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Jacobis Vermächtnis

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„Sei gegrüßt Manuel. Hab Dank für deine Informationen.“

Der Mann ging auf Manuel zu und legte seinen rechten Arm auf dessen Schulter. Manuel erwiderte sofort den Gruß, jedoch mit einem eher zurückhaltendem Lächeln. Aber es war ein Lächeln der Freude über das Wiedersehen.

Es wirkte auf Helena wie ein Ritual, bei dem sie keine Rolle spielte. Ein Ritual von Freunden, Kämpfern, Gefährten. Verwirrt musterte sie das Gebaren der beiden und merkte, wie ein ihr unbekanntes Gefühl in ihr aufstieg. Sie schleppt Manuel hierher und wird dann einfach mal so links liegen gelassen? „Entschuldigung? … Manuel? Wie? Ihr … ihr kennt euch? … Darf ich fragen, welche Informationen? Erklärt mir bitte mal einer, was hier eigentlich vor sich geht?“, meldete sie sich aufgebracht zu Wort.

Manuel wandte sich Helena zu. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regungen. Verschlossen und sehr ernst. Irgendetwas ging hier vor. Helena spürte es. So kannte sie ihren Freund nicht. So war er nicht. Lag es an diesem ihr unbekannten Mann? Helenas Blick wanderte zu dem Fremden und wieder zurück zu Manuel.

„Lena, darf ich dir Raidon vorstellen. Er ist ein … alter Freund von mir. Wir kennen uns schon sehr lange. Raidon hat hier im Antiquariat … “ Manuel bemerkte den erwartungsvollen Ausdruck auf Raidons Gesicht und beeilte sich mit einem kurzen Grinsen, seine Begleiterin vorzustellen. „ … und das ist Helena. Wir haben uns an der Hochschule kennengelernt. Sie studiert Literatur. Hauptsächlich Legenden und Mythen. Besonders haben es ihr die Salwidizer angetan.“ Bei den letzten Worten warf er seinem Freund einen vielsagenden Blick zu und übermittelte ihm auf telepathischem Weg: „Sie ist eine Auserwählte. Ich habe ihr einen der Feueropale gebracht.“ Auf Helenas Fragen bezüglich der übermittelten Informationen ging Manuel nicht näher ein. Das würde er später erklären müssen.

„Ja genau und deshalb sind wir hier. Wir wollen Herrn Jacobi um Hilfe bitten. … Wo ist er? Sie kennen doch Eusepius?“, ergänzte Helena Manuels Ausführungen und schaute sich argwöhnisch um. Noch immer hatte sie so eine Ahnung, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.

Ohne die Augen von der jungen Frau zu lassen, verneigte sich Raidon respektvoll vor ihr. „Helena. … Sie wollten also Eusepius Jacobi sprechen?“, stellte Raidon mehr fest, als er fragte.

Ganz die alte Schule. Vollendete Höflichkeit. So konnte man Frauen beeindrucken … und in Verlegenheit bringen. Helena konnte sich kaum konzentrieren. Wie er ihren Namen sagte … prickelnder Champagner auf ihrer Haut. Sein ganzes Auftreten … es machte sie nervös und hippelig. Seine sonore Stimme - melodisch, tief, ruhig, nahezu hypnotisch. Helena verspürte ein leichtes Ziehen und Zerren in der Magengegend. Alles Blut sammelte sich in ihren Wangen. Dieser Mann hatte etwas Magisches an sich. Helena stand plötzlich total neben sich. Wie in Trance folgte sie den beiden Männern ins Antiquariat.

Fassungslos schaute sie sich um.

Von einem Podest führten einige Holzstufen hinab in den Verkaufsraum. Helena konnte sehen, dass hier vor nicht allzu langer Zeit ein Kampf stattgefunden haben musste. Unter der Treppe lag das abgebrochene Geländer. In einer Ecke türmten sich etliche zerschlagene Kunstgegenstände. Viele Bücher, die wahllos in die Regale geworfen wurden, sahen ziemlich mitgenommen aus. Seiten fehlten. Ecken waren umgeknickt. Kostbare Einbände aufgeschlitzt. In der hintersten Ecke des Raumes stand eine Stange mit Fetzen zerrissener Vorhänge, die wohl einstmals als Raumteiler gedient hatten.

