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2 Wie steht es um den Anker der Hoffnung?

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Die Welt ist vergänglich, und jeder Mensch ist sterblich. Die meisten Religionen wollen diesem Grundproblem mit hilfreichen Antworten begegnen. Gerade die christlichen Kirchen sind hierzu berufen – von der Auferstehungsbotschaft her, die in ihrem Zentrum steht. Damit stehen sie für die größte Hoffnung, die überhaupt gedacht werden kann. Mit ihr – so sagt es der Hebräerbrief (6,19) – haben Christen einen sicheren und festen Anker der Seele, „der hineinreicht in das Innere hinter dem Vorhang“ des himmlischen Tempels, also in jenes Allerheiligste, wo Christus als ihr Herr und Fürsprecher lebt. „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit. Das Ziel, das ihm die Richtung weist, heißt Gottes Ewigkeit“: Dieser Liedtext aus der Feder von Martin Gotthold Schneider formuliert treffend, wie zentral wichtig die in Christus grundgelegte, lebendige Hoffnung für die Kirche ist. Wo der so beschriebene Hoffnungsanker abgeschnitten wird und verlorengeht, bleiben nur die tristen Gewalten des Chaosmeeres.

Ungefähr seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist es um diese christliche Hoffnung in der Gesellschaft immer schlechter bestellt gewesen. Naturwissenschaft und Technik haben das Ihre dazu beigetragen, die Menschen mehr denn je aufs Diesseits zu verweisen und jede Art von Jenseitstrost obsolet werden zu lassen. Die Folge war das Aufkommen einer bisher so nicht dagewesenen Verdrängung der Wirklichkeit des Todes52. Die Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens, das Chaosmeer ohne Hoffnungsanker – nicht auszuhalten! Sigmund Freud zufolge ist für den Menschen der je eigene Tod „unvorstellbar, und sooft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben. So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“53 Damit erklärt sich psychologisch, warum der Mensch sich mit der Tatsache der Grundveränderlichkeit seiner Existenz, eben seiner Sterblichkeit so schwer tut. Die Wege zur Tabuisierung des Todes beschreitet er aus innerstem Antrieb: Er muss entweder über den Tod hinaus hoffen können54 – oder ihn verdrängen, ja tabuisieren.

Je mehr aber in der Neuzeit die traditionelle Hoffnung auf Unsterblichkeit, Auferstehung und Vollendung dem Säkularisierungstrend zum Opfer fiel55, desto mehr musste die Verdrängung des Todes gesamtgesellschaftlich zunehmen. Der Psychoanalytiker Ernest Becker ist überzeugt, dass „die Furcht vor dem Tode ein universelles Phänomen“ sei, das den Menschen „wie nichts sonst“ präge und als maßgeblicher Faktor in seiner Kulturbildung wirksam werde56. Eine amerikanische Forschergruppe hat die hieraus resultierende Todesangst-Bewältigungstheorie experimentell überprüft und bestätigt57. Ist nicht der ganze „Fortschritt“ mit all seinen ständigen Verbesserungen, aber auch mit den ihn begleitenden Risiken und Sorgen ein unsere gesamte Kultur prägender Versuch, die Angst vor dem Tod zu bewältigen? Geht nicht auch heute die digitale Revolution mit dieser Grundbedrängtheit tabuisierend um, indem sie ein irdisches Schlaraffenland aufbaut und mit Hilfe einer smarten Unterhaltungsmaschinerie58 zur Todesverdrängung beisteuert?

Theologie und Kirche aber hätten das Heilmittel anzubieten. Auferstehung der Toten, Vollendung der Schöpfung, universale Gottesherrschaft, ja deren bereits erfolgtes Anheben mit Jesu Kommen und namentlich mit seiner Auferstehung – das ist die hilfreiche Botschaft, die eine Hoffnungsperspektive schenkt, wo alles sonstige Hoffen endet59. Doch ist das Evangelium noch zeitgemäß, da das naturwissenschaftliche Weltbild unserer Tage solches Hoffen ins Reich der Mythologie verweist? Muss man sich nicht genieren, wenn man heutzutage noch am Anker der Hoffnung festhält? Ist es nicht allzu verständlich, dass evangelische Theologie und Kirche oft dadurch in der Gegenwart zu bestehen versuchen, dass sie die biblische Heilszukunft umdefinieren oder verabschieden?

