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Narzissmus, Spiel und Geld

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Ein Mann steht gelangweilt neben der Warteschlange von Autos, die in einer Stunde auf die Fähre zu seiner Ferieninsel eingeschifft werden. Ein zweiter Mann kommt hinzu, breitet ein Stück Stoff aus, fängt an das Hütchenspiel zu spielen, bei dem darum gewettet wird, unter welchem Hütchen ein gelber Papierball liegt. Jetzt kommt ein Dritter. Die beiden fangen an zu zocken. Fünfzig Euro, wenn du das richtige Hütchen errätst! Der gelangweilte Beobachter weiß genau, wo die gelbe Kugel liegt, aber der Mitspieler rät falsch. Fünfzig Euro wechseln den Besitzer. So geht das hin und her, mal gewinnt der eine, mal der andere, und jedes Mal ist der Beobachter ganz sicher, er hätte die richtige Lösung gewusst.

Schließlich mischt sich der gelangweilte Mann ein. Er will eigentlich gar kein Geld setzen, er will nur zeigen, wie schnell sein Auge ist, wie wenig er sich durch das Durcheinanderschieben der Hütchen verwirren lässt. Aber er muss wetten, sonst geht gar nichts, da sind sich die beiden Spieler einig. Und er ist sich ganz sicher, denn er sieht die gelbe Papierkugel sogar herauslugen. Also zieht er einen Schein aus der Tasche, schaut einen Moment nicht hin. Als er das Hütchen aufdeckt, ist es leer, das Geld verloren, großes Bedauern, er soll sofort weiterspielen, den Schaden gutmachen.

Der Mann, der sich da von zwei Taschenspielern hereinlegen ließ, wollte nicht spielen. Er musste sich später sogar eingestehen, dass er den Trick schon einmal in einem Abenteuerfilm gesehen hatte. Aber er konnte der Selbstbestätigung nicht widerstehen, die darin liegt, die Welt besser kontrollieren zu können als andere. Dadurch wurde er zum Opfer der beiden Trickbetrüger, die blitzschnell in dem Moment der Ablenkung, als er den Geldschein herausfingerte, die Hütchen vertauschten.

Weil Spielen ebenso süchtig machen kann wie Drogen, haben viele Staaten die Einrichtung von Spielbanken reglementiert und zum Teil gänzlich verboten. Aber was sind Spielbanken gegenüber dem Zocken an Devisen- und Aktienmärkten! Selbst im Herzen großer Konzerne und für seriös gehaltener Banken gibt es längst ganze Abteilungen von Berufsspielern, die nichts anderes tun als mit Devisen zu spekulieren und deren Kurse zu manipulieren, wenn sie es denn können. Wer sein Erspartes in einer Bank anlegen möchte, erhält unter Umständen einen Geldmarktfonds empfohlen – Spielgeld für die Zocker seines Kreditinstituts.

Nun ist jedem denkenden Menschen klar, dass die einzige realistische Gewinnchance auf lange Sicht die des Casinos ist, ganz ähnlich wie an Immobilienspekulationen (hierzulande Bauherrenmodelle und Ostimmobilien) verlässlich nur die Makler verdienen. Unbemerkt hat die Spielermentalität nach den großen, marktprägenden Konzernen gegriffen, so als würde die Spielbank nicht nur Croupiers beschäftigen, sondern auch eine ehrgeizige Truppe junger Spieler, die mit der Kundschaft um die Wette zocken.

Die Banken, die Manager, die Investmentberater und die Kunden haben allesamt das erspielte Geld als so begehrenswert angesehen, dass die Schranken von Selbstkritik und Disziplin gefallen sind. Es wurden eigene Mythen entwickelt – etwa der Mythos von den immensen Synergien durch den Zukauf von Umsätzen. Jedes Kind mit ein wenig Ahnung in Zoologie weiß, dass ein Raubtier, das eine große Beute verschlungen hat, erst einmal lange Zeit ziemlich unbeweglich damit beschäftigt ist zu verdauen. Wer die inneren Reibungen nach Fusionen ein wenig kennt, hat den Eindruck, dass die Schere zwischen dem Synergiegerede und den tatsächlichen, enormen Energieverlusten durch die Vermischung zweier Organisationen eine Weile immer weiter aufgeht. Irgendwann schließt sie sich wieder. Dann werden Profitsteigerungen durch Abspaltungen angekündigt. Das große Raubtier speit sozusagen wieder aus, was es gefressen hat und nicht verdauen konnte. Das Fachwort dafür ist »Outsourcing« – Quellen, die bisher im Machtbereich des Konzerns geflossen sind, werden der Übersichtlichkeit und besseren Kontrolle wegen nach außen verlegt.