„Was … was ist denn hier passiert? Wo ist Herr Jacobi?“ Helena war stehen geblieben und sah Raidon fragend an.

Der bot ihr seinen Arm, um ihr auf der wackligen Treppe behilflich zu sein. „Kommen Sie nach unten. Bei einer Tasse Tee erkläre ich Ihnen alles. … Helena.“ Zu Manuel fügte er hinzu: „ … und sie ist eine Auserwählte? Wie viel hast du ihr gesagt? Oder anders … wie viel weiß sie? Was kann ich ihr sagen, ohne uns zu gefährden?“

Unsicher, ob sie Raidons Angebot annehmen sollte, lugte Helena zu Manuel. Dieser nickte nur und stampfte die Stufen hinunter, dass es nur so knarrte.

Eigentlich war Helena keine ängstliche Natur, aber dies alles hier hinterließ doch ein mulmiges Gefühl bei ihr. Wenn Manuel nicht gewesen wäre …

Sie gab sich einen Ruck und nahm Raidons Hilfe an. Zaghaft legte sie ihre Hand auf seinen Arm, als ein Stromschlag sie beide durchfuhr und knisternde Funken davonstoben.

Ihre Blicke trafen sich. Wieder schoss Helena das Blut in die Wangen. Abrupt drehte sie sich um und eilte die ausgetretenen Holzstufen hinab.

Raidon blickte ihr stoisch hinterher.

Was auch immer hier zwischen ihnen ablief, bei Helena rief das eine Befangenheit hervor, die Raidon schmeichelte.

Um Helena nicht weiter zu verunsichern, ignorierte er ihr verlegenes Schweigen, folgte den beiden hinunter in die kleine Wohnküche hinter dem Laden und widmete sich der Zubereitung des angekündigten Tees.

Helena ließ diesen Raidon und Manuel nicht einen Moment aus den Augen. Sie hatte das Gefühl, dass hier etwas im Gange war; sich die beiden vermutlich ohne Worte verständigen konnten. Als Manuel ihren prüfenden Blick auffing, blickte sie sich demonstrativ im Raum um. Helena musterte die kleine Wohnküche der Privaträume des Antiquariats.

Fast glaubte man, der alte Jacobi käme im nächsten Moment aus der angrenzenden Schlafstatt herüber. Es lag noch der Duft von Seife, Pfeifentabak und Kaffee in der Luft. Über einer alten Feuerstelle, die gleichzeitig zum Kochen als auch zum Heizen gedacht war, hingen eine zerbeulte Wasserkanne aus Aluminium und mehrere Kaffeepötte. Sie mochten schon so alt wie der Besitzer selbst sein.

Hinter einem großen Küchentisch stand ein altes Kanapee mit abgewetztem dunkel geblümten Plüschbezug. Helena steuerte darauf zu und versank tief mit einem überraschten „Huch“ in den Polstern. Spannfedern gab es hier nur noch sporadisch.

Manuel lachte und betrachtete dann die übrigen Sitzmöbel. Von einem dreibeinigen Schemel nicht ganz überzeugt, wählte er ebenso skeptisch dann den einzigen Stuhl, der verdächtige Geräusche von sich gab. Sein Grinsen wurde breiter und er zwinkerte Helena aufmunternd zu.

Die sonst so burschikose Studentin wirkte angespannt. Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht und wieder schoss alles Blut in ihre Wangen, als hätte man sie ertappt. Ihr wurde peinlich bewusst, sie starrte unverhohlen auf das Zusammenspiel der starken Muskeln unter dem schwarzen Shirt von Manuels Freund. Jede Zelle strahlte pure Energie aus. Was war das nur? Anziehungskraft ohne Ende. Hatte Manuel ihren hungrigen Blick gesehen? Sie musste sich dringend ablenken, und so versuchte sie, sich auf das akribische Tun Raidons bei der Bereitung des Tees zu konzentrieren.

