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3 Kirche ohne Bekenntnis?

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Ein kirchliches Bekenntnis ist keine fundamentalistische Keule. Es darf nicht als Herrschaftsinstrument für ewig Gestrige verstanden oder missbraucht werden. Grundsätzlich möchte ein christliches Bekenntnis weder knechten noch diktieren, sondern zum Zu- und Einstimmen in eine bestimmte Beschreibung von Glauben einladen. Aus freiem Geist zu bestimmter Zeit geboren und von dankbarem Konsens getragen, markiert es einen deutlichen kirchlichen Standpunkt in der Auslegung des Evangeliums. Inwieweit kann es in seiner geschichtlichen Verhaftung dann aber auch für spätere Generationen bindend sein?

Evangelische Kirchen und ihre Bekenntnisse verdanken ihr Profil geschichtlichen Entstehungssituationen, die zwar vergangen sind, jedoch grundlegende Einsichten hervorgebracht haben. Diese sollten festgehalten und in die Zukunft hinein weitervermittelt werden. Solch „geschichtliche Geprägtheit macht durchaus geschichtliche Neuansätze möglich, aber diese müssen im Kraftstrom dieser Geprägtheit stehen, dürfen den reformatorischen Ansatz nicht verlassen oder gar in sein Gegenteil verkehren […]“55. In diesem Sinn ist ein evangelisches Bekenntnis keine absolute, aber doch eine ehrwürdige und zu bewahrende Norm56. Die ihm übergeordnete Norm ist nicht der Zeitgeist, sondern die Heilige Schrift. Deren Kernbotschaft muss bei allen Übertragungen oder Veränderungen in die jeweilige Gegenwart hinein gewahrt bleiben. Es geht hierbei ja nicht bloß um die Wahrung einer Vereinsideologie, sondern um Normen einer religiösen Institution.

Wer da in wesentlichen Punkten nicht mitkann oder will, sollte sich gegebenenfalls andere Glaubensgemeinschaften suchen, die besser zu seiner frei gewählten Einstellung passen. Oder er könnte versuchen, im Dialog deutlich zu machen, inwiefern sein heutiger Glaube doch in gewisser Hinsicht zum überkommenen Bekenntnis passt, zumal dieses ja in eine andere Zeit hinein transformierend fortgeschrieben werden muss. Und dann gilt es einen neuen Konsens und aktuell formulierte Bekenntnisse zu suchen.

Der vielleicht manchen heute attraktiv erscheinende Gedanke, sich zu einem völligen Verzicht auf jedes Bekenntnis zu bekennen, weil es doch in postmoderner Zeit gar keine zu verabsolutierenden Wahrheiten mehr gebe, verfängt indessen grundsätzlich nicht. Denn damit würde ja schon wieder eine Wahrheit absolut gesetzt – und zwar eine der kirchlich erkannten Wahrheit widersprechende! Zudem kann diese liberale Idee im christlichen Kontext nicht überzeugen: Kirchlich ist der Wahrheitsbegriff nämlich mit solch gewichtigen Inhalten verknüpft, dass deren ausdrückliche Negierungen oder Relativierungen an die Substanz des Glaubens gehen. Deshalb wäre Kirche ohne Bekenntnis ein Ungedanke57.

Aber im biblischen Sinn bedeutet „Bekenntnis“ zu allererst Lob Gottes, Lobbekenntnis im direkten Verhältnis zu Gott. Umgekehrt kommt auch Gottes direktes Verhältnis zum Bekennenden in dem Sachverhalt zum Ausdruck, dass dessen konkretes Bekenntnis oder Verleugnen nach neutestamentlichem Bekunden noch im Endgericht eine Rolle spielen wird (Mt 10,32f.; Apg 2,21; 1. Joh 4,3), in dem schlussendlich doch alle Zungen den einen Herrn bekennen werden (Phil 2,11)58. Im direkten Gottesverhältnis hat auch das Sündenbekenntnis seinen Ort, um wiederum ins Bekenntnis von Lob und Dank für die erfahrene Gnade zu münden. Die in solchem Bekennen gemeinschaftlich Verbundenen bilden Kirche, die sich in ihrem direkt auf Gott gerichteten Bekenntnis notwendigerweise indirekt nach außen abgrenzt – gegen anders Bekennende und Nichtglaubende, denen die kirchliche Wahrheit egal oder ein Dorn im Auge ist.