In der New Economy, deren Modell bald in der Old Economy abgekupfert wurde, glaubten alle daran, dass nichts einen Tiger agiler und sprungkräftiger macht als das Verschlingen eines etwas kleineren Tigers. Niemand, der die Kostenersparnisse der Größe nicht nutze, könne die Zukunft überleben. Heute glaubt wieder jeder Berater daran, dass eine kleine, solide Firma besser ist als eine große, überschuldete.

In Wahrheit sind die Expansionsmöglichkeiten in vielen wichtigen Branchen (Energie, Chemie, Mobilität) ziemlich genau einschätzbar und nicht besonders üppig. Um dennoch den Aktienwert in die Höhe zu treiben, ist es verlockend, Wachstum zu kaufen; um das Versprechen von Wachstum zu untermauern, verlockend, die Bilanzen zu schönen oder den Konzern so zu verschachteln, dass die Schulden (wie bei Enron) in Unterfirmen verschwinden.

Das System gleicht, ins Grandiose gewendet, den Schneeballsystemen, mit denen Betrüger schon immer abkassiert haben: Hohe Ausschüttungen werden nicht durch reale Erträge, sondern durch die wachsenden Einlagen Gutgläubiger finanziert, so dass am Ende große Gruppen einer Gesellschaft (wie jüngst in Albanien) jeden für blöde halten, der sich diese Supererträge seines Ersparten entgehen lässt.

Wenn das System zusammenbricht, ist die Einsicht billig und der Verlust teuer. Solange es expandiert, ist es umgekehrt: Die Einsicht ist teuer, denn der Gewinn erscheint so billig. Zur Zeit der Höhenflüge konnte man gewissenhafte Sozialpädagogen kennen lernen, die ihre Stelle kündigten, weil sie mit Aktien in einem Monat mehr verdient hatten als durch ihre Arbeit in einem Jahr.

Damals waren die meisten Anleger und ihre Berater überzeugt, es werde immer so weitergehen. Tatsächlich drängte lange Zeit so viel Geld in die Börse, dass es immer jemanden gab, der eine überteuerte Aktie noch teurer kaufte. Parallel dazu wurden die Vorstände der Aktiengesellschaften mehr und mehr Selbstdarsteller, die Prospekte für die Jahresversammlung wurden von teuren Grafikern gestaltet; immer mehr Vorstandsvorsitzende beschäftigten PR-Berater.

Die narzisstische Grandiosität kann Führer und Geführte in einen Teufelskreis verstricken, der sich bei faschistischen Charismatikern ebenso beobachten lässt wie bei ökonomischen oder religiösen. Der Glaube begeisterter Anhänger stimuliert die Selbstüberschätzung von Menschen, die in einer Umgebung, die sie einer stärkeren Disziplin unterwirft und ihre Selbstkritik fördert, durchaus vernünftig bleiben können. Von Wellen der Zustimmung und Bewunderung getragen, verspricht der charismatische Führer Unmögliches. Er fühlt sich nun selbst in der Pflicht und löst seine Versprechen ein, indem er höhere Schulden macht. Dynamik um der Dynamik willen, grenzenlos, »wir werden weitermarschieren«.

Nachher sind sich dann alle einig, dass die Entwicklung von Anfang an auf Illusionen baute und die Versprechungen aus einer grandiosen Selbstüberschätzung kamen. Dann werden sich die Gläubigen damit rechtfertigen, dass schließlich auch Universitätsprofessoren hereingefallen seien.

Als Mussolini für Italien Kolonien in Afrika mit Hilfe von Giftgas und Luftangriffen eroberte, jubelten ihm die Massen zu. Als sich herausstellte, dass sich die Kolonisierten hartnäckig wehrten7 und das Unternehmen keinen Gewinn machte, schwand die Begeisterung; die Kolonialregierung leistete dem Angriff der Verbündeten (aufständische »Patrioten« und englische Truppen) kaum Widerstand. Als Hitler dem deutschen Volk Frieden und Größe versprach, jubelten die Massen. Als es Krieg gab, hofften viele auf den Besitz der Kornkammern und Ӧlfelder des Ostens. Erst nach der Niederlage von Stalingrad keimte der Gedanke, dass dort schließlich auch Menschen wohnten, die ihre Heimat gegen die Angreifer verteidigten.

Es ist überpointiert, Charismatiker, die Millionen Menschen ihrem Größenwahn geopfert haben, neben solche zu stellen, die nur Milliarden ihnen anvertrauter Gelder vor dem Götzenbild ihrer Grandiosität verbrannten. Aber der Vergleich mit Hitler mag helfen, uns die Gefahren zu verdeutlichen, die aus dem Jubel für eine Grandiosität kommen, die uns verspricht, wir könnten an ihr teilhaben.

