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1 Kirche ohne Volk?

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An der Lage der großen Kirchen in unserer Kulturlandschaft gibt es religionssoziologisch wenig zu deuteln. Fehlende religiöse Erfahrungen und nicht mehr vorhandenes religiöses Wissen führen „ganz offensichtlich dazu, dass vielen Menschen ein Leben ohne Religion als ganz selbstverständlich erscheint. Dass es vor diesem Hintergrund in nächster Zeit zu einer Renaissance der Religion in ihrer traditionellen Form kommen wird, erscheint somit eher unwahrscheinlich.“2 Die (post-)moderne Zivilgesellschaft kann sich vielleicht mit einer Zivilreligion3 anfreunden, aber kaum noch mit überkommenen, inhaltlich durch heilige Schriften und Bekenntnisse bestimmten Religionen4. Zwar werden die Kirchen toleriert und wegen ihrer sozialpolitischen Nützlichkeit weitgehend akzeptiert. Doch jedes Jahr wenden sich viele Menschen innerlich und sogar äußerlich durch Austritt von ihr ab: Dominant auf dem religiösen Feld sind „nach wie vor die großen christlichen Kirchen, die allerdings an Ausstrahlungs- und Anziehungskraft verlieren“5.

Angesichts dieses gesamtgesellschaftlichen Kontextes im Abendland ist es wenig verwunderlich, wenn die einstigen Volkskirchen heutzutage im Volk immer weniger Rückhalt finden6. Evangelische und katholische Kirche sind in Deutschland von der umrissenen Entwicklung mittlerweile nahezu gleichermaßen betroffen7. Diesen Befund könnte man wie ein Naturereignis hinnehmen und auf der Ebene der Kirchenleitungen wie auch in den Gemeinden seufzend mit Schulterzucken quittieren. Man könnte aber auch genauer hinsehen – und den Versuch wagen, Statistiken nicht einfach schönzureden.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich: Der beträchtliche Bevölkerungsanteil der evangelischen Kirche hat sich zwischen 1950 und 2010 nahezu halbiert. Dagegen ist er im selben Zeitraum bei den Katholiken lediglich um rund sechs Prozentpunkte zurückgegangen. Das ist ein höchst auffälliger Unterschied. Die noch nach dem Zweiten Weltkrieg zahlenmäßig in Deutschland führende Konfession hat den ersten Platz mittlerweile an die römisch-katholische Kirche abgeben müssen und „ist in den Status einer Minderheitskonfession abgerutscht“8. Solch erstaunlich hohe Abwanderung ist dabei vor allem in Richtung der Konfessionslosen erfolgt9. Aus diesen Befunden lässt sich ablesen: Evangelische Kirche weist im zeitgenössischen Vergleich ein deutlich geringeres Bindungspotenzial auf.

Dies dürfte nicht nur mit den stärkeren religiösen Einbindungsfaktoren der katholischen Kirche zusammenhängen, sondern auch mit den Ausformungen des – hier im weiteren Sinn verstandenen – Neuprotestantismus. Unter diesem Begriff kann man die Weiterentwicklung des Protestantismus seit der Aufklärung verstehen, der zwecks unumgänglicher Anpassung an das moderne Denken die historisch-kritische Wissenschaft bejaht und das Erbe der Reformation im Geist fortschrittlicher Weltsichten und Lebensdeutungen umzuformen sucht. Namentlich der Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch hat vor dem Ersten Weltkrieg in diesem Sinne Alt- und Neuprotestantismus epochal unterschieden10. Vereinfachend lässt sich sagen, dass die konservative Strömung in der evangelischen Kirche eher an substanzielle Bestände des Altprotestantismus anzuknüpfen sucht, während die liberale Strömung neuprotestantische Tendenzen variantenreich immer weiter vorantreibt und kulturprotestantische Grundideen neu belebt.