Solch evangelisches Verständnis von „Bekenntnis“ unterscheidet sich deutlich von dem der katholisch in Geltung stehenden Dogmen, die beständig durch das Lehramt tradiert und ausgelegt werden. Der protestantischen Hochschätzung des allgemeinen Priestertums entspricht es, dass der kirchliche Bekenntnisstand die vielen aktuellen Bekenntnisakte des einzelnen Gemeindeglieds und des liturgischen oder synodalen Gemeinschaftsbekenntnisses mit einschließt. Als individuelle Getaufte und als Gemeinde haben Christenmenschen das Recht und die Pflicht, den überkommenen begonnenen Bekenntnisprozess weiterzutragen und weiterzutreiben.

Von daher gilt es von Mal zu Mal „ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit“, wie es in einem evangelischen Kirchenlied aus dem Jahr 1827 heißt59. Nun herrscht zwar heutzutage weitestgehende Meinungsfreiheit, doch ist es im Zeitalter des religiösen Pluralismus und der interreligiösen Dialoge gar nicht mehr so einfach, ein offenes Bekenntnis abzulegen. Mitunter wird freimütiges christliches Bekennen als Attacke auf die zivilreligiöse Toleranz aufgefasst, die ihrerseits wie ein intolerantes Dogma herrscht. Wo jedenfalls evangelische Christen ihr „Bekenntnis“ hochhalten und in reformatorischer Tradition wahre und falsche Kirche zu unterscheiden versuchen, dort werden sie nicht selten als Fundamentalisten60 abgetan, ob ihrer konservativen Haltung ignoriert, belächelt, gemieden oder verachtet. Die Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften (IKBG) mit der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in Deutschland (KBG)61 finden nur recht begrenzten Respekt innerhalb des Gesamtprotestantismus. Nennt sich ein konservatives Magazin „CA“ – nämlich nach der Confessio Augustana, dem Augsburgischen Bekenntnis von 1530 –, so erreicht es heutzutage kaum noch eine vierstellige Auflage. Und auch der Arbeitskreis Bekennender Christen in Bayern (ABC), in dem sich Verantwortliche aus rund zwanzig kirchlichen Gemeinschaften, Verbänden und Werken zusammengeschlossen haben, bewegt sich in übersichtlichen Dimensionen. Anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens beklagte sein einstiger Sprecher Wolfhart Schlichting ausdrücklich, die evangelische Kirche habe sich in vielen Stellungnahmen und Beschlüssen der jüngeren Zeit von den Grundlagen von Schrift und Bekenntnis verabschiedet62.

Selbstverständlich gibt es sie, diese Grundlagen der evangelischen Kirche: den dicken Band der Evangelisch-Lutherischen Bekenntnisschriften, der neben den großen altkirchlichen Bekenntnissen die Confessio Augustana, deren Apologie („Verteidigung“), Luthers Schmalkaldische Artikel, Melanchthons Traktat von der Gewalt und dem Primat des Papstes sowie Luthers Kleinen und Großen Katechismus und dann die umfangreiche Konkordienformel enthält63; außerdem für die Reformierte Kirche vor allem den Heidelberger Katechismus64. Diesen und weiteren altprotestantischen Bekenntnissen stehen moderne Texte zur Seite – am bekanntesten aus dem 20. Jahrhundert wohl die aus dem so wichtigen Agieren der Bekennenden Kirche erwachsene Barmer Theologische Erklärung65, zu finden im Evangelischen Gesangbuch.

Die Frage aber ist tatsächlich, welchen nicht nur theoretischen, sondern praktischen Rang die überkommenen Bekenntnisse der evangelischen Kirche heute noch haben. Eigentlich müssten alle ordinierten Geistlichen deutlich hinter ihnen stehen. Davon kann bei näherer Betrachtung realistischerweise kaum die Rede sein. Zu weit sind oft theologische Schulrichtungen und auch individuelle Ausrichtungen von ihnen entfernt.

