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3 Rechtfertigungslehre im Nebel?

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Martin Luthers Rechtfertigungslehre gilt weithin als das Gütezeichen der evangelischen Kirche. Das Wort „evangelisch“ gehört dabei ebenso wie der Begriff „Rechtfertigung“ zu jenen Wörtern, die der Reformator selber geschaffen hat, um das Spezifische seiner theologischen Zentralerkenntnis zu verdeutlichen. Ums Evangelium nämlich, um die frohe Botschaft dreht sich ungefähr alles in der Kirche der Reformation!

Doch was kann diese befreiende Rechtfertigungslehre noch ausrichten, wenn ihre Bezugsgrößen relativiert werden und nebulös verschwimmen? Ohne den Anker lebendiger Hoffnung auf Gottes verheißenes Heil, zu dem auch die Offenbarung seiner Gerechtigkeit, also eine Gerichtserwartung denknotwendig gehört, ist das ganze Gebäude auf Sand gebaut. Wenn die Perspektive aufs Endgericht modern oder postmodern zerbröckelt, kann das Evangelium von der göttlichen Gnade eigentlich nichts Wesentliches mehr ausrichten. Denn die Botschaft von der Annahme des Gottlosen aus lauter Liebe hat ihre Spitze, ihre Radikalität und Totalität gerade darin, dass sie sich nicht nur auf unser heutiges Dasein bezieht – nach dem Motto: „Du bist angenommen, so wie du bist.“ Vielmehr umfasst sie die freudige Zusage an den Glaubenden, für immer, nämlich auch und gerade im Allerletzten, im „Jüngsten“ Gericht vor Gott bestehen zu können. Diese frohe Botschaft, einst von den Reformatoren mit Blick aufs Neue Testament möglichst scharf herausgearbeitet, ergibt dort kaum noch Sinn, wo theologisch oder kirchlich versucht wird, sie auf das Maß einer Wellness-Religion zurechtzustutzen.

Schon 1963 hat der Lutherische Weltbund (LWB) die Notwendigkeit beschrieben, die Lehre von der Rechtfertigung zeitgemäß zu transformieren: „Heute […] befindet sich die Kirche in Verlegenheit, wie sie das Evangelium verkündigt – ob sie es nun unter dem Bild der Rechtfertigung oder in anderen Begriffen tut. Die Schwierigkeit, der die Kirche hier begegnet, ist nicht nur der Anstoß, den die Verkündigung des Evangeliums unter den Menschen immer erregt. Ihr fehlt ein Gegenüber, in dem die Stimme Gottes wiedererkannt würde. Die Frage, ob Gott ist, und wieso der Mensch seine Schöpfung ist, ist eine Zweifelsfrage, die auch uns zur Anfechtung werden kann. Die Botschaft von der Rechtfertigung setzt voraus, dass bei den Menschen eine Begegnung mit Gott stattfindet. Kann die Kirche diese Voraussetzung zur Wirklichkeit werden lassen? Kann der Mensch so auf die Wirklichkeit Gottes hingewiesen werden, dass er zur Frage nach der Rechtfertigung seiner Existenz von Gott geführt wird?“74 In der Tat ergibt die Rede von der Rechtfertigung des Gottlosen wenig Sinn, wo Menschen in ihrem kulturellen Kontext längst Gott losgeworden sind, sprich: Gott nicht mehr als Gegenüber wahrzunehmen gelernt haben. Gnadenhafte Gerechtsprechung im Endgericht interessiert nur, wo der apokalyptische Denkrahmen des Neuen Testaments bekannt ist und im Grundansatz bejaht wird.

