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b) Theseus in Athen

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Theseus als Helfer der Athener

Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. gewann die Gestalt des Theseus an Bedeutung. Wohl im letzten Viertel des Jahrhunderts entstand die „Theseis“, ein Epos, in dem Theseus zum Heros Athens wurde. Bereits bei der Frage nach den Eltern des Theseus herrscht keine Einigkeit. Als Vater werden Poseidon und der attische König Aigeus genannt. Unumstritten hingegen bleibt die Mutter, Aithra, die Tochter des Königs von Troizen. Bevor Aigeus Troizen verließ, deponierte er ein Schwert sowie ein Paar Sandalen unter einem schweren Stein und schärfte Aithra ein: Sollte das gemeinsame Kind ein Sohn sein, so solle sie ihn nach Attika schicken, sobald er in der Lage sei, den Stein beiseite zu schieben. Als Theseus herangewachsen war, hob der mühelos den Stein, den sonst niemand zu bewegen vermochte und machte sich auf den Weg nach Athen. Unterwegs überwand er mehrere Unholde, unter anderen den Fichtenbieger Sinis, der seine Opfer zerriss, indem er sie an heruntergebogene Fichten band und dann die Bäume wieder hochschnellen ließ. Auch in diesem Fall sind konkurrierende Erzählungen überliefert: Sinis ist ebenso wie Theseus ein Sohn des Poseidon, was die beiden zu Halbbrüdern macht. Überdies soll Theseus Perigune, die Tochter des Sinis, in ihrem Versteck aufgespürt und geschwängert haben; aus der Verbindung entspross ein Sohn. Sinis galt nicht überall als Unhold. Skiron lauerte den Wanderern auf und zwang sie, ihm die Füße zu waschen. Sobald sich die Opfer bückten, stürzte er sie mit einem Fußtritt ins Meer; unten wartete eine Schildkröte, welche die Unglücklichen auffraß. Für die Megarer galt Skiron keineswegs als grausamer Unhold, sondern als ein gerechter Mensch, der gegen Räuber ins Feld gezogen war. Schlaglichtartig wird deutlich, in welchem Maße Mythen von den Interessen der jeweiligen Stadt beeinflusst waren. Der Unhold mit dem größten Bekanntheitsgrad ist Prokrustes (= der Ausrenker), der seine Opfer seinem Bett anpasste: Wer zu klein war, dem renkte er die Gelenke aus; wer zu groß war, dem hieb er die Gliedmaßen ab. In allen Fällen tötete Theseus die Unholde auf die Art, in der sie zuvor ihre Opfer umgebracht hatten – und führte somit eine mythologische Flurbereinigung durch. In Athen erkannte ihn sein Vater und schickte ihn zusammen mit den athenischen Jugendlichen, die dem Minotauros geopfert werden mussten, nach Kreta. Theseus erschlug jenes Mischwesen aus Mensch und Stier und rettete damit die mythische Existenz der Polis; in der attischen Vasenmalerei war es nach dem Löwenkampf des Herakles das beliebteste Bildthema. Bei der Rückkehr von Kreta setzte Theseus aus Versehen ein schwarzes Segel, Zeichen dafür, dass die Mission gescheitert war. Aus Gram um die vermeintlich toten Athener stürzte König Aigeus sich ins Meer, das seither das „Ägäische“ heißt. Allein diese Notiz zeigt, in welchem Maße die Athener das Meer als ihre Domäne betrachteten; der Mythos führte den Namen auf einen ihrer Könige zurück. Während Herakles, der ebenso zahlreiche Unholde tötete, als panhellenischer Heros zu verstehen ist, vollbrachte Theseus seine Taten nur für eine Stadt, für Athen.

Tod des Theseus

Nach dem Herrschaftsantritt in Athen unternahm Theseus noch mehrere Abenteuer. Bei der letzten Fahrt des Königs nutzte Menestheus die Gelegenheit, um die Herrschaft in Athen an sich zu reißen. Er nahm das Volk für sich ein, wurde damit zum Urbild aller Demagogen und vertrieb Theseus bei seiner Rückkehr. Der König floh zuerst nach Kreta, dann auf die rund 100 Kilometer nordwestlich von Athen gelegene Insel Skyros und wurde dort ermordet.