Im Land der Reformation sollte ein „offenes Bekenntnis“, verbunden mit einem fröhlichen, starken Selbstbewusstsein der Evangelischen, eigentlich jederzeit zu gegebenen Anlässen erwartet werden dürfen – und zwar nicht allein von den offiziellen kirchlichen Repräsentanten. Doch wo sind solche Bekenntnisse außerhalb eines konservierten liturgischen Gebrauchs in unseren Tagen anzutreffen? Es sind eher Ausnahmen, die im religiösen Pluralismus die traurige Regel bestätigen66. Bezeichnenderweise liegen hierzulande evangelische Christen nicht nur statistisch, sondern auch hinsichtlich der religiösen Selbsteinschätzung und Praxis inzwischen hinter den Katholiken67. Dabei hat sich die Erosion des konfessionellen Bewusstseins bei den Evangelischen schon länger angebahnt68.

Das beweist ein Blick in frühere EKD-Umfragen zur Mitgliedschaft. So lautete in der zweiten, 1984 veröffentlichten Umfrage die Antwort auf die Frage, was zum Evangelischsein gehöre, die häufigste Antwort schlicht: „daß man getauft ist“. Die zweithäufigste Antwort war: „daß man konfirmiert ist“, und die dritthäufigste: „daß man sich bemüht, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein“69. Eine Antwort, die einen Hinweis auf ein klares theologisches Charakteristikum für die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche wie etwa den Rechtfertigungsglauben geben würde, kam offenbar schon damals überhaupt nicht vor. Die dritte, 1997 veröffentlichte Umfrage zeigte in etwa dieselbe Tendenz70. Die vierte Umfrage von 2006 erbrachte Entsprechendes, nur dass die Konfirmation zu Gunsten von Anständigkeit und Zuverlässigkeit auf Platz drei rutschte. Man stelle sich das vor Augen: Die häufigste Antwort auf die Konfessionsfrage nennt die Taufe, also gerade kein konfessionelles Kriterium. Die zweit- bzw. dritthäufigste verweist zwar äußerlich mit Recht auf das typisch protestantische Fest der Konfirmation, verkennt aber den substanziellen Tatbestand, dass es sich dabei kaum um ein reformatorisches „Urgestein“ handelt, sondern um eine Feier, die erst seit dem 18. Jahrhundert den Protestantismus bereichert hat. Und die dritt-bzw. dann sogar zweithäufigste Antwort ist zwar kennzeichnend für das Phänomen des schon erwähnten Neuprotestantismus, stellt aber im Grunde nicht einmal ein spezifisch religiöses Charakteristikum dar.

Kurz und gar nicht gut: Es fehlt im Land der Reformation heutzutage ein verbreitetes Bewusstsein um die positiven konfessionellen Kennzeichen des Evangelischseins. „Konfession“ heißt Bekenntnis. Doch wer sollte bekennen, was er nicht wirklich kennt? Im „Evangelischen Erwachsenenkatechismus“ konnte man in den Jahren der älteren EKD-Umfragen den Satz lesen: „Reformatorische Konfessionskirchen sind eine Notlösung, bis die Einsichten der Reformation in der ganzen Christenheit anerkannt werden.“71 Wie aber sollen sich die reformatorischen Einsichten in den Kirchen aller Welt durchsetzen, wenn sie im Land Luthers selbst kaum präsent sind? Und welcher Ort, ja welcher Sinn kommt in einem solchen Kirchenvolk, in einer solchen Volkskirche noch kirchlichem Bekennen zu?