Jede Grandiosität möchte zunächst eine gute Grandiosität sein, weil eine gute Grandiosität mehr narzisstische Bestätigung verspricht als eine böse. Aber da sie zwangsläufig an Grenzen stößt und Einschränkungen nicht akzeptieren kann, wird die ungemilderte Grandiosität am Ende immer in das »Böse«, in Wut und (Selbst-)Zerstörung führen. Die charismatische Persönlichkeit kann nicht auf ein realistisches Maß schrumpfen.

Da diese Grenzen einem narzisstisch weniger bedürftigen Menschen oft nicht einmal auffallen, wird es am Ende die »schillernde Persönlichkeit« sein, als die der Charismatiker seiner Umwelt in Erinnerung bleibt. Bescheiden, höflich, herzlich, ein Mensch, von dem man nichts Böses erwarten kann. So haben viele, die ihn persönlich erlebten, den Charismatiker beschrieben, der zuerst die jüdische Rasse in Europa und dann das eigene Volk vernichten wollte.

Wenn Charismatiker von Anfang an böse sind, wie die Superschurken in den Comics und Filmen des 20. Jahrhunderts oder Richard in Shakespeares Drama, der sich »entschließt, ein Bösewicht zu werden«, dann liegt das daran, dass sie in ihrem Streben nach der guten Grandiosität gescheitert sind und jetzt zerstören wollen, was sie an ihr Scheitern erinnert. Sie wollen jene vernichten, die erreichen, was ihnen versagt bleibt, jene aus ihrer Ruhe reißen, die einen Frieden genießen, den sie niemals finden können.

Das eigene Ich (die eigene Firma/die eigene Macht/das eigene Volk) ist niemals so groß, wie es sein müsste, um sich dieser Größe sicher zu sein. Daher müssen Charismatiker ihre Größe ständig beweisen, indem sie noch größer werden und andere, die ihnen den Rang streitig machen, verdrängen oder verschlucken. Die Nähe der charismatischen Grandiosität zum kannibalischen Narzissmus ergibt sich aus diesem Zwang zum dauernden Erfolg, zum dauernden Beweis der eigenen Überlegenheit.

Die Nähe der ökonomischen zur politischen Selbstüberschätzung lässt sich – ebenso wie die Folgen beider – an einem der spektakulären Amokläufe der letzten Jahre beobachten. Der Apotheker Mark O. Barton, ein einst braver Bürger, war 44 Jahre alt, als er in Atlanta, Bundesstaat Georgia, seine Frau und seine Kinder ermordete, zwei Faustfeuerwaffen einpackte und neun Angestellte zweier moderner »Spielbanken« erschoss.

»Daytrader« bieten seit Beginn des Höhenflugs der Börsen im Jahr 1996 in den USA Computerterminals zur Miete an, mit deren Hilfe ihre Kunden in Echtzeit selbst spekulieren können. Offensichtlich fühlte sich Barton von diesen Firmen betrogen und ausgenützt. »Der Markt ist nach unten gegangen, und ich hoffe, dass das euren Tag nicht ruiniert«, soll er gesagt haben, ehe er seine Waffen entsicherte und vier Angestellte der Firma erschoss, bei der er spekuliert hatte. Damit nicht genug, ging Barton zu einer anderen Daytrading-Firma in einem benachbarten Bürokomplex und erschoss weitere fünf Menschen. Wenige Stunden nach der Tat wurde er tot in seinem Auto gefunden.

Hier zeigt sich das Kippen der Selbstüberschätzung – »ich habe zwar nie gelernt zu spekulieren, aber dank meiner überlegenen Intelligenz werde ich euch alle übertreffen und schnell reich werden!« – in blinde Wut auf jene, die nicht wie der Täter verloren haben. Beneidet und vernichtet werden jene, die krisensicher verdient haben. Das tut ein Apotheker auch. Die heftigste narzisstische Wut richtet sich oft gegen den, der noch genießen kann, was ich selbst als meiner nicht würdig verworfen habe.

Die Grandiosität rächt sich an denen, die mit dem eigenen Scheitern verknüpft werden. Diese Rache hat sehr oft auch eine selbstzerstörerische Qualität. Ihr Opfer wird dann das eigene Ich, das seine Ziele nicht erreicht hat und daher wertloser ist als erwartet und dem das Fortleben in Wertlosigkeit ebenso erspart werden muss wie den Personen, die der Charismatiker zu lieben glaubt, die aber nichts anderes sind als ein Teil seiner Grandiosität.

Die Dynamik von solchen Amokläufen ist der von terroristischen Aktionen verwandt. Es ist kein Zufall, dass der Terrorist Bin Laden den immensen Börsenverlust nach dem 11. September als Sieg über den Imperialismus genussvoll ausgekostet hat. Auch er rächt sich für den eigenen Verlust an einer Sicherheit, die er sich selbst genommen hat, an jenen, die sie noch besitzen.8

Persönlichkeit und Menschenführung

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