Im Gegensatz zu all dem Hab und Gut, der Einrichtung des Raumes und dem Hausrat, wollte das feine Teeservice ebenso wenig in diese Umgebung passen, wie die seltsame Zeremonie, die Raidon zelebrierte. Von 'mal schnell Tee kochen' konnte da keine Rede sein. Helena bekam große Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Oh mein Gott. Zwei Kannen. Mir würde eine genügen, wenn überhaupt.

Raidon spülte die Teeschalen und Kannen mit heißem Wasser aus. In eine der Kannen legte er Teeblätter und übergoss sie mit heißem Wasser. Ein wohltuendes Aroma begann sich im Raum zu verteilen. Er füllte die Kanne ein zweites Mal mit Wasser auf. Die Teeblätter zogen circa eine halbe Minute und der Teesud wurde in einer zweiten Kanne mit kochendem Wasser gemischt. Getrunken wurde er aus Teeschalen.

Erst jetzt nahm Raidon die verdutzten Gesichter seiner Gäste wahr. Er schmunzelte amüsiert vor sich hin und begann sofort die Zeremonie zu erklären. „Den ersten Aufguss nennt man auch 'Aufguss des guten Geruchs'. Den kann man jedoch nicht trinken, da der Sud der Teeblätter noch zu stark und damit zu bitter ist. Diesen hier … nennt man 'Aufguss des guten Geschmacks'. Die Teeblätter in der Kanne da können für mehrere Aufgüsse verwendet werden. Das nennen wir 'Aufgüsse der langen Freundschaft'. Na ja und ich muss gestehen, ich bin dabei keineswegs detailgetreu und ich halte mich auch nicht an eine bestimmte Tradition der Teezeremonie. Wichtig für mich ist, ich versuche stets die Harmonie der inneren Ruhe zu wahren.“ Damit nahm er seine Teeschale und schlürfte das heiße aromatische Getränk. Er reichte Helena und Manuel Kandis, Ingwer und Zitrone zu ihrem Tee.

Nach Minuten des schweigsamen Genießens wollte es Helena wissen. Was war hier vorgefallen? Was war mit Eusepius? Ungeduldig schaute Helena von einem zum anderen. Da keiner der beiden Männer Anstalten machte, sie zu beachten oder auch nur irgendetwas zu sagen, holte sie tief Luft und ließ sie geräuschvoll entweichen. „Also? Wir sitzen beim Tee und …? Erklärt mir jetzt bitte einer von euch, wo Herr Jacobi ist? Oder … was ist hier passiert?“

Raidon fixierte seine Teeschale und blickte dann Helena in ihre blaugrünen, fast türkisfarbenen Augen. Es fiel ihm nicht leicht, dieser entzückenden jungen Frau weh zu tun. Doch so oder so, sie musste es erfahren. „Es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen. Jacobi lebt nicht mehr. Er … ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Vor fast einem halben Jahr.“

Alle Farbe wich aus Helenas Gesicht. Sofort arbeitete es in ihrem Kopf. Vor einem halben Jahr. … Im letzten Brief da schrieb er doch was von Besuchern. Besucher, die sich für Legenden und Mythen interessierten. Vielleicht dass sie … „Seine Besucher? Diese besonderen Menschen, die er zu dieser Zeit kennengelernt hatte? Die, die sich ebenfalls für Forschungen von Legenden und Mythen interessierten? Hatten sie etwas damit zu tun? Er hat sie gefragt, ob sie sich mit mir austauschen wollten und dann … dann haben sie … “

Entsetzt war Helena aufgesprungen. Genau … so musste es sein. Wer sonst hätte diesem liebenswerten alten Mann etwas Böses antun sollen. Warum? Wegen des Wissens, welches er angehäuft hatte? Oh Gott. Wenn sie nun von meiner Existenz erfahren hatten, und dass ich … Gedanken wirbelten in Panik durch Helenas Kopf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgeregt durch die Räume tigerte. Erst als zwei kräftige Arme sie daran hinderten, ihren Weg fortzusetzen, kam sie zitternd zur Ruhe.