Gewiss, im evangelischen Gottesdienst haben das Apostolische Glaubensbekenntnis und an besonderen Feiertagen sogar das Nizäische immer noch ihren liturgischen Platz. Noch! Aber immer mehr Christen stellen gerade dies immer öfter in Frage. Wohl mindestens jeder vierte evangelische Christ hierzulande distanziert sich vom Credo – je jünger, desto deutlicher72: „Mittlerweile geht die Kapitulation vor der bewußten Aufnahme des Credo und seines Inhalts in aller Stille vor sich. Die schweigende Verabschiedung vom Glaubensgut geht quer durch die Reihen. Das Credo ist scheinbar out. Für ein kritisches Bewußtsein ist es in der Tat eine Zumutung, den exotisch wirkenden Formulierungen irgendeine Relevanz für den menschlichen Lebensvollzug zuzutrauen.“73 Wen wundert dieses Votum, wenn so bekannte evangelische Theologen wie beispielsweise Jörg Zink und andere74 eine Abschaffung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zu Gunsten völliger Neuformulierungen gefordert haben? Urban bemerkt in der Einleitung seines Buches „Ach Gott, die Kirche!“: „Die Fundamente sind längst brüchig. Das gemeinsame Glaubensbekenntnis aller Kirchen ist zur Litanei geworden. Kein Satz davon ist theologisch unumstritten.“ Sein Journalistenkollege Christian Nürnberger verglich in einer Podiumsdiskussion auf dem Evangelischen Kirchentag 2011 in Dresden das Glaubensbekenntnis mit einem Museumsgegenstand: Es sei interessant anzuschauen, aber ein Wortspiel, das ausgedient habe75.

Immerhin hat die EKD 1992 Korrekturen am Apostolikum klar abgelehnt: „Wer es verändert, rüttelt am Fundament des Glaubens und stellt sich außerhalb der Gemeinschaft der Kirchen.“ Und sieht man sich in unseren Tagen zum Thema auf ihrem Portal um, stößt man auf die Erklärung: „Auch wenn heute immer wieder moniert wird, dass kaum noch jemand etwa alle Formulierungen des apostolischen Glaubensbekenntnisses verstehe, so ist doch erstaunlich, wie geprägte Formulierungen über Jahrhunderte und über Konfessionsgrenzen hinweg Verbindlichkeit erlangten und noch immer haben. Sie entlasten den Einzelnen, sich stets neu über seinen Glauben Rechenschaft zu geben, wenngleich es natürlich auch sinnvoll sein kann, seinen Glauben von Zeit zu Zeit neu in Worte zu fassen und in zeitgemäßer Sprache zu formulieren.“ So weit, so schön. Aber neue Erklärungs- und Übersetzungsversuche zu den altkirchlichen Bekenntnissen, die von den Reformatoren hoch geschätzt wurden, sind rar geworden76. Hier ist kirchliche Bildungs- und Missionsarbeit gefragt. Da müsste deutlich werden: Das alte Apostolische Bekenntnis enthält keineswegs einfach „starre Dogmen“, sondern es zeugt von „Mysterien“77 ‚ von göttlichem Offenbarungshandeln und von spirituellen Erfahrungen tiefer Geheimnisse, die das Verständnis von Mensch, Welt und Gott aufhellen. Diese Mysterien sind nicht allein durch symbolisierende Deutung zu begreifen, sondern ihrer Substanz nach sehr wohl theologisch und am besten „mystagogisch“. Nicht von ungefähr hatte das Apostolikum seinen liturgischen Ort zuallererst in der Taufunterweisung. Als laut von allen Kirchgängern gesprochenes Bekenntnis hat es seinen festen liturgischen Platz in Deutschland erst seit der Bedrängnis der Kirche im Dritten Reich; zuvor wurde es vom Pfarrer jeden Sonntag vorgelesen.

Fest steht: Nur wer erfahren hat, dass dieser Glaube trägt, kann ihn auch zu gegebener Zeit bekennen. Wer hier im neuprotestantischen Sinne radikale Verabschiedungen oder Korrekturen verlangt, stellt sich selbst schnell in die Sektenecke – nämlich abseits des Kirchenglaubens. Eberhard Busch betont: Wenn „mit dem neuen das alte Bekenntnis aufgehoben würde, so würde damit nicht in der Kirche aufs neue bekannt, sondern würde überhaupt eine andere Kirche gegründet; und eine Kirche, die den Kontakt mit der Kirche der Vorzeit gänzlich preisgibt, wird schwerlich noch Kirche Jesu Christi sein.“78 Das Bedürfnis, das christliche Credo immer wieder neu in Gestalt elementarer Zusammenfassungen seines Inhalts zu reflektieren und zu artikulieren, ist zweifellos legitim. Doch jedem modernen Versuch eignet gegenüber den geschichtlichen Bekenntnisnormen zwangsläufig eine relative Unverbindlichkeit. Gewiss sollten derlei Versuche in ihrer spirituellen Bedeutung nicht unterschätzt werden; sie laden allemal zur Besinnung ein. Aber letztlich können sie in keiner Weise den Textbestand alter Originale ersetzen, die ja nicht von ungefähr gewichtige Teile der Christenheit verbinden. So erklärt Martin Luther zum Apostolischen Credo: Dieses Bekenntnis „haben wir nicht gemacht noch erdacht, die vorigen Väter auch nicht; sondern, wie eine Biene den Honig aus mancherlei schönen, lustigen Blümlein zusammensucht, so ist dies Symbolum aus den lieben Propheten und Apostelbüchern, das ist, aus der ganzen Heiligen Schrift fein kurz zusammengefasst.“79