Für katholische Theologie und Kirche ist dank der 1513 dogmatisierten „Unsterblichkeit der Seele“ die Grundrichtung nach wie vor klar, wenngleich mittlerweile Einflüsse aus der modernen protestantischen Richtung erkennbar werden. Auch für die Reformatoren war noch alles einigermaßen klar, was Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Toten angeht: Zumindest im Grundsätzlichen wurden diese Glaubenssätze durchweg bejaht. Und zwar gerade auch von Martin Luther. Das muss im Gegenüber zu früheren Luther-Forschern wie Peter Meinhold, Carl Stange und Werner Elert richtiggestellt werden60. Denn die haben allzu einseitig entweder jedes unmittelbare Weiterleben der Seele nach dem Tode für Luthers Anschauung bestritten oder die Unsterblichkeit nur auf gläubige Christen beschränken wollen. Zwar konnte Luther tatsächlich betonen, just durch den Glauben in einem „unsterblichen Wesen“ zu sein. Und in der Tat hat er die Unsterblichkeit der Seele nicht in einem allgemeinen philosophischen Sinn vertreten, sondern sie von der Heiligen Schrift und von seinem Gottes- und Christusverständnis her gelehrt61. Aber er hat sie gelehrt! Christi Erlösungstod hat nach Luthers Überzeugung den Tod aller Menschen zugedeckt und zu einem bloßen Schlaf gemacht62. Gerade weil der Reformator eine Beziehung Gottes zu jedem Menschen sieht, hat er niemals ein Aufhören dieser Beziehung in Erwägung gezogen. Völlig eindeutig ist seine Erklärung: „Die Person des redenden Gottes und sein Wort weisen darauf hin, dass wir solche Geschöpfe sind, mit denen Gott bis in Ewigkeit und auf unsterbliche Weise reden will. Allein mit dem Menschen redet er. Wo also und mit wem auch immer Gott redet – ob im Zorn oder in Gnade –, der ist mit Sicherheit unsterblich.“63

Daran sollten evangelische Theologie und Kirche auch heute anknüpfen. Denn die Vernunftgründe, die gegen solche Hoffnung auf Kontinuität in der Diskontinuität des Todes sprechen, sind bei näherer Betrachtung keine. Vielmehr bleibt es bei Immanuel Kants Feststellung, dass die Vernunft sehr wohl in diese Richtung fragt, aber selber keine verbindlichen Antworten geben kann64. Sind doch auch die „Antworten“ auf Grund naturwissenschaftlicher Weltsicht nichts anderes als eine Art Glaube – nämlich Vertrauen darauf, dass solch reduktionistische Perspektive verlässlich sei. Ob hinter dem All ein Schöpfer steht, der dann, wenn es ihn gibt, auch im Stande zu dessen Vollendung ist, kann kein Naturwissenschaftler objektiv beantworten. Ob es ein Leben nach dem Tod gibt, weiß niemand positiv oder negativ nachzuweisen. Darum ist die biblisch begründete Hoffnung im Grundansatz keineswegs obsolet geworden65. Nach „Aufklärung“ ruft vielmehr die reduktionistische Sichtweise, die ihre materialistische Tendenz ohne intellektuelle Berechtigung zum Maßstab für den modernen Menschen erhoben hat.