„Nein Helena. Diese Menschen waren es nicht. Der Täter, der dafür verantwortlich ist, wurde schon gefasst und sicher verwahrt. … Glauben Sie mir. … Kommen Sie. Setzen Sie sich wieder hin.“ Raidon konnte nach seiner Eröffnung gar nicht so schnell reagieren, wie Helena aufgesprungen war. Er ahnte nicht im Mindesten, wie tief sie diese Nachricht traf. Und sie zog die völlig falschen Schlussfolgerungen. Er drückte Helena wieder sanft in die Sofaecke.

Sie wollte gerade aufbegehren, als Raidon weitersprach.

„Die besonderen Menschen, die Jacobi kennengelernt hatte … ich war einer von ihnen. Wir haben durch den Verbrecher auch zwei unserer besten Freunde verloren. … und ja, wir wussten, dass er ein Legendenjäger war und anderen öfter diverses Material für Ihre Studien zur Verfügung stellte. Was wir allerdings nicht wussten, war, dass er uns miteinander bekannt machen wollte. Es tut mir wirklich sehr leid. Helena. … Aber wie dem auch sei. Ich bin dabei, den Nachlass des alten Mannes zu regeln. Möchten Sie mir nicht vielleicht dabei helfen? Es hätte Jacobi gefreut. Und vielleicht finden Sie dabei noch weitere, für Sie wichtige Akten und Dokumente. Er hätte gewollt, dass Sie sie bekommen.“ Raidon sprach ruhig, fast zärtlich, und betrachtete dabei liebevoll ihre von Tränen verschwommenen Augen. Grünblau wie die Farben des Ozeans. Tief und geheimnisvoll. Ich möchte darin ertrinken und all deine Geheimnisse ergründen. Und ich möchte sie vor Freude und Glück überschäumen sehen …

Noch immer umfasste Raidon sanft Helenas Arme. Beruhigend streichelte er mit den Daumen über ihre Haut. Als sie sich dessen bewusst wurde, entwand sie vorsichtig aber sehr bestimmt ihren Arm aus seinem Griff. Schon wieder verrieten ihre Wangen, wie peinlich ihr diese Situation war. Oh Mannomann. Wenn doch nicht immer diese aufsteigende Hitze und das Blut im Kopf wäre. Seit wann bin ich denn so … so drauf? … und nun, schau mich doch nicht so durchdringend mit deinen schwarzen Samtaugen an. Sie nahm alle Beherrschung, die sie aufbringen konnte, zusammen und meinte relativ gefasst: „Entschuldigt. Ich war total daneben. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich bin traurig, Eusepius nicht mehr kennengelernt zu haben. Wir haben uns Jahre geschrieben und nun … nun bin ich zu spät. Ich wollte Sie und Ihre Freunde in keiner Weise angreifen oder beschuldigen. Das war einfach nur dumm und unbedacht von mir. Gern würde ich helfen, den Nachlass von Jacobi zu ordnen. … und das nicht nur, weil mir Hinweise jeglicher Art auf Legenden und Mythen der Salwidizer am Herzen liegen, sondern weil er ein außerordentlicher Mensch gewesen ist. Alle Bücher sind eine wahre Fundgrube alten und auch neuen Wissens. Sie hat einen würdigen Nachfolger verdient, der dieses Kleinod zu schätzen weiß.“

Die Aussicht, dabei helfen zu dürfen, diese kostbaren Werken zu retten, tröstete Helena ein wenig über den Verlust eines guten Freundes hinweg. Allein bei dem Gedanken, dieses Sammelsurium von alten Büchern, Dokumenten und Unterlagen einsehen zu dürfen, durchflutete sie der Drang des Forschens und Entdeckens wie Feuer und Flamme. Es sollte nicht so sein, aber es war wie ein Zwang und Helena konnte daran nichts ändern. Verlegen grinste sie Manuel an.

Der saß bislang unbeteiligt auf seinem Stuhl, nippte an seinem Tee und lutschte einen Kandis. Stillschweigend und mit einer unergründlichen Miene beobachtete er das Gespräch zwischen Raidon und Helena.