Da Christsein sich nie im Abstrakten vollzieht, sondern immer auf Kirche angewiesen ist, gehört die Rückbesinnung auf die Geschichte der Kirche mit ihren zentralen Bekenntnissen80 im Sinne spiritueller Elementarlehren mit hinein ins Selbstverständnis und in den Vollzug christlichen Lebens. Nicht Verabschiedung, sondern Auslegung des Überkommenen ist angesagt81. Darum betont der Landesbischof der Nordkirche, Gerhard Ulrich: „Wir müssen energisch zu den Inhalten unseres Glaubens kommen, weil sich an den Inhalten unsere Zukunft als Kirche nach innen und außen entscheidet.“82

Dabei darf auch die Auslegung der Inhalte nicht einfach der Beliebigkeit überlassen bleiben. So bemerkt der evangelische Theologe Urs Baumann: „Ein Glaubensbekenntnis, bei dem der Christenmensch der Gegenwart in ständigem geistigem Vorbehalt seiner eigenen persönlichen Überzeugung fast jeden Glaubenssatz persönlich in seinen Gedanken uminterpretieren oder unterlaufen muss, um den Text im Gottesdienst überhaupt nur mitsprechen zu können, ist auf Dauer für das Christentum zerstörerisch.“83 Dieser zerstörerische Prozess ist in unserer Zeit sozusagen mit Händen zu greifen. Konservativ-starres Festhalten an den alten Bekenntnisständen steht liberal-verzerrenden Veränderungsversuchen gegenüber. Beides ist sicherlich gut gemeint, bedeutet aber für die Kirche eine Zerreißprobe, und zwar womöglich weniger entlang konfessioneller Grenzen als vielmehr entlang weltanschaulich bedingter Trenngräben. Die Konfliktlage84 ist oft so tief, dass kaum noch echte, nachhaltige Dialoge im Sinne eines echten Austausches mit ernsthaftem Interesse an der Position der jeweils Andersdenkenden stattfinden. Und diese Situation erschwert jedes kirchliche Bekenntnis nach außen.

Schwer wird damit notgedrungen auch jedes bekennende Beharren auf traditionellen kirchlichen Positionen im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Die Folge ist, dass – so der Systematiker Reinhard Slenczka – „der Protestantismus gesellschaftspolitischen Bewegungen und Forderungen blindlings folgt, vor allem wo es um die politische Gemeinschaft mit einem pluralistischen und multikulturellen Staat geht“85. Sein Fachkollege Johannes Fischer hat demgemäß beobachtet: Viele Stimmen unserer Tage „artikulieren den Eindruck, dass die evangelische Kirche an spiritueller Auszehrung leidet und ihre leitenden Instanzen und Repräsentanten durch Präsenz in den politischen und ethischen Debatten den Bedeutungsverlust kompensieren wollen, den die Kirche durch Mitgliederschwund und abnehmende Beteiligung an ihren religiösen Angeboten erleidet“86. Und der dritte hier zu zitierende Systematiker Eilert Herms bemerkt: „Werden die alten Bekenntnisse nicht mehr als Grundlagen der Ordnung geachtet, treten de facto neue an ihre Stelle. Oder – eine andere Möglichkeit – die Gemeinschaft tritt ein in einen definitiven Auflösungsprozess.“87 Evangelische Kirche im Kraftfeld eines neuen Kulturprotestantismus – aber ohne Kompass?

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