Читать книгу Persönlichkeit und Menschenführung - Wolfgang Schmidbauer - Страница 8

Kannibalismus an der Börse

Оглавление

Ungezähmte Grandiosität gehört zu den psychologischen Zutaten jener Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung, die in einen tiefen Sturz übergehen können. Solche »Depressionen« führen zu immensen Verlusten in wirtschaftlicher wie menschlicher Hinsicht. Sie scheinen jäh über uns hereinzubrechen. Wer genauer beobachtet, findet freilich häufig eine Vorphase der Depression, einen Höhenflug vor dem Absturz.

Es ist die Verleugnung der Realität, die bei den Manikern besonders auffällt, in milderen Formen aber sozusagen die schleichende Psychose der Konsumgesellschaft ist, die ja – den manisch Erkrankten sehr ähnlich – zu viel ausgibt, zu wenig spart und das Erbe ihrer Kinder verschwendet.

Diese Verleugnung ist deshalb so tückisch, weil sie den kritischen Blick in jener Zeit verstellt, in der es noch relativ einfach wäre gegenzusteuern, den Sturz zu verhindern, den Höhenflug zu bremsen und die manische Illusion zu korrigieren. Das aus der Arbeit mit narzisstischen Störungen wohlbekannte Prinzip, dass die manische Verleugnung zwar leicht zu verändern, aber schwer zu erkennen ist, die depressive Krise hingegen leicht zu erkennen, aber schwer zu verändern, spiegelt sich in wirtschaftlichen Entwicklungen. Solange alles gut geht, kostet es nur sehr wenig, sich abzusichern. Wenn hingegen der Absturz allen deutlich geworden ist, können gerade die nicht mehr aussteigen, die am meisten riskiert haben. Am ärgsten betreffen Börsencrashs immer jene ängstlichen Personen, die lange zögern, ob der Aufschwung auch wirklich stabil ist, spät einsteigen und dann viel verlieren.

Durch den Kult des »Shareholder Value« in den USA sind Formen von Größenwahn, die bei dem oben geschilderten Manager der Vulkan-Werften noch wie eine individuelle Entgleisung wirken, zu einem System geworden, dessen Schattenseiten seit dem Kurssturz am 11. September 2001 deutlicher werden, aber noch längst nicht ausgelotet sind. Dabei geht es darum, Fiktionen zu verkaufen und mit allen legalen und einigen illegalen Mitteln den Aktieninhabern beziehungsweise -käufern zu vermitteln, dass das Unternehmen auf Erfolgskurs ist. Erfolgreich ist nicht der Manager, der reale und stabile Gewinne erwirtschaftet, sondern der Scharlatan, der solche Gewinne verspricht, etwa indem er eine Fusion in Gang setzt, die an der Börse gut ankommt und den Kurs in die Höhe treibt.

So entstehen überschuldete und an eigene Wachstumsprognosen wie die Sklaven an die Ruderbank gekettete Unternehmen. Die Kapitäne dieser Galeeren sehen nicht weiter als bis zur nächsten Bilanz, die notfalls mit allen möglichen Tricks bis hin zur absichtlichen Fälschung geschönt wird.

In diesen Kontext gehört auch, dass über solche Aufblähungen erst dann öffentlich gesprochen wird, wenn zu viele und zu große Seifenblasen platzen. Der Einbruch der »Neuen Märkte«, wo windige Medienunternehmen binnen weniger Jahre den Börsenwert großer und lange eingeführter Industriebetriebe erreichten, war im Grunde weniger verwunderlich als der Glaube so vieler Experten und Aktienkäufer, einen tiefen Blick in die Wertschöpfungen der Zukunft getan zu haben.

Unter dem Aspekt der in jedem Menschen schlummernden Grandiosität, die nur widerwillig Grenzen akzeptiert, ist das Geschehen in der amerikanischen Wirtschaft symbolträchtig genug. Viel Geld zu verdienen, zu haben, auf es zu hoffen ist in einer kapitalistischen Wirtschaft das einfachste Symbol der narzisstischen Expansion. Daher sind die Umstände, unter denen mächtige Firmen wie einer der größten Energiekonzerne der Welt (Enron) und andere Marktführer ihrer Branchen (der Telekommunikationskonzern Worldcom, der Druckerhersteller Xerox) zugestehen müssen, dass sie ihre Buchführung geschönt und dadurch die Börse getäuscht haben, auch psychologisch interessant. Im Jahr 2002 wurden mehr Bilanzen amerikanischer Großkonzerne angezweifelt als abgesegnet – eine schier unglaubliche Entwicklung hin zur Illusionsbildung, fort von einer Reflexion über das eigene Handeln.

Die Bilanz, in der Ausgaben und Einnahmen einander gegenübergestellt und daraus der Gewinn ermittelt wird, ist das klassische Instrument des Ich gegen Illusionen und Spaltungen. Wenn dieses Instrument nicht mehr von der Realität getragen wird, sondern Höhenflüge der Manager und der Aktionäre formuliert, dann verliert das wirtschaftliche Handeln seine Realitätsorientierung. Ein normaler Konkurs ist ein harmloses Ereignis, verglichen mit der Pleite nach Bilanzfälschungen.

Nach einer Skala von ›Business Week‹ hat der Manager einer Firma in den USA 1980 durchschnittlich 42 Mal so viel verdient wie ein Arbeiter. Im Jahr 1990 war es 85 Mal so viel, im Jahr 2000 aber 531 Mal so viel. Es ist kaum falsch, diese Steigerung mit der parallel dazu einsetzenden Ideologie des Börsenwerts um jeden Preis zu verknüpfen. Diese wurde seit 1986 populär, als Alfred Rappaport sein Buch ›Creating Shareholder Value‹ veröffentlichte. Der Internet-Handel beschleunigte und vernetzte die internationalen Geldmärkte. Jeder, der es sich zutraute und genügend Kredit oder Startkapital hatte, konnte binnen weniger Minuten per Mausklick Milliarden verschieben und durch Devisenspekulationen reich werden.

Persönlichkeit und Menschenführung

Подняться наверх