Tatsächlich hat in der evangelischen Kirche dank ihrer neuprotestantischen Kräfte eher und stärker als im Katholizismus eine Einlassung aufs moderne Zeitalter greifen können – und offensichtlich dazu beigetragen, das religiöse Bindungspotenzial vergleichsweise auf lange Sicht zu mindern. Religionssoziologisch waren freilich obendrein ungünstige Faktoren wirksam: „Auch kulturelle Veränderungsprozesse wie die Rationalisierung des Weltbildes, die Pluralisierung von Weltdeutungsangeboten und die Ausbreitung einer Konsum- und Erlebniskultur haben den Gültigkeitsanspruch religiöser Welterklärungen relativiert und dazu beigetragen, dass immer mehr konkurrierende Alternativen zur Religion bereitstehen. Zudem wachsen offenbar immer mehr Menschen von Anfang an ohne jeglichen Bezug zur Religion auf, was deren Aufgeschlossenheit für religiöse Dinge im späteren Leben von vornherein reduziert.“11 Je mehr sich in den zurückliegenden Jahrzehnten im Zusammenhang eines wachsenden Individualismus sogenannte Patchwork-Religiositäten ausgebildet haben, während gleichzeitig der Säkularismus immer noch weiter um sich greift, sind die Folgen für jede volkskirchliche Statistik notgedrungen anhaltend negativ. Dabei haben vor allem infolge der neueren Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche die Austrittszahlen mittlerweile auch dort zugenommen und in den Jahren 2010 und 2013 die der evangelischen Kirche sogar getoppt12.

Die kirchliche Statistik zählte 2014 noch 23,9 Millionen Mitglieder der katholischen Kirche; 2003 waren es 26,1 gewesen – also gab es binnen eines Jahrzehnts einen Verlust von rund zwei Millionen. Hingegen hatte die Evangelische Kirche in Deutschland 2014 noch etwa 23 Millionen Mitglieder – und gemessen an ihren stolzen 29 Millionen im Jahr 2003 einen fast dreifach so hohen Verlust zu verzeichnen. Heute liegt die Mitgliederzahl auf evangelischer Seite bereits unter 22 Millionen, katholischerseits noch über 23 Millionen. Nachdem die Gesamtbevölkerung über 81 Millionen ausmacht, nähert sich der Gesamtanteil der Christen in Deutschland zusehends der Fünfzig-Prozent-Marke. Und selbst die dürfte in einigen Jahren unterschritten sein, falls der aufgezeigte Trend anhält. Der Begriff „Volkskirche“13 wird damit hierzulande für beide Konfessionen immer fragwürdiger.

Freilich kann man keineswegs sagen, die Kirchen würden bereits im Sterben liegen. Aber der ständig sinkende Pegelstand berechtigt dennoch mittel- und langfristig zu ernster Besorgnis – insbesondere auf Seiten der Evangelischen. Gewiss kann man sich hier nach wie vor mit schönen Befunden trösten: „Das Gemeindeleben äußert sich neben dem Gottesdienstbesuch und den Amtshandlungen in einer Vielzahl von regelmäßigen Kreisen und Veranstaltungen.“14 Immerhin 1,5 Millionen Erwachsene besuchen in Deutschland regelmäßig einen der 128.000 Kreise, die von den Kirchengemeinden angeboten werden. Auf besonderes Interesse stoßen dabei Kirchenchöre und Singkreise sowie Senioren- und Frauenkreise. Knapp 14.000 Bibel- und Gesprächskreise mit insgesamt rund 110.000 Teilnehmenden gibt es derzeit EKD-weit. Und pro Sonn- und Feiertag werden rund 17.000 Gottesdienste gefeiert – mit je rund 800.000 Besuchern. Aber für ein Land wie Deutschland sind solche Zahlen doch recht übersichtlich. 800.000 evangelische Gottesdienstbesucher – das sind kaum noch ein Prozent der Bevölkerung! Und ob Sing- und Seniorenkreise, die in der evangelischen Statistik an der Spitze stehen, ein überzeugender Erweis von evangelischem Leben sind, wird man stirnrunzelnd fragen dürfen. Offenbar bleibt es vielmehr bei dem von Theo Sorg schon vor vierzig Jahren beobachteten, langsam fortschreitenden „Vorgang des inneren Ausblutens der Institution Volkskirche“15.

Auch die relativ schönen Besucherzahlen von außergewöhnlichen Events wie namentlich dem „Kirchentag“ können da nicht wirklich trösten16. Und ebenso wenig beruhigt ein Blick auf globale Maßstäbe17. Innerhalb der weltweiten Christenheit, die heute und wohl auch in den kommenden Jahrzehnten etwa ein Drittel der Weltbevölkerung umfasst, zählt der Protestantismus zwar zu den größeren Konfessionen. Alle protestantischen Gemeinschaften zusammengerechnet umfassen ihrerseits ein gutes Drittel der christlichen Religion, während mehr als jeder zweite Christ auf dem Globus ein Katholik ist. Doch macht der Protestantismus insgesamt kaum sechs Prozent der steigenden Weltbevölkerung aus.