Angesichts dieser Problematik hat sich die lutherische Bischofskonferenz im Rahmen ihrer Klausurtagung, die 2008 anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) in Wittenberg stattfand, ausführlich mit der Rechtfertigungslehre beschäftigt und erklärt: „Nach christlicher Überzeugung ist der Mensch nicht nur in diese Beziehungen eingespannt, er darf sich vielmehr als Person von dem umfassenden Gegenüber, von Gott bejaht, geliebt, anerkannt, und das heißt: gerechtfertigt wissen. […] Wir sind Gott recht ‚ohne des Gesetzes Werke allein aus Glauben‘. Weil dieses Gott-recht-Sein ein an keine Bedingung geknüpftes Geschenk Gottes ist, spricht man von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Diese bedingungslose Annahme durch Gott hat sich uns Christen durch die Verkündigung von Kreuz und Auferstehung Jesu von Nazareth erschlossen. Deshalb sind wir gerechtfertigt allein aus Gnade durch den Glauben um Jesu Christi willen […].“75 Diese Ausführungen sind keineswegs verkehrt – und doch in bezeichnender Weise verkürzt um die ausdrückliche, unüberhörbare Verankerung in der biblischen Hoffnungs- und Zielperspektive. Luthers Frage nach dem „gnädigen Gott“76 sei heutzutage modifizierend durch die Sinnfrage zu ersetzen. Dabei wird auf Gerhard Ebelings Dogmatik verwiesen. Doch liest man dort nach, findet man Erstaunliches: Ebeling sieht zwar, dass die Rechtfertigungslehre mitsamt ihren biblischen Voraussetzungen für den heutigen Menschen eine Zumutung darstellt. Aber er macht darauf aufmerksam, dass sie noch nie „zeitgemäß“, sondern immer schon anstößig war. Wolle man die Rechtfertigungsfrage im modernen Kontext durch die Sinnfrage ersetzen, so ergebe sich das Problem, „ob denn in dem Rahmen dieser dem heutigen Menschen gewohnten Denkweise die Sache des christlichen Glaubens überhaupt einzuzeichnen ist, ohne sie dabei preiszugeben“77. Vielmehr müsse die Sinnfrage, in der sich der Mensch selber zum Forum von Rechtfertigung mache, wiederum transzendiert werden.

Statt also die Rechtfertigungsbotschaft in den Horizont (post-)modernen Denkens zu übertragen und dabei womöglich ihre Kernsubstanz preiszugeben, gilt es umgekehrt, dieses Denken zu hinterfragen, indem es auf seine eigenen ungeklärten Letztfragen hin durchleuchtet wird. Wolfhart Pannenberg hat in diese Richtung weiterführende Überlegungen angestellt. Er betont, die Frage nach dem Sinn des Ganzen habe zu beachten, dass als Ursprung der Ganzheit die sie vollendende Zukunft zu denken sei78. Im Bilde gesprochen: „Auch als Steckling schon und auf dem Wege ihres Wachstums bis zur Blüte ist eine Zinnie eine Zinnie, obwohl die Blume ihren Namen trägt wegen ihrer Blüte.“79 Werde nicht beispielsweise das Ganze eines Liedes nur im Vorgriff auf seinen noch ausstehenden Abschluss erfasst80? Wenn die einstige jüdische Apokalyptik zum Ausdruck gebracht habe, dass „das Ende der Weltgeschichte alle ihre Ereignisse und das Leben jedes einzelnen Menschen in sein endgültiges Licht rücken“ werde, mache das sie auch heutzutage zu einem intellektuell zumutbaren, ja aufschlussreichen Denkmodell. Nur so sei überhaupt die Botschaft vom Reich Gottes verstehbar, weil sie ja „als alles Geschehen umfassend zu denken ist, das Weltgeschehen im Ablauf der Geschichte aber erst von deren Ende her als Ganzes in den Blick kommen kann […]“81. Es gehe um „ein künftiges Gotteshandeln, das alle menschlichen Vorstellungen übersteigt, aber dennoch bezogen ist auf das gegenwärtige Dasein der Menschen mit seiner humanen Unabgeschlossenheit […]“82. Menschliches Fragen umfasst demnach letztlich durchaus auch ein Gehör für apokalyptische Töne – nicht zuletzt angesichts der heutigen „apokalyptischen Perspektiven einer Zerstörung der irdischen Umwelt der Menschheit durch den Mißbrauch der Technik“83! Laut Pannenberg eignet dem menschlichen Bewusstsein von daher ein ekstatischer Charakter: In seiner zeitlichen Strukturiertheit eilt es ständig – etwa im Modus der Sorge – der Gegenwart voraus und denkt Zukünftiges, fragt also auch nach dem Sinn und Ende des Zeitlichen84. Daraus folgert Pannenberg: „Reich Gottes und Auferstehung der Toten – das sind nicht abstruse Traumbilder antiker Autoren oder dem natürlichen Verstehen entzogene Offenbarungswahrheiten; es handelt sich auch nicht um Verheißungen, die nur in einer losen und zufälligen Beziehung zur Lebensproblematik des Menschen stehen, sondern diese beiden Gedanken, Reich Gottes und Totenauferstehung, sprechen die Bedingungen für die Vollendung der menschlichen Bestimmung aus.“85

