeschaut. In dieser religiösen Luft des Beduinendorfes flimmerte es von Tradition, dass das erste Mal einer Eheschließung gleich käme. Esthes spürte dieses Flimmern und hatte Sorge, dass sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung, mit Omar allein in die Wüste zu gehen, falsch einschätzen könnte, wenn sie denn überhaupt einzuschätzen war.

Es war ebenso unausgesprochen klar gewesen, dass sie sich auf diese Art und Weise mit der Natur vereinen und einen Friedenspakt zwischen Orient und Okzident schließen würden, ein Bündnis wie einst die Sippen beim Mahal, dem Platz auf dem eine Vermählung ausgehandelt wurde. Damals hatte die weiße Frau keine Touristen dabei, die sie als Vorwand für die Angst vor zu viel fremder Intimität benutzen konnte. Auch Omar war nicht der Chef einer Gruppe gewesen und konnte sich nicht in die Unnahbarkeit einer geschäftigen Wichtigkeit begeben. Die weiße Frau hatte sich vertrauensvoll, nackt und bloß in ihrem ockerfarbigen Kleid in die Hände eines Menschen begeben, mit dem sie nur über eine fremde Sprache kommunizieren konnte, die auch nicht seine Muttersprache war. Ihre Beine waren so wackelig gewesen, dass sie meinte, nie eine lange Strecke zu Fuß aushalten zu können.

Die Karawane der Frauen passiert den Wassergraben, der zur Bewässerung der Oasengärten dient. Genau an dieser Stelle sagte Esthes damals: „Ich habe Angst.“

„Ich weiß!“ erwiderte Omar, „ich auch.“ Als das Paar bei seinem ersten Gang allein in die Wüste die Gärten und ihre Beobachter hinter sich gelassen hatten, nahm Omar Esthes Hand. So viel Hand und so viel Erregung war sie nicht mehr gewohnt. Omar hatte geschwiegen. Die Europäerin starrte auf die unterschiedlichen Farbtöne des Sandbodens unter ihren Füssen. Sie lauschte auf die Schritte und das Summen der Insekten. Sie spürte die verschiedenen Temperaturen in ihrem Gesicht, die der Wind heran trug. Verzweifelt rang sie nach Worten, um den heftigen Empfindungen in ihrem Inneren zu entgehen. Völlig sinnlos, denn sie war auf dem Weg hinein in die Wüste, die Weite, die Kargheit und die Stille, wo es kein Ausweichen gab. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals in ihrem Leben diesen Gang vergessen würde.

Wüste als Mahal

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