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Die Vorbildqualität des Leiters

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Wenn sich ein Leiter bemüht, in allen Situationen der Beste zu sein, erschöpft er sich und wird bald entkräftet aufgeben – ähnlich wie ein Fahrer, der die Tour de France dadurch gewinnen will, dass er jederzeit an der Spitze fährt. Wesentlich ist, dass der Leiter zur rechten Zeit seine Qualitäten demonstriert und dass es ihm gelingt, Leistungen anderer so mit sich zu verknüpfen, dass sie seine Vormacht steigern, nicht gefährden. Wie viel Macht ein Leiter anstrebt, hängt von seinen Größenfantasien ab, von dem Volumen seines ungestützten, potenziell unrealistischen Selbstgefühls.

Wie viel Stabilität und Konstruktivität er für sich und seine Organisation erreicht, hängt mit der Festigkeit seines Selbstgefühls zusammen, die es ihm erlaubt, die unvermeidlichen Krisen zu verarbeiten. Die Umwandlung des emotional fundierten, von Grandiosität und Entwertung, Selbstüberschätzung und narzisstischer Wut geprägten Selbstgefühls in mutige, aber durchdachte Haltungen ist die Aufgabe, welche den Kern einer professionellen Führung ausmacht.

Unzweifelhaft hat der Leiter ein Selbstbewusstsein, das ihn befähigt, anderen die Richtung vorzugeben und nicht von ihnen in seiner Richtung bestimmt zu werden. Doch sind nach allen Forschungsergebnissen die Leiter nicht frei in ihren Entscheidungen; sie gewinnen ihre Macht vielmehr daraus, dass sie die Normen einer Gruppe formulieren und in Handlungsvorschläge umsetzen. Der »natürliche« Leiter ist nach Untersuchungen in spontan gebildeten Hierarchien – etwa in Street Gangs – nicht der Stärkste, der Intelligenteste oder der Schönste einer Gruppe, sondern jemand, der sich in keinem dieser Merkmale aus der Spitzengruppe entfernt, aber zugleich eher vielseitig und integrativ ist.

Spezielle Begabungen engen, je ausgeprägter sie sind, die Beweglichkeit ein: Sie führen dazu, sich im Bereich des größten Könnens aufzuhalten, und erschweren es dadurch, unterschiedliche Aktivitäten und Bereiche kennen zu lernen und zu integrieren. Daher ist der Leiter nur in Ausnahmefällen in einem Gebiet der beste Spezialist und niemals in allen. Jener Leiter hat die größte Aussicht auf Machterhaltung, der alle Möglichkeiten ausschöpft, Menschen zu überzeugen: Er muss ihnen Hoffnung einflößen, ihr Vertrauen wecken und ihre Liebe gewinnen können, darf sich aber nicht scheuen, Schmerzen zuzufügen und Angst zu machen.

Wenn er eines dieser Herrschaftsinstrumente nicht handhaben kann, ist es für ihn besser, darauf zu verzichten: Ungeschickte Arbeit gefährdet sein Ansehen. Aber den Ausschlag, ob jemand seine Führungsqualitäten verbessern und professionalisieren kann oder im Gegenteil umso unfähiger wird, je weiter er aufsteigt,4 gibt das Selbstgefühl. Alle Praktiker, auch die Praktiker der Führung, lernen vor allem durch das, was sie tun: Sie beobachten die Auswirkungen ihres Handelns und orientieren sich beim nächsten Mal an ihren Erfahrungen. Dieser Prozess kann von außen gefördert, aber keineswegs durch wissenschaftliche oder theoretische Informationen ersetzt werden. Der Praktiker wendet immer sich selbst auf konkrete Situationen an, nicht eine akademische Lehre. Und er lernt am meisten aus dem, was er mit sich selbst und als er selbst bewirkt hat.

Wer stabil selbstbewusst ist, kann sich Fehler zugestehen und gleichzeitig die Bedeutung des Fehlers für sein Prestige realistisch einschätzen. Dadurch ist er viel belastbarer und kann seine Energie bündeln. Wer heute in einem Unternehmen Erfolg hat, ist – wenn überhaupt – niemals in der klinisch extrem auffallenden Weise gestört, wie man es bei Süchtigen oder Dissozialen beobachten kann. Er kann sich benehmen, kann sich an Regeln halten, verfügt über ein Mindestmaß an Disziplin und Anpassungsbereitschaft. Das heißt, dass seine Störung so lange wenig sichtbar bleibt, wie er sich in der Karrierephase befindet, in der er Vorgesetzte hat, deren Wohlwollen über seine Zukunft entscheidet.