Entsprechendes gilt für den Gedanken eines Endgerichts am vom Schöpfer und Vollender herbeigeführten Ende dieser Weltzeit: Er hat mit der Sinnganzheit von Schöpfung und Vollendung zu tun. Folglich bedeutet die Rechtfertigungslehre in ihrem Gesamtzusammenhang keineswegs etwas schlechthin Unverständliches und deshalb Unzumutbares für heutige Menschen. Vielmehr eröffnet sie samt ihren Bezügen eine Tiefe des Denkens, die dem Zeitgeist in der Regel abgeht. Damit tut sich auch eine neue Hoffnungsperspektive auf – zumal der Gedanke des Gerichts wohl Straf- und Läuterungsaspekte, nicht aber unbedingt notwendig auch eine ewige Hölle einschließt, sondern um Jesu Christi willen durchaus universal hoffen lässt86.

In der reformatorisch begründeten Rechtfertigungslehre geht es in jeder Hinsicht um Ganzheitlichkeit – und insbesondere um den ultimativen Freispruch in Gottes Endgericht. Die Sinnfrage ist dabei selbstverständlich mit eingeschlossen. Nur wo Ganzheitlichkeit in diesem umfassenden Sinn verstanden ist und im Zusammenhang der Botschaft von der Rechtfertigung zum Ausdruck gebracht wird, ist evangelische Kirche bei ihrem Eigentlichen, um dessentwillen es sie geben muss. Sie steht und fällt mit dem Artikel von der Rechtfertigung – das wussten schon die Alten87. Heute ist diese Einsicht ernster zu nehmen denn je, denn es geht inzwischen wirklich ums „Eingemachte“.

Dass es die evangelische Kirche neben der katholischen Kirche gibt, daran ist man in deutschen Landen seit bald einem halben Jahrtausend gewöhnt. Im Ursprungsland der Reformation ist dieses Nebeneinander eine leidige Selbstverständlichkeit geworden, längst gepflegt im Namen der Religionsfreiheit. Wenigstens hat das zurückliegende halbe Jahrhundert dazu geführt, dass auch immer öfter ein Miteinander der großen Konfessionen zu erleben ist. Aber Ökumene erweist sich allen Fortschritten zum Trotz als zähes Geschäft. Mittlerweile sind zwar „ökumenische“ Ehen zur Normalität geworden, doch ein gemeinsames Abendmahl für die Verheirateten bleibt immer noch die Ausnahme. Die Konfessionstrennungen ziehen sich oft quer durch die Familien, so wie sie sich schon lange, lange durch manche Ortschaften ziehen. Eine Werbung fürs Christsein sind solche Zustände kaum. Auch unter diesem Aspekt stellen sich immer mehr Christen die Frage: Wieso muss ich eigentlich evangelisch bleiben? Und das umso mehr, als aus Rom um die Jahrtausendwende mit der Verlautbarung „Dominus Iesus“ unmissverständlich klargestellt wurde, die evangelische Kirche könne nicht als Kirche im Vollsinn des Begriffs gelten88.

Gewiss, das Markenzeichen des Evangelischseins verlockt zum Bleiben: eben die zuallererst von Martin Luther herausgearbeitete Rechtfertigungslehre. Doch selbst in dieser Hinsicht lässt sich fragen: Gab es nicht 1999 die groß gefeierte „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“? Ist mit diesem ökumenischen Akt nicht eine Einigung in einer ganz wesentlichen Frage erreicht worden, so dass evangelische Kirche eigentlich katholisch „heimgeholt“ werden könnte, ja gewissermaßen überflüssig geworden ist?89