Die Feiern zum 500-jährigen Reformationsjubiläum dürfen also nicht überschäumend ausfallen18. Zweifellos können evangelische Christen im Blick zurück in vieler Hinsicht stolz und dankbar sein: Die Kirche, zu der sie sich zählen, hat wahrhaftig Geschichte geschrieben. Indes – die neueren Entwicklungen geben eher Anlass zur Sorge. Zahlen sagen gewiss nicht alles, aber doch einiges. Das stetige Schrumpfen der evangelischen Kirche im Land der Reformation gibt zumindest Anlass zu selbstkritischen Fragen. Vielleicht ist es aber auch ein Gesundschrumpfen?

Zweifellos möchten sowohl die Konservativen als auch die Liberalen für ihre Kirche ungefähr das Beste. Beide Strömungen um die behäbige Mitte herum meinen, mit ihren Kräften angesichts der Herausforderungen der Zeit gute, ja unverzichtbare Dienste zu leisten. Und geht man davon aus, dass sie jeweils berechtigte Wahrheitsaspekte vertreten, wird man sie beide gutheißen müssen. Dennoch handelt es sich um solche Kräfte, die das Kirchenschiff ins Wanken bringen. Ihre Kritik führt auf beiden Seiten zum Teil zu Zersetzung, zum Teil zu Abwanderung. Der liberale Flügel möchte mit dem Zeitgeist vermitteln; aber solche „Vermittlung“ mündet nicht selten in Entfremdung von der religiösen Substanz, in geistliche Erosion. Der konservative Flügel möchte vor dem Zeitgeist bewahren; aber solche Bewahrung mündet mitunter in Entfremdung von der „modernisierten“ Kirche. So erklärt beispielsweise der Nuklearmediziner Andreas Desing, er habe ernsthaft erwogen, ob nicht inzwischen der Zeitpunkt gekommen sei, als Christ aus der evangelischen Kirche auszutreten: Die Mitgliedschaft werde ihm „in zunehmendem Maß zu einer großen Anfechtung“19. In seinen Augen ist die EKD dabei, das Erbe der Reformation gänzlich zu verspielen.

Nicht ganz zu Unrecht wird dem Protestantismus eine ihm innewohnende Tendenz zur konfessionellen Spaltung vorgeworfen20. Wo der Glaube in gewissem Gegenüber zur verfassten Kirche ein so großes Gewicht erhält wie im evangelischen Bereich, dort erhöht sich naturgemäß die Gefahr, dass seine jeweilige Ausprägung womöglich kirchentrennend wirkt21. Insgesamt wird zwar der Protestantismus im Ansatz durch das Ideal des sogenannten „protestantischen Prinzips“22 zusammengehalten. Gemeint ist damit der Rechtfertigungsglaube mit den Implikationen der völligen Angewiesenheit des sündigen Menschen auf Gottes Gnade, wie sie sich in Jesus Christus realisiert hat. Aber was passiert, wenn selbst das protestantische Prinzip als solches von liberaler Seite zumindest indirekt in Frage gestellt oder in vielleicht doch fragwürdiger Weise „transformiert“ wird23? Dann kommt es unweigerlich zu dem, was der evangelische Theologieprofessor Joachim Kunstmann in dem Satz zusammenfasst: „Die Kirche schafft sich selbst ab …“24

Ist das eine übertriebene Diagnose? Kunstmann beruft sich auf religionssoziologische Befunde und beklagt, eine alte Tradition, die Kultur und Menschen geprägt und genährt habe, gehe offensichtlich ihrem schnellen Ende zu. Von daher kommt er zu der Feststellung: „Man sollte in Kirchenkreisen eine hoch erregte Debatte erwarten über Sinn, Zweck und Auftreten der Kirche. Das Gegenteil aber ist der Fall. Bis in die Kirchenleitung hinein herrscht eine gutmenschliche Harmonieseligkeit, die keinerlei Anlass für Selbstbefragung sieht. Kritik gilt da schnell als Nestbeschmutzung.“ Kunstmann kann nur noch den Kopf schütteln: „Da geht eine Kirche auf das Reformationsjubiläum zu, die sich gegen Reformation und prophetische Kritik komplett immunisiert hat.“ Deuten nicht auch diese Beobachtungen darauf hin, dass man es zusehends mit einer „Kirche ohne Volk“ zu tun hat?

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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