Dabei blieben ihm keineswegs die Reaktionen der beiden aufeinander verborgen. Helena, die vor Scham einmal mehr in einem Mauseloch verschwinden wollte und Raidon, der Helena nicht einen Atemzug aus den Augen ließ. Insgeheim freute sich Manuel und klatschte in die Hände, es schien sich doch in der Tat etwas zwischen seinen besten Freunden anzubahnen.

„Fein. Dann bleiben wir also hier. Oben sind doch bestimmt noch freie Zimmer für uns? Jetzt, wo du doch das ganze Haus nur für dich hast.“ Kaum dass die Worte gesprochen waren, wurde ihm bewusst … Es war ein Fehler.

Da war es auch schon.

Helena schaute Manuel misstrauisch an. Woher wusste Manuel, dass es im Haus freie Zimmer gab? Was lief ab, was sie nicht wusste? Dann fielen ihr auch schon wieder die besagten Informationen, für die sich Raidon bei ihrer Ankunft bedankt hatte, ein. Wann bestand je die Möglichkeit, dass sich beide Männer austauschen konnten? Manuel hatte doch erst am Morgen erfahren, wohin sie fahren wollten. Es sei denn … Nein auf keinen Fall. Oder doch? Ist das überhaupt möglich? Können sie sich telepathisch unterhalten? Gedanken lesen?

Helena hatte schon einmal das Empfinden, Manuel könnte diese Gaben besitzen. Damals, als sie ihn kennengelernt und diese Kette bekommen hatte, dachte sie auch schon, dass …

Ruckartig sah Helena zu Raidon, dann zu Manuel. Folgen sie gerade meinen Überlegungen? Aber in ihren Gesichtern ist nurMoment mal. Was grinsen die plötzlich so? Auf die Erklärungen bin ich gespannt. Schulterzucken? Mannomann.

„So … und jetzt raus mit der Sprache! Ich muss euch nicht erst fragen, denn ihr wuselt beide in meinem Kopf herum. Ich höre! Keine Ausreden mehr!“ Die Falte auf Helenas Nasenwurzel nahm eine bedrohliche Tiefe an. Die Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Wenn sie gekonnt hätte, wären Blitze daraus hervorgeschossen. Ihre Lippen waren zu kaum mehr als zwei Strichen aufeinander gepresst. Wütend begann sie mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln und wartete.

Die Männer grinsten sich verschwörerisch an, was Helena noch mehr auf die Palme brachte. „Ich bin ganz Ohr! Also bitte!“, schnaufte sie.

Was blieb Raidon und Manuel übrig, als die junge Frau in Kenntnis zu setzen. Raidon befand, dies sei Manuels Aufgabe. Er kannte Helena viel länger. Sie war ohnehin seine Mission und letztendlich war es Manuels Fehler. Schließlich hatte er sich verplappert.

„Lena …“ Noch wusste Manuel nicht so recht, wie er seine Erklärung beginnen sollte. Einfach so mit der Tür ins Haus fallen? Oder vielleicht doch lieber in Watte gepackt? „Lena. Ich weiß ja nicht, was du jetzt von uns erwartest. … Kein Mensch wuselt in deinem Kopf herum. Deine Emotionen sind dir ins Gesicht geschrieben. So ist es natürlich nicht schwer, deine Gedanken zu erkennen. Wir sollten das können, denn wir haben jahrelang psychologische Studien betrieben und eine ungeheure Menschenkenntnis erlangt. Also … was erwartest du jetzt von uns, zu hören?" Dabei schaute er sie mit solch einem Unschuldsgesicht an, als könne er kein Wässerchen trüben. Wie auch. Er hatte aus seiner Sicht nicht gelogen.

Doch wider Erwarten saß Helena ganz ruhig in ihrer Ecke und verzog nicht eine Miene. Seltsamerweise konnte Manuel auch keinerlei Gedanken mehr von ihr auffangen. Erstaunt blickte er zu Raidon. Auch er musste feststellen, Helena besaß allem Anschein nach eine natürliche Begabung, eine geistige Mauer aufzubauen. Zur Zeit schien sich diese Fähigkeit jedoch nur auf bestimmte emotionale Gemütszustände zu beschränken. Sie war wütend, aber in der Lage, dies vor anderen zu verbergen. Aber die Gabe war eindeutig vorhanden und wider Erwarten sehr stark.