Es gehört zu den frühen Fehlentwicklungen im Protestantismus des 20. Jahrhunderts, die sogenannte Ganztod-Theologie entwickelt und zur Vorherrschaft gebracht zu haben. Damit hat in der evangelischen Kirche eine Lehre die Lufthoheit errungen, die im Gegensatz zur reformatorisch begründeten Perspektive besagt, es gebe keine unsterbliche Seele oder dergleichen; die Verstorbenen würden erst am Ende aller Dinge, am „Jüngsten Tag“ aus Gottes Erinnerung heraus wieder auferweckt werden. Hiergegen hat sich zwar insbesondere der evangelische Theologe Johann Christoph Hampe mit seinem Bestseller „Sterben ist doch ganz anders“ (1975) gestellt. Aber die bei ihm und anderen begegnenden, durchaus beeindruckenden Verweise auf spontane Sterbe- und Nahtoderfahrungen haben ja keine Beweiskraft66. Jedenfalls gibt die protestantische Ganztod-Theologie keine befriedigende Antwort auf die Menschheitsfrage nach einer bergenden Kontinuität im Tod. Das gilt entsprechend für die von daher ausgearbeitete Ewigkeitsperspektive: Sie hofft kaum auf eine herrliche Vollendung der Schöpfung, auf ein frohes, versöhntes, leidfreies und immerwährendes Auferstehungsleben, sondern eher auf eine Art „Überhöhung“ des irdischen Daseins im ewigen Gottesgeist. Was hier so abstrakt klingt, ist auch abstrakt und dürfte wenig religiöse Bindekraft aufweisen. So heißt es beispielsweise bei Karl Barth, der Mensch als solcher sei „endend und sterbend und wird also einmal nur noch gewesen sein, wie er einmal noch nicht war“67. Die Auferstehung von den Toten zum ewigen Leben bedeute gerade „die Begrenzung dieses Lebens durch das ewige“, aber keine „Abwertung“; denn es werde „auch im ewigen um dieses jetzt zeitliche, auch in jenem geschenkten um dieses jetzt geliehene Leben gehen“, nämlich um die „Aufdeckung und Verherrlichung des in Christus gewesenen Lebens des Menschen in seiner Zeit“68. Für Wolfhart Pannenberg – um ein weiteres Beispiel eines führenden protestantischen Theologen im 20. Jahrhundert zu bringen – „ereignet sich in der Totenauferstehung nichts anderes als das, was die ewige Tiefe der Zeit bereits jetzt ausmacht und was für die Augen Gottes – für seinen Schöpferblick! – bereits jetzt Gegenwart ist.“ Denn „dieses gegenwärtige Leben selbst soll verherrlicht werden durch die Zukunft Gottes […]“69. Auch Jürgen Moltmann definiert für die Verstorbenen analog: „Ihre vergängliche Zeit wird in ihre ewige Zeit verwandelt.“ Gemeint ist: „Im endgültigen Äon sind alle Wirklichkeiten der Zeiten zusammengefasst, die Gott in der Zeit der Schöpfung geschaffen hat.“70 Von daher versteht sich die Auskunft: „Menschliches Leben und menschliches Sterben nimmt am göttlichen Leben teil und ist in ihm aufgehoben. […] Die Auferstehung schafft den Toten ein unsterbliches Leben, das gleichwohl endlich und geschaffen, nicht aber unendlich und göttlich ist.“ Demgemäß heißt es andernorts bei Moltmann etwas geheimnisvoll, die Zeit der Schöpfung vollende sich als partizipatorische Ewigkeit der Geschöpfe in den äonischen „zyklischen Bewegungen der Verherrlichung des ewigen Gottes in der neuen Schöpfung“71. Gewiss hat die altkirchliche Theologie, wie Moltmann betont, für die „ewige Zeit der neuen Schöpfung den Begriff des ‚Äon‘ verwendet“. Doch hat sie dabei sicher nicht bloß an die verherrlichende Überhöhung der irdischen Weltzeit gedacht!

Die protestantisch verbreitete Zeit-Ewigkeits-Dialektik entspricht zu wenig der reichen, biblisch begründeten Hoffnungsperspektive. Zwar wird gern noch deren Begrifflichkeit aufgenommen, aber dies kann bei näherer Betrachtung nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eher religionsphilosophisch verkürzt statt theologisch ausgebreitet wird. Der Anker der Hoffnung hängt so an einem dünnen Seil, und die Hoffnung selbst ist ihrerseits verdünnt. Das Schiff der evangelischen Kirche gewinnt durch solchen Reduktionismus keineswegs wie beabsichtigt an Attraktivität – im Gegenteil! Tatsächlich liegen die Effekte auch zahlenmäßig am Tage. Es braucht dringend eine theologische Neubesinnung auf die Fülle der Hoffnung, die sich mit der evangelischen Kernlehre eigentlich verbindet72. Um es mit Emil Brunner zu formulieren: „Eine Kirche, die nichts über das Zukünftig-Ewige zu sagen hat, hat überhaupt nichts zu sagen, sie ist bankrott.“73 Und dann hat sie auch irdisch gesehen kaum noch viel zu erhoffen.

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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