Es geht bei bewusstem Evangelischsein um das Verständnis des Evangeliums selbst. Was heißt es also, Mitglied der evangelischen Kirche zu sein? Martin Luther hatte im Vorfeld des Geschehens von 1517 im Zuge intensiven Ringens mit Bibeltexten das Evangelium plötzlich neu verstanden. Ihm war förmlich ein Licht aufgegangen; man spricht von seinem „Turmerlebnis“90. Hatte er bis dahin gedacht, Gott drohe durch das Evangelium mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn, so leuchtete ihm beim Brüten über der Paulus-Stelle „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Röm 1,17) plötzlich die Gerechtigkeit Gottes als positive Eigenschaft des Allmächtigen ein. Er begann zu verstehen, dass der Mensch als Gerechter, als Freigesprochener durch ein Geschenk des höchsten Richters lebt, rein aus Glauben heraus. Das Evangelium offenbarte also nicht die hinrichtende, sondern die froh und frei machende Gerechtigkeit Gottes als eine für den Menschen passive, ihm Gnade und Barmherzigkeit erweisende Macht. Im Rückblick formulierte der Reformator: „Da fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht.“91

Die Kirche, in der Luther groß geworden war, hatte ihm und unzähligen seiner Zeitgenossen ein Gottes- und Christusbild vermittelt, das den Gerichtsaspekt betonte und mit Drohungen und Angst arbeitete. Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen war insofern ein gespaltenes, ein zutiefst beunruhigendes, dem verzweifelte, ja zweifelhafte Versuche eines fromm gemeinten Arrangements aufhelfen sollten. Wer die Bedingungen der Gesetze Gottes und der Kirche erfüllte, hatte Chancen auf eine Rettung im Endgericht. Doch wer konnte sicher sein, alle Bedingungen erfüllt zu haben? Nur die bedingungslose Zusage der Gnade, der die vertrauensvolle Hingabe im Glauben entspricht, kann hier Befreiung, Klarheit und inneren Frieden bringen. Die Botschaft von der geschenkweisen Rechtfertigung des Sünders ist allein wirkliches Evangelium – zu Deutsch: Freudenbotschaft.

Wer sich evangelisch nennt, sollte das im Grundsatz begriffen und die daraus erwachsende Freiheit eines Christenmenschen erfahren haben. Aber wem liegt noch an solch einer Freiheit angesichts eines „leeren Himmels“ (Heinz Zahrnt)92? Wie kann das Evangelium erfreuen in einer Zeit, in der die göttliche Gnade kein erstrebenswertes Gut mehr darzustellen scheint, weil der biblische Richtergott dem autonomen und erst recht dem postmodernen Zeitgenossen kaum mehr einleuchtet? Ruft protestantischer Rechtfertigungsglaube deshalb nicht nach Umformung? Oder impliziert er wesentliche Inhalte, die für evangelische Kirche letztlich unverzichtbar wahr bleiben?

Solche Fragen sind hochaktuell – auch wenn ein nicht geringer Teil der Kirchenmitglieder und auch kirchenleitender Organe sich scheut, sie gründlich anzugehen. Notwendig ist substanzielle Besinnung im Dialog der unterschiedlichen Strömungen des heutigen Protestantismus. Das Reformationsgedenken ist der richtige Zeitpunkt, diesen Dialog zu fordern und zu fördern. Hier muss es um ein spirituelles Ringen gehen, das sich in unserer Zeit nicht mehr nur nach außen zu wenden hat, sondern durchaus auch innerhalb der eigenen Konfession angesagt ist. Um diese Art von „Zerreißprobe“ führt kein Weg herum: Sie ist nicht gegen die Einheit der Kirche gerichtet, sondern dient ihr zutiefst.

Entsprechendes Bemühen wird immer ein Ringen um angemessenes Verstehen und stimmige Vermittlung der befreienden Botschaft sein. Und eigentlich dürfte das gar keine „Mühe“ bedeuten, sondern inneres Bedürfnis all derer sein, die von der Erkenntnis des ihnen geschenkten göttlichen Schatzes überwältigt und entsprechend motiviert sind. Denn der in Entfremdung und Vergänglichkeit verstrickte Mensch – so beschreibt Martinus das Evangelium – kann „nichts Tröstlicheres hören als diese teure, liebliche Botschaft von Christus. Sein Herz muss von Grund aus lachen und fröhlich darüber werden […].“93 Nur wo solches Lachen zu Hause ist und immer wieder neu Heimat anbieten darf, lohnt es sich, dass evangelische Kirche angesichts und trotz aller Krisen bleibt.

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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