„Ach ja? Das war's? Ihr lest also nicht meine Gedanken? Ihr verständigt euch nicht untereinander … telepathisch? Von welchen Informationen war vorhin die Rede? Komm schon! Sag's mir! Sag mir, dass ich mir alles nur einbilde.“ Ohne einen Funken ihrer Gefühle preiszugeben, forderte sie Manuel zum Weitererzählen auf.

Raidon, der Manuels hilfesuchenden Blick sah, ergriff stattdessen das Wort. „Nun, da wir zusammenarbeiten wollen, ist es vielleicht angebracht, wenn wir uns duzen? Du deutest unser Verhalten total falsch. Ohne dir zu nahe treten oder dich verletzen zu wollen … Ich denke, du fühlst dich in Gegenwart Fremder nicht so ganz wohl und interpretierst viel zu viel in Gesten und Mimik anderer hinein. Kann das sein? Ich würde dir gern etwas erklären. Okay? Manuel und ich … wir kennen uns schon seit frühester Kindheit und waren immer in Kontakt. Auch als ich mit einigen Freunden vor einem halben Jahr hierher kam, um verschiedene Nachforschungen anzustellen, bei denen uns Jacobi behilflich sein wollte, tauschten wir regelmäßig Informationen aus. … und wenn ich ehrlich sein soll, ich wusste auch von dir und deiner 'Besessenheit' in Sachen Legenden und Mythen. Entschuldige."

Raidon schaute bei seinen letzten Worten Helena reumütig an und ein kleines Lächeln umspielte seine …

sinnlichen Lippen. Oh mein Gott. Habe ich das wirklich soeben gedacht? Ich starre auf seinen Mund und stelle mir vor … Nein! Nein! Nein! Auf gar keinen Fall. Helena blinzelte und überlegte, während Raidon weitersprach, was er gerade erzählt hatte.

" … Geschehnissen von vor einem halben Jahr. Jacobi war ein bemerkenswerter Mensch. Schon sehr alt und ein wenig schrullig, aber liebenswert auf seine Art. Wir sind alle miteinander gute Freunde geworden … bis er eines Tages spurlos verschwand. Wir sind der Sache dann auf den Grund gegangen und stießen auf Voland. Dieser Mann hatte Jacobi viele Jahre beobachtet. Er wusste, dass Jacobi nicht nur Antiquitätenhändler, sondern auch ein Legendenjäger war. Sie hatten ihre Läden in unmittelbarer Nachbarschaft. Der Gothic-Shop auf der anderen Straßenseite … Das war Volands Geschäft. Ihm war zu Ohren gekommen, dass Eusepius das Buch einer Legende besaß, welches er unbedingt in seinen Besitz bringen musste. Es geht in der Legende um eine Prinzessin. Die Saphir-Prinzessin. Keiner hat je von ihr gehört, noch wissen wir, was es damit auf sich hat. Und Voland schweigt dazu. Dieses Buch war der Auslöser zu Mord und Totschlag und nicht zuletzt zu dieser Zerstörungswut. Das Seltsame an der ganzen Sache ist … Eusepius hatte dieses Buch. Aber es verschwand.“

Während Raidons Erzählung wurde Helena hellhörig. Konnte das sein? Sollte sie so schnell ans Ziel gelangen? Ein Buch über die Saphir-Prinzessin. Helena vergaß sogar ihren Frust, ihre Wut auf die beiden Männer. Was Raidon da berichtete … Es war, als knipste jemand ein Licht an. Helena konnte das begeisterte Leuchten in ihren Augen nicht verbergen. Das Buch einer Legende … Die Saphir-Prinzessin. Das muss das Buch sein, über das ich noch gestern gelesen habe. Das Buch mit dem Konterfei dieser atemberaubenden Schönheit mit dem langen schwarzen Haar und den auffallend blauen Augen. Sollte ich hier tatsächlich fündig werden?

Amaranth - eine Legende

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