Veränderungen des Mythos

Nach Plutarch griff der Tyrann Peisistratos (~565–528/27) in den Wortlaut der Odyssee ein, um den folgenden Vers einschmuggeln: „Theseus und Peirithoos, herrliche Göttersöhne“ (Plutarch, Theseus 20). Ziel des Peisistratos war es nicht nur, seinen athenischen Mitbürgern zu schmeicheln, sondern auch einen athenischen Helden in den griechischen Text schlechthin zu integrieren und damit Athen im kulturellen Gedächtnis der Griechen fest zu verankern – Athen gewann seine überragende kulturelle Bedeutung erst in der Zeit nach Peisistratos. Für Peisistratos lag die Bezugnahme auf Theseus ohnehin nahe, da beide Alleinherrscher waren. So begründete Peisistratos eine Neuordnung Attikas sowie die Einführung der Münzprägung damit, dass er nur Einrichtungen des Theseus wiederaufleben lasse. Umgekehrt argumentierte auch die Konkurrenz des Peisistratos mit Theseus: Das Schatzhaus der Athener in Delphi, das mit Bildern des Heros geschmückt war, entstand wohl unter der Leitung der vor Peisistratos aus Athen geflohenen Familie der Alkmeoniden. Für Abbildungen von Theseus auf Vasen, Gemälden und Skulpturen waren die Jahre zwischen 510 und 410 die produktivsten. In der Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) soll Theseus den Athenern Mut gemacht und in vorderster Reihe mitgekämpft haben. Wenige Jahre später (476/75 v. Chr.) ließ der Politiker Kimon die Gebeine des Theseus von der Insel Skyros nach Athen überführen. Anlass war ein Orakelspruch aus Delphi, der den Athenern die Herrschaft über Skyros verhieß, wenn sie die Gebeine des Theseus in Athen bestatteten. Der Bericht über die Suche nach dem Grab des Theseus ist mit einer Erzählung von göttlichem Beistand verbunden: Man beobachtete einen Adler, der sich auf einem Hügel niederließ und mit seinen Klauen die Erde aufscharrte – als die Athener an dieser Stelle gruben, fanden sie den Sarg eines Mannes von außerordentlicher Körpergröße, in dem ein bronzener Speer und ein Schwert lagen. Auf dem Schiff Kimons gelangten die Überreste des Theseus nach Athen und wurden dort mit Prozessionen und Opfern empfangen. Im Herzen der Stadt, östlich der Agora, der genaue Ort ist bis heute nicht lokalisiert, wurde das Grab errichtet. Wie ist diese Aktion zu deuten? Erstens erhielt durch den Orakelspruch und die Auffindung der Gebeine die militärische Aktion gegen Skyros göttliche Legitimation. Wenige Jahre zuvor hatten die Spartaner nach einem vergleichbaren Muster die Gebeine des Orestes aus Tegea geholt und die Stadt danach eingenommen. Zweitens verfügten nun die Athener wie zahlreiche andere griechische Städte über das Grab des Gründers. Damit gab es in Athen vier Heiligtümer für Theseus.

Instrumentalisierung des Mythos

Um 460 v. Chr. wurde auf der Akropolis eine Statue des Theseus aufgestellt, wie er den Felsblock hochhebt, um das Schwert und die Sandalen seines Vaters hervorzuholen. Wenige Jahre später wurde die Stoa Poikile (Bunte Halle) durch einen Verwandten Kimons, Peisianax, errichtet. In zwei Gemälden erscheint hier Theseus, bei der Abwehr der Amazonen und der Schlacht bei Marathon. In beiden Schlachten wurden fremde Eindringlinge abgewehrt. Der Sieg über die Amazonen besitzt starke Symbolkraft; seine Darstellung dient der Festigung der athenischen politischen Ordnung: Lebten doch die Amazonen in einer Gesellschaft, die in markantem Gegensatz zu Athen stand; es regierten die Frauen, die in Athen nicht über das geringste politische Mitspracherecht verfügten. Auch in der Zeit danach verlor Theseus keineswegs an Bedeutung. Er galt als Begründer der Demokratie, erstmals belegt in den „Bittflehenden“ des Euripides in den 420er Jahren. In den heftigen politischen Richtungskämpfen dieser Zeit, die durch die sich verschärfende Situation des Peloponnesischen Krieges noch zugespitzt war, legitimierte man sich unter Berufung auf Theseus. Während die Demokraten an Theseus als Begründer der Demokratie erinnerten, verwiesen die Aristokraten darauf, dass er den Adel unterstützt habe.

In archaischer Zeit war Theseus nur ein Held von vielen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde er zum athenischen Helden, zu der Figur, um die sich athenische Identitäten manifestierten – gewachsen durch die Abwehr der Perser und die Erringung einer hegemonialen Stellung in der griechischen Welt. Zuständig für die Finanzierung einer Parade der jungen Männer waren auch in späterer Zeit noch die Nachfahren der von Theseus aus Kreta Geretteten; ein Beispiel dafür, wie lebendig ein Mythos sein konnte, wie Familiengeschichten erfunden wurden. Im 4. Jahrhundert v. Chr. waren die Familien verschwunden und die Theseia wurden durch eine besondere Abgabe finanziert. Außer dem großen jährlichen Fest erhielt Theseus am achten Tag eines jeden Monats Opfer.

Theseusfrisur

Obgleich Theseus vor allem ein athenischer Heros war, genoss er auch außerhalb der Grenzen Attikas Berühmtheit. In Delphi gab es den so genannten Theseusplatz. Plutarch erklärt, warum der Platz seinen Namen erhalten hatte: Zur Zeit des Theseus sei es üblich gewesen, dass die jungen Männer nach Delphi gingen, um sich ihr Haar zu scheren. Theseus schnitt sich die Haare nur vorne und führte damit eine Frisur ein, die nach ihm als „Theseis“ bezeichnet wurde. Die modische Neuerung des Theseus erhielt eine rational-militärisch begründete Erklärung: Beim Zweikampf hatte der Gegner nicht mehr die Möglichkeit, einen Kämpfer mit Theseusfrisur an den Haaren zu packen und niederzumachen. Zugleich mochte der Theseusplatz in Delphi zusammen mit seinem aitiologischen – also den Ursprung eines Sachverhaltes erklärenden – Mythos zur Begründung der militärischen Tüchtigkeit der Athener dienen.

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