Das wird sich schlagartig ändern, wenn dieser Rahmen fortfällt. Die extremen und beunruhigenden Möglichkeiten einer Charakterveränderung durch den Verlust der Einordnung in einer Hierarchie haben die alten Historiker als Cäsarenwahn beschrieben. Shakespeare wusste, wovon er sprach, als er Fortinbras im ›Hamlet‹ über den toten Prinzen sagen lässt: »Er hätte, wär er hinaufgelangt, sich höchst königlich bewährt.«

Aus diesen Gründen sind auch die Auskünfte, welche Testpsychologie oder Planspiel über Führungsfähigkeiten geben, in ihrer Gültigkeit begrenzt. Sie können niemals die Langzeitbeobachtung ersetzen, die vielleicht am ehesten geeignet ist zu klären, ob eine Führungskraft von Regressionen auf primitive Allmachtsvorstellungen gefährdet ist, wenn sie den Platz an der Spitze erreicht hat. In allen Prüfungssituationen ist der Geprüfte auch ein Unterworfener. Er muss sich mit einer Autorität außerhalb seiner selbst auseinandersetzen. Diese Situation diszipliniert und kann deshalb nicht mit Situationen verglichen werden, in denen der Betreffende niemanden über sich dulden muss. Den Manager in einem echten Entwicklungsprozess seiner Führungsfähigkeiten befreit es, wenn er endlich keinen Menschen mehr über sich hat, sondern sich direkt mit den Realitäten seiner Organisation und des Marktes auseinandersetzen kann. Den Manager, der seine Selbstgefühlsstörung bisher durch Fügsamkeit gegenüber einem bewunderten Chef kompensiert hat, überfordert gerade jene Freiheit, die einen anderen beflügelt.

Man wird einwenden, dass in der Wirtschaft die ökonomisch definierte Realität solche disziplinierenden Folgen hat. Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig, denn die Spielräume sind erfahrungsgemäß sehr groß. Die Durchsetzungskraft der kritischen Vernunft von Bankdirektoren, Aufsichtsräten usw. gegenüber einem entschlossenen Mann, der sich bisher bewährt hat, wird jedenfalls meist überschätzt. Auch die bürgerlichen Wähler Hitlers waren überzeugt, dass die Vernunft der Bürokratie und der Sachverstand von Justiz und Militär diesen halbgebildeten Aufschneider nach der Machtergreifung zähmen würden. Wie wir wissen, entwickelte sich die Realität des Dritten Reiches in der genau entgegengesetzten Richtung: Die gut funktionierende, sich Hitler unterwerfende deutsche Bürokratie machte den NS-Staat zur mörderischsten sozialen Apparatur, welche die Geschichte kennt.

Vielleicht ist jetzt ein erster Eindruck über das Dilemma der Führung aus psychoanalytischer Sicht entstanden: Ohne die Komponente der kindlichen Allmachts- und Größenvorstellung wird der Manager nicht aus der Sicherheit der Anpassung heraustreten. Jedoch mit ihr ist er gefährdet, den Kontakt zur Realität zu verlieren und allen Menschen, die ihm folgen, zu schaden. Wer kein Risiko eingeht, auch nicht das scheinbar Unmögliche wagt, wird nur wenig bewegen. Wer aber chronisch sich selbst überschätzt und die Widerstände der Umwelt bagatellisiert, wird Gefahr laufen, seine und die Ressourcen seiner Mitarbeiter zu vergeuden.

Ein Beispiel für die modernen, schwer erkennbaren Formen des Cäsarenwahns bietet die Pleite der Vulkan-Werften in Bremen. Der schuldige Manager hatte in früheren Stadien seiner Karriere immer anderen zugearbeitet. An die Spitze gelangt, entfernte er sich mehr und mehr von der wirtschaftlichen Realität und konnte keine Kritik mehr annehmen. Auch angesichts seines Versagens leugnete er jede Verantwortung für die Katastrophe. Während der Staatsanwalt wegen Betrugs gegen ihn ermittelte, hoffte der entlassene Manager immer noch, dass ihn die Konkursverwalter rufen würden, um den Scherbenhaufen aufzuräumen.5

Kaum hatte er die Macht über ein großes Unternehmen, ersetzte er die kritische Prüfung der Realität durch Größenvorstellungen. Er griff futurologische Visionen auf, wonach das Meer die Lösung für die Übervölkerung bringen sollte. In seiner schönen neuen Maritimwelt sollten Windparks entstehen und Strom erzeugen, sollten Erze in Tiefseebergwerken abgebaut und riesige Fischherden gezüchtet werden. Solche Vorstellungen sind nicht falsch, sie werden aber zu unternehmerischem Gift, wenn ein Manager sie aufbläht und überzeichnet, sobald er erkennen muss, dass seine Sanierungsversuche keines der Probleme des Unternehmens gelöst haben.6

Persönlichkeit und Menschenführung

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